Dr. E. Bolleter:
Bilder und Studien
von einer Reise nach den Kanarischen Inseln (1910)

Kapitel 2: Besteigung des Piks von Tenerife

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"Thalatta, thalatta, das Meer, das Meer!" So ging´s von Mund zu Mund, als die Soldaten Xenophons vom Berge Techos herab das Meer erblickten. Mühselig, beschwerlich, gefährlich und lange war der Marsch gewesen, der sie nach der Niederlage von Kunaxa aus dem Innern Asiens herausführen sollte.

"Der Pik, der Pik!" Das war der Ausruf, mit dem wir vom Dampfer aus am 29. März 1908 nachmittags 2 Uhr den berühmten Berg begrüßten. Zwölf Tage waren wir auf dem Wasser unsanft umhergeschaukelt worden; jetzt sahen wir plötzlich den schneebedeckten Gipfel des Piks fein und duftig aus grauweißen Wolkenschichten herausragen. Alles sammelte sich an der Steuerbordseite des Schiffes, um mit eigenen Augen den längst ersehnten Berg zu sehen, dessen Besteigung uns von Anfang an uns als Höhepunkt der ganzen Reise vorgeschwebt hatte. Die Schmerzen, mit denen man dem Gotte Neptun gehuldigt, die Qualen, welche die spanische Küste manchen bereitet, die Tücken des Ozeans, die wir vor Casablanca kennen gelernt hatten, alles Unliebsame hatten wir vergessen. Das war es also! Schon in der Schule hatten wir den Namen dieser Pyramide im Ozean mit Ehrfurcht ausgesprochen und die Weite eines Seekreises berechnet, später lernten wir ihn als klassisches Beispiel eines Vulkans und eines Berges kennen, der in der schönsten Weise alle Vegetationszonen besitzt, die mit der Erhebung des Bodens über das Meer entstehen, oder wir lasen begeisterte Schilderungen von Pikbesteigern wie Alex. v. Humboldt, Haeckel u.a. Und nun stieg er vor unsern Augen aus dem Atlantischen Ozean empor, sein Haupt hoch über den Wolken in blauem Äther badend!

Der Pik war unser Ziel. Wir hielten uns nur zwei Stunden in Santa Cruz, der Hauptstadt der Insel, auf. Wohl verbrachten wir in Laguna, einem 580 m hoch gelegenem Kurort am Übergang auf die Nordseite der Insel, die Nacht; aber schon am folgenden Morgen brachen wir auf, um unser Standquartier, Puerto de Orotava, noch am gleichen Tage erreichen zu können. Die größeren und kleineren Ausflge der nächsten Tage sollten uns mit der Pflanzenwelt und der Geologie der basalen Pikregion bekannt machen; am 6. April schickten wir uns an, den Berg selbst zu besteigen.

