Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 10. 9. 1859

Brief Nr. 44

Glückauf, liebster Schatz, aus dem schönen Sizilien, wo ich heut mittag wohlbehalten angekommen bin. Geht alles so fort, wie es am ersten Tage begonnen, so kann ich sehr zufrieden sein, denn Himmel und Erde, Tiere und Menschen, Berge und Stadt haben gewetteifert, mir einen möglichst freundlichen Empfang zu bereiten. Die allernetteste Empfangsüberraschung war aber Dein lieber Brief, mein bestes Herz, welcher zufällig durch einen außerordentlichen Expreßdampfer schon heut früh hier angekommen, mithin von Köln, wo er am 4ten aufgegeben, nur sechs Tage gegangen ist . . .

11. 9. 1859.

Gestern abend war ich so müd, daß ich beim Schreiben einschlief, ich fahre nun nach der ersten guten Nacht in Messina, wo ich vortrefflich geschlafen und von dem lieben Schatz geträumt, heut am Sonntag morgen fort.

Ich verließ mit Allmers Neapel vorgestern mittag (am 9. 9.), wo wir uns auf dem großen Dampfer "Etna" (Calabro-Siculo), dessen Name also schon ein gutes Omen war, um 1 Uhr einschifften. Dcoh wurde so viel Ladung an Bord genommen, daß wir erst nach 5 Uhr den Hafen verließen. Nie habe ich noch einen Ort, wo ich so lange gelebt, so gleichgültig, ja mit Vergnügen verlassen wie Neapel. Allerdings waren ringsum so viele liebe Orte, wo mir Mutter Natur durch ihrer reichsten Erfindung Pracht so viele genußreiche Stunden bereitet, und nach den verschiedenen Hauptpunkten der herrlichen Küste, nach den glücklichen Kampanischen Inseln vor allem, warf ich manchen sehnsüchtigen Blick hin, zugleich in der Hoffnung, sie einmal später meinem lieben Frauchen zu zeigen. Aber von der Stadt Neapel selbst und von ihren abscheulichen Bewohnern schied ich so froh und gern wie ein Gefangener aus dem verhaßten Kerker. Ich mag das gute Papier nicht anfüllen mit Aufzählung der zahllosen, in Deutschland zum Teil ganz unglaublichen Scheußlichkeiten, die unter der depravierten Bevölkerung Neapels, unter jung und alt, vornehm und gering, allgemein verbreitet sind und die sich ganz offen zur Schau tragen. Ich kann Euch das später mündlich mitteilen, obwohl Ihr einen solchen Grad von Verdorbenheit kaum für möglich halten werdet. Wir haben noch in den letzten Tagen unserer Anwesenheit mehrere Beispiele der elenden Schurkerei erlebt, die selbst uns, nachdem wir doch fünf Monate daran gewöhnt worden waren, überraschten. Fort von diesen abscheulichen Menschen, auf Nimmerwiedersehen! Sollte ich je wieder nach N. kommen, so gehe ich am Tage der Ankunft, nach so kurzen Aufenthalt als möglich, nach Ischia oder Capri.

