Berg- und Seefahrten (1923)

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und ich freue mich, in den nächsten Tagen an Bord des Schiffes, im Gegensatz zu diesem tollen Treiben, volle Ruhe und Muße genießen zu können.

London hinterläßt mir einen höchst großartigen Eindruck. Alle Verhältnisse sind ungleich imposanter und in großartigerem Maßstabe angelegt als auf dem Kontinent. Doch ist das Leben keineswegs so angenehm als etwa in Paris oder in einer der größten deutschen Städte. Es fehlt die behagliche Ruhe zu vollständig, um irgendeinen Punkt Londons wirklich genießen zu können. So ist namentlich für eigentlichen Kunstgenuß hier gar keine passende Stätte, zumal die Sonne nur selten hell genug scheint, um Gemälde oder Statuen in der nötigen Beleuchtung zu sehen. Der dichte düstere Nebel, der beständig auf der Weltstadt lagert, läßt nur selten einen Sonnenblick durch. Auf dem Schiff und in der Quarantäne werde ich Euch ausführlich von London schreiben. Für heute nur noch einen herzlichen Abschiedsgruß von hier.


Freitag, den 2. November 1866.

An Bord der Maria Pia, Mittag 2 Uhr.

Wir liegen seit einer Stunde hier still vor Gravesend (am Ausfluß der Themse) und waren auf Abfertigung der Schiffspapiere. Ich benutze diese Zeit, um Euch noch einen Gruß aus diesem letzten Stückchen englischer Luft zukommen zu lassen. Die Schattenseiten Londons, welche sich in den letzten Tagen noch recht fühlbar machten, haben mir heute früh den Abschied von London sehr erleichtert. Ich bin froh, wieder einmal die See zu sehen und reine Luft zu atmen, was mir seit 14 Tagen nicht passiert ist. Die Atmosphäre Londons ist in der Tat entsetzlich, und die abschreckenden Schilderungen, welche ich davon gelesen hatte, sind nicht übertrieben. Selbst wenn rings um die Themsestadt und wohl auch in den Vorstädten die helle Sonne scheint, bleibt über der eigentlichen City ein dichter, düsterer Nebelschleier liegen, welcher keinen Sonnenstrahl in die engen und dunklen Straßen und Gassen hineinfallen läßt. Dieser Nebel ist ein sonderbares Gemisch von Wasserdämpfen, ungeheuren Rauchmassen und den zahllosen verschiedenartigen Evaporationen, welche die Schornsteine der Fabriken und Dampfmaschinen, die Burgen der drei Millionen Menschen und der mit ihnen zusammenwohnenden Tiere usw. aushauchen. Dem kontinentalen Nichtengländer, und besonders einem durch die reine Thüringer Bergluft verwöhnten Deutschen fällt das Atmen in diesen undurchdringlichen Dunst- und Rauchmassen äußerst schwer. An den schlimmsten Tagen fand selbst meine gesunde Lunge den schweren Druck unerträglich, und ich mußte mir, gleich allen Ankömmlingen in London, die Akklimatisation durch einen tüchtigen Katarrh erkaufen.

Am schlimmsten war der Nebel am letzten Samstag, wo bei hellem lichten Tage die Gaslaternen angezündet werden mußten, und wo man


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von Herrn Dr. Kurt Stüber zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Juni, 2003. Eingabe des Textes durch Kurt Stüber, Oktober, 2003.
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