Es war ein malerisches Bild, das sich morgens 8 Uhr vor dem Haupeingang des Humboldtkurhauses den Gästen bot. 13 Maultiertreiber haben 26 Tiere herbeigeschafft; 16 sind für die reitenden Teilnehmer der Expedition bestimmt, die anderen werden mit Proviantkörben, Wasserfäßchen, Decken, Rucksäcken und Mänteln beladen und bilden einen stattlichen Troß. Ein lebhaftes Hin und Her der geschäftigen Arrieros (Maultiertreiber), dienstbeflissener Hotelangestellter und der die letzten Vorbereitungen treffenden Exkursionisten! Endlich ist alles bereit; die einen besteigen ihre Mulos, während die andern die größere oder geringere Leichtigkeit, mit der dies geschieht, zur Zielscheibe ihrer Bemerkungen machen. (Der dicke, kurze Geologe dort ist so von seinem Tier in Anspruch genommen, daß er nicht sieht, mit welchem Lächeln die übrigen seine Bewegungen begleiten). Noch ein letzter überprüfender Blick Josés de Bethencourt, des aus vielen Reisebeschreibungen bekannten Pikführers, dann setzt sich die Karawane in Bewegung, voraus der unermütlich Leiter (jefe) der Expedition, Dr. Rikli, in seinem grünen Reisemantel; auf seinem Pickel ist die Schweizer Fahne gehißt, die im frischen Morgenwinde lustig flackert. Ihm folgen die mit mehr oder weniger Sicherheit und Grazie reitenden Reisenden, deren Maultier ihnen selbst überlassen ist oder von einem braunen Arriero gezogen wird; hinter ihnen schreiten rüstig fürbaß die zehn Fußgänger, mit genagelten Bergschuhen und langen Stöcken oder Pickeln, grünen Pflanzenbüchsen oder leichtem Schmetterlingsnetz, schwerem Steinhammer und der unfehlbaren Kamera ausgerüstet; zuletzt wanken gesenkten Hauptes die schwerbeladenen Lasttiere einher. Bald haben wir die große Landstraße gewonnen, welche hinter dem 1430 aufgeworfenen Orgelberg, einem 80 m hohen Schlackenkegel, vorüberführt. Im Schatten der mächtigen Eukalypten, der gewaltigsten Alleebäume auf Tenerife, wandert es sich prächtig (Temperatur 12°). Zu beiden Seiten der Straßen finden sich schöne Bananenpflanzungen und malerische Gehöfte; das aus dunklen Lavablöcken bestehende Gemäuer ist bedeckt mit meterhohen Pelargonienbüschen, welche mit einem herrlichen Flor aus weißen, rosa- und tiefroten Blüten geschmückt sind. Mählich geht es den Berg empor; immer mehr weitet sich der Blick auf das fruchtbare Terassengelände, das im Osten durch die hohen Wände der Ladera von Sant Ursula, im Westen durch den Riesenwall der Tigaiga begrenzt wird; tief unten liegt das blaue Meer, dessen Wogen sich an den schwarzen Lavaklippen weißschäumend brechen, während von oben in tadelloser Reinheit der schneebedeckte Gipfel des Pik herab und herüber leuchtet.

Bald sind wir in Villa Orotava, 330 m hoch über dem Meer. Wir kennen die Stadt schon von unserm frühern Besuch. Vor allem fallen die aus dem 16. - 18, Jahrhundert stammenden Patrizierhäuser auf. Über der reich eingerahmten Tür prangt das Wappen ihrer Erbauer; mit schönem Gitterwerk geschmückte Erkerfenster oder kunstvoll geschnitzte holzlauben zieren die Front. Durch den Hauptflur sieht man in den Patio hinein, einen baum- und springbrunnengeschmückten Hof. Die Gärten der Stadt haben durch ihren Reichtum an herrlichen Pflanzen eine große Berühmtheit erlangt. In einem derselben ragt eine riesenhafte, über 30 m hohe Palme auf, welche schon zur Zeit der Eroberung durch die Spanier gestanden haben soll. Im gleichen Garten befand sich der uralte Drachenbaum, der schon von Humboldt gemessen und beschrieben worden, 1868 aber dem Sturme zum Opfer gefallen ist.

Aus allen Fenstern gucken neugierige Gesichter heraus, als die Hufschläge unsrer Tiere auf dem holprigen Straßenflaster ertönen, und bald bildet die mit malerischer Unordentlichkeit gekleidete Jungmannschaftr Spalier.

Nach kurzem Halte setzen wir unsere Wanderung fort. Lang sam geht´s auf holprigem Wege bergan. Es führt durch eine fruchtbare Landschaft mit Weizen-, Gerste- und Kartoffelkulturen; blühende Mandel- und Pfirsichbäume, Feigen, Reben, japanische Misteln zieren die Gärtchen. Höher oben finden sich Lupinienfelder, Nuß-, Kirschen-, Birn- und Kastanienbäume, letztere allerdings noch völlig kahl. Ähnlich wie im Tessin umgeben sie die höchst primitiven Wohnstätten einheimischer Bauern. De Mauern sind aus Lavablöcken trocken aufgebaut; das weit herabreichende Dach ist mit Stroh gedeckt. Meist stehen 2-4 Hütten beieinander: Wohnung, Küche, Kuh- und Ziegenstall. Wenden wir den dBlick aufwärts, so sehen wir hoch über uns die dunklen Wälder der langgestreckten Cumbre, eines 2000 m hohen Bergrückens, aus denen da und dort das Räuchlein eines Kohlenmeilers aufsteigt; nach der Tiefe überschauen wir die ganze herrliche Taoromulde mit ihren Bananen- und Getreidefelder, ihren Ortschaften und vertrauten Gehöften. Wie ein weißes Band umgibt die Brandungszone die zackige Küste. Weit drußen im Meer zieht einsam ein Schiff seine Furchen.