Wie traurig, daß ein solches Volk in dieser überaus prächtigen und reichen Natur lebt. Denn diese ist hier wirklich so wundervoll und unerschöpflich reich an den größten Schönheiten, daß man wohl auf keinen Erdenfleckchen so viel wieder beisammen findet: diese wundervollen Berglinien, die reiche Küstenformation, die zauberischen Inseln, die höchst interessanten vulkanischen Erscheinungen, der ewig heitere Himmel mit den schönsten Farben, die reiche südliche Vegetation und die kolossale prächtige Stadt mit ihren Kastellen und ihren Ausläufern, die sie rankend nach allen Seiten ausschickt und in den Schluchten die Berge hinaufkriechen läßt. Bei unserer Abfahrt sehen wir alle diese Herrlichkeit noch einmal bei uns im herrlichsten Panorama vorüberziehen, und die Natur hatte zu unserer Ehre noch dazu ein besonderes Feierkleid angelegt, eine so prachtvolle Abendbeleuchtung, wie ich sie noch nicht gesehen; vor allem glühte der Vesuv in den allerköstlichsten Farbentönen. Rings im weiten Halbkreis zog sich an dem reizenden Golfgrund die weiße Häuserreihe hin, welche von der Spitze des Posilip beginnend, am ganzen langen Vorgebirg entlang, über Mergellina, Piedigrotta, an der Villa reale, Riviera Chiaja entlang, durch die eigentliche ungeheure Stadt hindurch, dann am Fuß des Vesuvs über Paludi, Portici, Torre del Greco bis Torre Annunziata meilenweit sich hinzieht und an die sich weiterhin Castellammare, Vico, Mela, Sorrent, Massa und die übrigen, fast ununterbrochen zusammenhängenden Ortschaften der Penisola sich anschließen. Überall darüber die reizendsten Berglinien, links im Norgen aufragend Ischia und Procida, daran unmittelbar sich anschließend die Küste von Eumä, Kap Misen, Bajä, Monte nuovo und Barbaro (Gauro), Camaldoli, Darunter S. Elmo, weiterhin rechts die langen Ketten der Kampanischen Gebirge und der hohen Apenninen, vor allem dann, alles überragend, der prachtvolle Vesuv, der heute in einem Wechsel und Gemisch von Gelb, Rot, Violett, Blau, Grau, Grün schimmerte und strahlte, wie ich es noch nie gesehen, und auf dessen Gipfel die Rauchwolke die berühmte schöne Piniengestalt bildete. Rechts davon die lange, zackige Kette der Sorrentiner Gebirge, darunter die höchste Spitze, Monte Angelo, bis zum weit vorspringenden Kap Campanella; endlich der zauberische Mittelpunkt und Schlüssel von allem, das wundervolle, geheimnisvolle, sphinxgleiche Capri, das mitten im Eingang des weiten, prächtigen Golfes mit seinen herrlichen Formen wie ein köstliches Denkmal oder ein versteinertes Seewunder hingelagert ist. Die Sonne hatte schon ihre letzten, roten Goldstrahlen gespendet und färbte nur noch den Westhimmel in wunderbar purpurnen Tönen, und am Osthimmel war schon der liebe, silberne Vollmond heraufgezogen, als wir an unserer lieblichen und großartigen homerischen Zauberinsel vorüberführen, der wir noch einmal herzlichsten Abschiedsgruß und tausend Dank für die köstlichen dort verlebten Wochen, für meinen schönsten Künstlertraum, zuriefen. Durch die Meerenge zwischen Campanella und Capri durchgefahren, shen wir dieses noch von der Südwestseite, von wo es uns durch eine neue, reizende Form überraschte. Das war der letzte Abschiedsgruß, und nun versank rasch hinter uns die neapolitanische Küste im nächtlichen Dunkel, und der reine Vollmond leuchtete uns hoffnungsreich nach Sizilien vorwärts.

Die Nacht war überaus schön, und ich blieb den größten Teil derselben mit Allmers auf dem Verdeck, all die reichen Erlebnisse der letzten Monate noch einmal durchplaudernd und der lieben fernen Heimat in Wort und Lied sehnsüchtig gedenkend. Der Himmel war vollkommen klar, der Spiegel des Vollmonds im Meere prachtvoll, das Meer selbst ganz still und klar und nur die niederen Wellenkämme im Seeleuchten schimmernd. Als ich endlich spät zum Schlaf mich niedergelegt, umspielten mich süße Träume von meiner lieben Anni, mit der ich im Schlaf so viel plauderte und scherzte, daß ich am Morgen beim Aufwachen gar nicht mich besann, daß ich auf dem Schiff war und erst mir die Augen reiben mußte, um mich zu überzeugen, daß ich noch nicht in der lieben Heimat sei. Es war noch dunkel, etwa 4 1/2 Uhr, als wir uns den Liparischen Inseln näherten, so daß ich das interessante Schauspiel, den kleinen Stromboli-Vulkan Feuer speien zu sehen, noch recht schön und nahe beobachten konnte. Alle 5-10 Minuten spuckte der kleine muntere Kerl einen Mund voll vulkanischen Feuers aus, unmittelbar unter dem Gipfel aus einer kleinen Seitenöffnung vordringend. Ein heller Lichtschein erleuchtete mehrere Sekunden lang den ganzen Gipfel, und dann versank wieder alles in mächtiges Dunkel. Doch behielten wir die Äolischen Inseln so lange im Gesicht, daß es noch vollkommen Tag wurde, ehe wir vorüber waren, und daß wir die Form aller der kleinen Eilande recht gut übersehen konnten, besonders aber die äußerst scharfe und einfache, charakteristische Kegelform des nächsten, des Stromboli, der mit seiner permanenten Rauchwolke auf dem spitzen Haupte vollkommen wie ein großes Räucherkerzchen aussah.

