"Ernst und Agnes Haeckel - Ein Briefwechsel"

46. Brief

Berlin, 9. April. 1870.




Meine liebe kleine Frau! Holdes, reizendes Röschen! Süße, gestrenge Tyrannin! Eigentlich wollte ich Dir gestern bereits meine glücklich erfolgte Ankunft in dem "gemütlichen Berlin" und das ebenso glücklich überstandene Begräbnis der guten Tante Gertrude melden, konnte aber vor lauter Verwandtschafts-Fülle keine Minute zum Schreiben finden. Daher verzeihe, strenge Herrin und Gebieterin, daß ich erst heute Dir diesen Schreibebrief sende. Die Reise hierher war so interessant wie gewöhnlich, d. h. es passierte nichts! Ich konnte aber doch im Wagen ordentlich lesen. Hier fand ich bereits zahlreiche Trauer- Verwandtschaft vor, die auch gestern morgen in großer Fülle bei der Leichenfeier erschien. Prediger Richter hielt in T. G.īs Wohnung eine recht gute, kurze Rede. Rührend zu sehen war die feierliche Versammlung mit all den langen Gesichtern. Von Herzen trauerten nur sehr wenige. Eigentlich gab es auch wenig zu trauern. Denn wenn eine alte Jungfer im 73. Jahre rasch und schmerzlos stirbt, so ist das doch für sie nur ein Glück. Mehrere von den guten Verwandten glaubten offenbar trotzdem ein gewisses Quantum von Krokodilstränen vergießen zu müssen. Einige spielten wirklich recht gut und hatten sich offenbar sorgfältig auf das Schluchzen und Hinsinken eingeübt. Im übrigen war das Wetter schön und die Fahrt nach dem Kirchhof mit einer Reihe von 40-50 Wagen recht imponierend. Mittags hatten wir alle noch der Strapaze sehr guten Appetit.

Nachmittag besuchte ich die Familie Reimer, alt und jung, und vergalt also nicht Böses mit Bösem! Ich bin doch ein guter Christ und nicht so hartherzig wie meine kleine Frau! . . . Heute vormittag bin ich in der Stadt herumgelaufen, erst beim Schneider, um mich den Wünschen meiner Gebieterin entsprechend ausstatten zu lassen und körperlich "elegant empfangen zu können", dann beim Kupferstecher, wo ich meine Tafeln zum Teil recht hübsch ausgeführt fand. Als ich nach Hause kam, fand ich Deine Korrektur-Pakete vor, mein kleines Schätzchen. Vielen Dank, daß Du die Adresse richtig geschrieben hast!

Meine Eltern fand ich ganz leidlich vor. Der liebe Papa hat sich merkwürdig rasch erholt nach der letzten schweren Erkrankung, die doch sehr bedenklich war, geht wieder aus und ist so frisch wie zu Weihnachten. Meine arme Mutter ist von der Pflege etwas angegriffen, sonst aber leidlich gesund und für ihre 71 Jahre recht kräftig . . . Nun, meine kleine süße Prinzessin, küsse und herze ich in Gedanken Dich und unsern kleinen allerliebsten Ableger! Ach Gott, das Kiiiiind!! Nimm es nur recht in acht und schreibe am Sonntag oder Montag gleich Deinem treuen Ernestinchen! . . .





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erstellt von Christoph Sommer am 6.10.1999