Bei 1000 m treten wir in einen lockern Buschwald ein. Er wird durch die Baumheide oder den Breso, Erica arborea, gebildet, welche hier als mannshoher, im Habitus an Zypressen erinnernder Strauch vorkommt. Er sit üb er und über bedeckt mit zierlichen, weißen oder rosa angehauchten Blütenglöckchen. Anmutig schlängelt sich unser Pfad zwischen den vom Adlerfarn umwucherten Büschen empor. Die Heide wird spärlicher; immer mehr nehmen die flachkugligen, graugrünen Büsche des Drüsenginsters oder Codesos (Adenocarpus frankenioides) und der sparrigen Micromerien überhand. Zu ihnen gesellen sich die blühenden Obstbäumchen ähnelnden 3-4 m hohen Sträuchern des Escobons (Cytisus proliferus), deren Zweige mit weißen Schmetterlingsblüten dicht überzogen sind. Über den steinigen Weg kriecht ein dicker schwarzer Käfer (Pimelia); hoch in der Luft kreist ein Geier.

Früher soll an Stelle des Buschwaldes, den wir durchschreiten, ein Wald kanarischer Pinien gestanden haben; ein einziger Baum ist der klägliche Rest desselben und zugleich stummer Ankläger der spanischen Regierung, welche die völlige Ausrottung geschehen ließ.

In 1300 m Höhe machen wir halt; es ist 11 1/4 Uhr. Einige Maulos werden ihrer Proviantkörbe entledigt; wir werfen uns auf den mit lockerem Rasen bewachsenen Lavaboden und halten ein köstliches Mittagsmahl. Um uns herum ziehen sich die schleichenden Nebel zusammen zu einer Wolke, welche uns den Blick aufwärts und abwärts verwehrt - es ist die Passatwolke, welche sich regelmäßig um diese Zeit in der Region von 1200 - 2000 m bildet und einen Gürtel um die Hänge des Piks schlingt; ein selten fehlender Zug in der Landschaft von Tenerife. Gegen Abend löst sich die Wolke wieder auf.

Die Tiere, die bis anhin frei weideten, werden wieder gesattelt; wir setzen unsern Aufstieg fort. Allmählich nimmt der Pflanzenreichtum ab. Das Auge wir dimmer mehr gefesselt durch die bizarren Formen, welche die hügeligen Lavaströme zeigen. Bald ist das dem Erdinnern entquollene Magma zu breiten, breiigen Bändern gewunden, bald spiralig durcheinander gedreht wie Eingeweide, dann wieder in kurzen Streifen niederfallend wie eine erstarrte Kaskade; hier sind die Laven aufgerissen und wild zerfurcht, dort gähnen uns aus den braunen Massen schwarze Höhlen entgegen. Zwischen den Strömen dehnen sich gelbliche Bimssteinfelder aus, auf welchen sich in 1750 m Höhe die gelbgrünen, halbkugeligen Büsche der charakteristischen Pikpflanze, der Retama (Spartocytisus supranubius) einstellen. Wenn die rutenförmigen Zweige im Mai und Juni mit den großen, weißen, ginsterartigen Blüten übersät sind, muß der Anblick herrlich sein. Dann bringen die Kanarierihre Bienenstöcke hier herauf, die schon in der Zeit eines Monats mit trefflichem Honig gefüllt werden.