Beinahe hätte übrigens auch der Ätna Feuer zu speien angefangen, nicht der wirkliche, sondern nur sein Namensbruder, auf dem wir fuhren. Es waren nämlich aus dem Schornstein glühende Kohlen auf das über das Hinterdeck gespannte Zelt gefallen und hatten dieses in Brand besteckt. Der Ruf: "Fuoco sul vapore, fuoco!" setzte alles in große Bestürzung, und auf dem Hinterdeck ballte sich ein dichter Menschenknäuel zusammen. Ich saß wie gewöhnlich auf der äußersten und höchsten Spitze des Vorderdecks, auf dem Bugspriet reitend, wo man immer den schönsten freiesten Blick vorwärts hat und die am Vorderkiel durchschnittenen Wogen unmittelbar unter sich aufschäumen sieht. Als ich den Feuerruf hörte, maß ich mit den Augen die Entfernungen vom Schiff nach der kalabrischen Küste und nach der Stromboli-Insel und entschloß mich, lieber nach letzterer hinzuschwimmen (was übrigens doch wohl die Arbeit eines Tages gewesen sein würde!). Doch war dieser Entschluß glücklicherweise nicht nötig, da das Feuer sehr rasch gelöscht wurde, noch ehe ich mich durch den Menschenhaufen nach dem Hinterdeck hatte durcharbeiten können.

Als wir uns nun mehr Sizilien näherten, nahm der Strombolikegel eine zweispitzige Gipfelform an, indem er zugleich breiter wurde und seine Gestalt etwas der des Vesuvs näherte. Zur Linken kamen uns nun die Apenninen von Kalabrien sehr nahe heran; zur Rechten aber von uns tauchte glänzend die schimmernde Nordostspitze Siziliens aus dem blauen Meeresspiegel auf, das breitstirnige Capo Peloro, das wir jubelnd und hoffnungsvoll begrüßten. Von der Meerenge von Messina war noch nichts zu sehen, da dieser Kanal schräg zwischen Insel und Festland durchgeht und also vorn und hinten durch die kulissenartig vorspringenden Landzungen gedeckt wird. Je mehr wir uns nun der klassischen Trinacria-Insel näherten, desto schöner und klarer erhoben sich die übereinander aufsteigenden Berglinien, die wir an der Nordküste gegen Westen weithin über Merlazzo und Kap Orlando hinaus verfolgen konnten. Auch links traten die kalabrischen Gebirge immer näher und enger zusammen. Das Schönste war aber die Einfahrt in die berühmte Meerenge selbst, wo uns rechts der Faro di Messina, links, auf dem kalabrischen Ufer, die Scilla prächtig in der Sonne glänzend begrüßten, deren südliche Glut durch einen starken, frischen Westwind angenehm gekühlt wurde. Herrlich öffnete sich nun das "Paradiso", die weite, halbrunde Küstenstrecke zwischen dem Faro und Messina, dessen schimmernde Häuserreihen im Grunde des herrlichen Hafenrunds an die blaugrünen, duftigen, zackigen Bergmauern sich anlehnten, über dem mehrere andere Gebirgsketten stufengleich sich erheben. Doch fuhren wir zunächst noch nicht in den lockenden Hafen hinein, sondern zunächst an der kalabrischen Küste hin bis Reggio, wo vorher die bedeutende, dorthin gehende Ladung gelöscht und die vielen kalabrischen Passagiere abgesetzt werden mußten. Das dauerte dann so lange, daß wir erst nach 1 1/2 Stunde wieder abfuhren und um 2 Uhr in Messinas Hafen einfuhren.

Die kalabrische Küste jenseits ist auch sehr schön, abwechselnd mit schönen, frischgrünen Orangengärten, Schilfpflanzungen und freundlichen Dörfern geschmückt, über denen Berge von sehr verschiedener Form und Farbe aufsteigen, die einen von weißgelbem Sand, fast ganz nackt, andere dicht bewaldet, noch andere in rotem Granitfels und hellgrünem Waldschmuck zierlich gemalt. Reggio selbst macht keinen besonders schönen Eindruck, und die spitzen, deutschen Dächer, die auch hier viel sind, nehmen ihm den recht italischen Charakter. Von hier sahen wir zum erstenmal den Fuß des Ätna, dessen Haupt in Wolken verhüllt war. Weit hingestreckt lag er im blauen Süd.