Wir sind längst über den Wolken. Sie schweben tief unten an den Flanken des Berges und bilden ein Nebelmeer, wie wir es im Winter von unsern Alpengipfeln her zu sehen gewohnt sind. Nur durch vereinzelte Risse werden grüne Geländestreifen mit Dörfern und Kulturen bemerkbar; da und dort glänzt das Meer herauf. Vor uns aber steht in majestätischer Größe der Kegel des Piks, der mit seinem weißen Schneemantel sich in der durchsichtigen Luft intensiv abhebt von den dunkelbraunen, abenteuerlich geformten Lavamassen in unsrer Nähe. Wegen der großen schwefelgelben Flecken, welche die Geographieflechten (Rhicocarpon geographicum) auf ihnen bilden, sehen sie nur noch phantastischer aus. Die Wildheit der Szenerie hat etwas Beängstigendes. Wir sind stumm geworden; jeder überläßt sich seinen Gedanken, das Suchen des Pfades auf dem holprigen Boden den sicher auftretenden Tieren überlassend, die durch die nicht allzu häufigen Zurufe ihrer Treiber "Anda morena, arré mulo, cab´aqui" (geh, Schwarze; vorwärts Maultier; hierdurch, Pferd!) aufgemuntert werden. Dazu gesellt sich der Durst, der von Zeit zu Zeit durch eine japanische Mistel aus der Rocktasche gestillt wird. Endlich haben wir die Höhe erreicht. Wir passieren einen von Lavahügeln flankierten Engpaß, den Portillo, und gelangen auf eine weite Fläche von graugelbem Bimsstein: wir sind in dem berühmten Teydezirkus, den Cañadas, angekommen.

Eine riesenhafte Steinwüste umgibt uns. Zu unser Linkenwird sie begrenzt von 200 - 500 m hohen, schroffen Felsenwänden: sie bilden den innern Absturz des Ringgebirges, das in einem mächtigen Bogen von 20 km Durchmesser den eigentlichen Pik annähernd umgibt, ähnlich wie die Somma den Gipfel des Vesuvs. Die auffällige horizontale Schichtung beruht auf dem regelmäßigen Wechsel von Lava und Tuffen. Hie und da sind sie von tiefen Schluchten durchzogen; die Erosion hat stellenweise das Ringgebirge in zahlreiche Gipfel aufgelöst. Die Konfiguration des ganzen Walles erinnert uns an die zackige Linie der Churfirstenkette. Zu unserer Rechten haben wir wild aufgetürmte, braune Lavamassen, welche unregelmäßig in die weite Ebene hineinragen. Über sie empor erhebt sich die stolze, gewaltige Pikpyramide. Der oberste Gipfel ist schneefrei;an beiden Seiten aber senken sich unzählige Schneefelder herab, die sich unten in Flecken auflösen. Zwischen ihnen winden sich in langen Linien die schwarzen Trachyt- und Obsidianströme zu Tal. Hoch über dem Gipfel des Berges ziehen kleine, weiße Wölklein dahin, getrieben von einem aus SW kommenden Winde, dem Antipassat.

Zwei Stunden lang reiten wir auf der weiten Bimssteinebene, die 2100 m hoch liegt, dahin. Die Felsen zur Linken werden schroffer, höher; da und dort zieht sich eine Schutthalde herab. Die gebänderten Wände sind nicht selten von steil aufragenden Gängen durchsetzt. Immer wilder türmen sich die Lavamassen zu unserer Rechten, die Volcanes del Teyde, auf. Die Vegetation beschränkt sich auf eine einzige Pflanze, die Retama. Ihre halbkugeligen, gelblichgrünen, bis 3 1/2 m hohen Büsche mit ihren aufgerichteten, rutenartigen, blattlosen Zweigen nehmen sich in dieser einsamen Felsenlandschaft seltsam genug aus. Sie bilden keine geschlossenen Verbände, welche den Boden verhüllen; die Individuen stehen getrennt weit auseinander.

Gegen Abend haben wir den "Risco verde", eine vorspringende Kulisse des Ringwalles, erreicht. In einiger Höhe über der Ebene befindet sich in den Lava- und Tuffmassen eine Höhle mit halbvermauertem Eingang. Hier schlagen wir unser Lager auf. Bald entfaltet sich ein reges Leben und Treiben. Die Mulos werden abgesattelt und sich selbst überlassen; dort wird aus Lavablöcken ein Herd errichtet, hier ein Zelt aufgeschlagen; einige schleppen Retamaholz herbei, mit dem andere ein Feuer entfachen. Die Proviantkörbe werden ihres Inhalts beraubt, Decken zur Bereitung der Lavastätten ins Zelt oder in die Höhle getragen, unterdessen auch die Wasserfäßchen heimlicherweise von den durstigen Arrieros geleert. Auf einem Blocke sitzt einer der Unsrigen und zeichnet, sein Kollege photographiert, ein dritter macht sich Notizen. Vor der Höhle aber weht munter das Schweizer Banner unseres Führers.