Die Natur erschien übrigens bei unserer Ankunft in Messina im schönsten Schmuck und Sonnenglanz und bereitete uns so einen sehr freundlichen Empfang, zu dem auch die Menschen das ihrige beizutragen suchten. Die Sizilianer machen einen ungleich angenehmeren Eindruck als die abscheulichen Neapolitaner, von denen sie selbst auch nichts wissen wollen. Am Bord schon empfing uns ein Deutscher, der Wirt unseres Hotels, Herr Müller. Wir fuhren mit ihm ans Land, wo wir von den gewöhnlichen Douane-Plackereien sehr verschont blieben und rasch und glücklich in unser Hotel gelangten, das gleichfalls einen sehr freundlichen Eindruck macht und unmittelbar am Hafen liegt. Die Bedienung ist durchweg deutsch, und die Leute scheinen sehr freundlich und nett zu sein. Auch die Bestien waren zu meinem Empfang bereit, da ich schon vom Dampfschiff aus ein paar herrliche Quallenschwärme herumschwimmen sah, was ich mir (nach römischen Auspizien und Grundsätzen!) als günstiges Omen deutete, wie auch, daß schon vor der Einfahrt in den Kanal ein Möwenschwarm uns umkreiste und lange vorher, Stromboli gegenüber, ein einsamer verirrter Schmetterling von Sizilien her auf unser Schiff flatterte und sich auf meiner großen Botanisiertrommel niederließ; gewiß lauter höchst bedeutungsvolle günstige Zeichen. Weniger angenehm war der Empfang im Wasser selbst, obwohl sehr erfreulich. Als ich nämlich gleich nach der Ankunft mich im Hafen badete, wurde ich von ein paar großen Schwimmpolypen, seltenen Tieren, die ich noch nie gesehen, nächstdem aber von einer ganzen Herde großer Quallen empfangen, welche mich mit ihren Nesselorganen so stark brannten, daß ich den ganzen Tag Schmerzen hatte und die Haut stark entzündet war. Gut, daß sie den Krieg angefangen haben; ich werde nun um so schonungsloser im Winter unter ihrem Schwarm wüten! Die Bestien sollen nur kommen!

Im Viktoriahotel selbst wohnt ein junger Arzt als Altona, Edmund von Bartels, jetzt seit zwei Jahren hier ansässig, der mir ganz gut gefallen hat und mit dem wohl viel zusammen sein werde. Ganz vortreffliche und höchst liebenswürdige junge Leute sind aber die jungen Klostermanns, bei denen ich gestern abend gleich nach dem Essen war und ein paar Stunden mit ihnen plauderte. Er ist der zwei Sohn der Frau Dr. Klostermann in Bochum, die mit Mutter und mir Herbst 1853 in Rheme zusammen war, mit der Beckenschen Familie sehr befreundet. Er ist Kaufmann und arbeitet bei dem preußischen Konsul W. Jäger, an den ich auch eine Empfehlung habe. Die junge Frau Klostermann ist hier geboren, aber aus einer Schweizer Familie und nach Gesinnung und Wesen ganz deutsch. Sie hatten schon gar nicht mehr geglaubt, daß ich herkommen würde, da der mich anmeldende Brief schon vor einem Jahr angekommen ist. Sie haben zwei sehr niedliche, kleine Mädchen mit großen blauen Augen und blonden Haaren, die ganz deutsch aussehen. Herr Klostermann war sehr zuvorkommend und freundlich; ich werde wohl manchen Abend in dieser lieben Familie zubringen. So war also der Empfang und der erste Tag in Sizilien ganz deutsch - ich fühlte mich gleich halb heimisch, was in Neapel nicht einmal noch halbjähriger Anwesenheit der Fall war. Überhaupt war mir zumut, als sei die Reise schon fast vorüber und sollte ich schon bald zur Liebsten in die teure Heimat zurückkehren, und doch steht mir die andere, wenn auch kleinere, doch wichtigere Hälfte des Italienjahres noch erst bevor. Aber ich habe hier endlich einen festen Ruhepunkt gefunden, von dem aus ich stetig und konsequent werde arbeiten können, was nach dem langen, unsteten Umherwandern, Aus- und Einpacken, Kommen und Gehen sehr wohl tut, und ich werde hier mit frischer Kraft und neuem Mut an die Arbeit gehen, was ich in Neapel nicht konnte . . .

Tausend Grüße und Küsse zum 14. 9. Sei recht glücklich.

Dein treuer Erni.


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Diese Seite wurde erstellt am 3. August 1999