Der Tag geht zur Neige. Immer länger werden die Schatten, welche der Pik auf die Cañadas wirft, so daß sie endlich das Ringgebirge erreichen und langsam dort höher steigen. Um 1/2 6 Uhr taucht die Sonne unter dem Pikgipfel unter; prachtvoll ist der westliche Himmel gerötet. Die zarten Dampfwölkchen, die dem Krater des Pik entsteigen, sind leicht vergoldet und zerfließen an dem dunkelnden Firmament. Ein Stern nach dem anderen blitzt auf; aber noch lange leuchtet der Himmel hinter der dunklen Pyramide in magischem Schein. Die schwarzen Ströme und die weißen Schneefelder des Pikmantels sind verschmolzen inein gespenstisches Grau;sletsam leuchten die grünlichweißen und gelben Bimssteinfelder an der Montaña blanca herüber. Die zerrissenen Volcanes am Fuße des Kegels erscheinen dämonenhaft schwarz; weithin dehnt sich die hellere Ebene zu unseren Füßen aus, und unheimlich ragen die zernagten Felsen des Ringgebirges empor. Ein überwältigende Stille liegt über der großartigen Landschaft. Kaum dringen die Stimmen des Arrieros, die in ihre Mäntel gekauert um ein großes Feuer sitzen und von demselben mit grellen Lichtschein übergossen werden, an unser Ohr. Tief ergriffen von dem seltenen Schauspiel, das zu sehen uns vergönnt, begeben wir uns endlich zur Ruhe.

Die Nacht ist empfindlich kühl; morgens 5 Uhr beträgt die Temperatur der Luft 1,5°, diejenige des lockren Bimssteinboden 0° (abends 5 Uhr hatte sie 9°, diejenige des Bodens 20° betragen). Noch liegt die Landschaft, als wir erwachen, in tiefster Dämmerung begraben; aber bald weicht die Nacht am Pikgipfel und sinkt langsam ins Tal; hell leuchten die Schneefelder auf, und das Spiel der grellen Lichtreflexe und scharfen Schatten beginnt von neuem. Um 6 1/2 Uhr brechen wir auf. Zunächst setzen wir den gestrigen Ritt durch die Cañadas fort; der Landschaftscharakter bleibt derselbe. Weit springen die dunklen Felsenpfeiler "Las Pilas" in die Ebene vor.

Um 8 Uhr haben wir die "Roques de la Grieta" am Fuße des Espignongipfels erreicht. Eine Quelle sprudelt aus dem lockern Gestein, die "Fuenta de la Grieta" (2187 m). Das kühle, erfrischende Naß ist uns willkommen. Die Tiere werden getränkt und die Wasserfäßchen von neuem gefüllt. Von nun an verfolgen wir nicht mehr den Weg, der noch weiter der Felsenmauer entlang führt; wir durchqueren die weite Ebene und beginnen dann langsam an den Lavahügeln der Volcanes emporzusteigen. Der Pfad windet windet sich zwischen wildgeformten Felsblöcken empor; sparrige Retamabüsche stellen die einzige Vegetation dar. Furchtbar einsam und öde erscheint uns die Landschaft, erschreckend das Chaos der dem Erdinnern entquollenen Massen. So steigen wir stundenlang in die Höhe. Die dunkle Montaña de los Rastrojos lassen wir rechts liegen und streben der zu unsrer Linken aufragenden Montaña blanca entgegen. Das helle Bimssteingeröll derselben sticht grell ab von den dunklen Lavamassen, welche dem Rastrojoshügel entstammen. Heiß brennt die Sonne auf uns hernieder, obwohl die Lufttemperatur nicht mehr als 15 1/2° beträgt; der sonnenbeschiene Boden zeigt 36°.

In einer Höhe von 2700 m halten wir Mittagsrast. Tief unter uns liegen die Cañadas; auch das Ringgebirge reicht längst nicht mehr in unsere Region empor. Ein wogendes, sonnenbeschienenes, schimmerndes Wolkenmeer umzieht die Inseln und verhüllt den Ozean, der nur durch Risse in dem Gewölk heraufblinkt; im Osten taucht die sanfte Kammlinie von Gran Canaria empor. Rings um uns herum liegen nuß- bis faustgroße, weißgraue Bimssteinstücke; der ganze Hügel ist auf ihnen aufgebaut. Wie unsere Arrieros berichten, werden diese Steine von Isleños gesammelt und zum Export ins Tal hinabgebracht.

Bald nach dem Aufbruch befinden wir uns in der Region derzerklüfteten Trachyt- und Obsidianwälle, die wir schon von den Cañadas aus gesehen. Von ihren unteren Enden sind riesige Blöcke abgerollt und liegen nun auf den obersten Bimssteinfeldern der Montaña blanca. Frost, Hitze und Wind haben an ihnen gearbeitet und ihnen die rundliche Form gegeben, die sie jetzt aufweisen. Zwischen diesen Blöcken führt der Pfad hindurch; dann wird der Hang steiler, und in zahllosen Serpentinen geht es empor. Bei 2960 m haben wir die Estancia de los Ingleses (Station der Engländer), eine kleine Terrasse, erreicht. Acuh hier liegen hausgroße Blöcke wie unten; Flaschenscherben und verrostete Konservenbüchsen weisen darauf hin, daß der Ort ein beliebter Halteplatz der Pikbesteiger ist. Humboldt hat an dieser Stelle bei seiner berühmten und für die Wissenschaft so bedeutungsvollen Besteigung des Berges übernachtet (21. Juni 1799). Etwa 100 m höher liegt die "Estancia de los Alemanes" (Station der Deutschen), so genannt, weil sie ein bevorzugter Ruheplatz für die Deutschen zu sein scheint. Die Steigung des Berges beträgt von hier an 25 - 30°; der Weg geht darum nur mühsam aufwärts. Bald werden die Bimssteine spärlicher, endlich verschwinden sie ganz, und wir marschieren auf nacktem Lava- und Obsidiangestein.

Um 3 Uhr sind wir auf einem neuen Terrainabsatz angelangt, der Alta Vista (hohe Aussicht, 3270 m). Ein massiver, langgestreckter, niederer Steinbau ist auf denselben errichtet, das Geschenk eines Pikbegeisterten Engländers an die Bergsteiger des Teyde. Er steht an der Stelle des 1865 von Piazzi Smith erstellten Hütte, welche dieser Astronom eigens erbaut hatte, um wochenlang hier oben mit seiner Gemahlin astronomischen Studien obzuliegen. Auch wir nehmen hier für eine Nacht Quartier; vorher gedenken wir aber noch die Besteigung des Gipfels auszuführen. Wir laden unsere Rucksäcke ab, stärken uns und machen uns wieder auf den Weg, während die Arrieros mit den Maultieren zurückbleiben.

Dicht hinter dem Hause schließne die schwarzen Obsidianströme zu wilden Wällen zusammen; die tiefliegenden Partien sind mit Schnee ausgefüllt, die stellenweise durch die Sonne zu phantastischen Gebilden ausgeschmolzen ist. "Malpays" (schlechtes Land) nennt der Kanarier diese Lavawüste, ein Name, der auch an andern Orten für vegetationsloses, vulkanisches Trümmergebiet verwendet wird. Über dieses Steingewirr klimmen wir empor; der Weg ist bezeichnet durch kleine, unscheinbare Steinhäufchen nach Art der Steinmannli in den Alpen. Sie sollen dem Pikbesteiger den Weg weisen, in erster Linie aber den Isleños, welche von den Hängen Schnee, aus der weiter oben gelegenen Eishöhle Eis, aus dem Gipfelkrater Schwefel holen und zu Tage bringen. Die genannte Höhle, Cueva del Hielo (3366 m), ist eine Lavagrotte, in welcher sich der im Winter hineingewehte Schnee den Sommer über als Eis erhält. In der Nähe machte Ende des 18. Jahrhunderts die Expedition Lapérouse ihre bedeutsamen Untersuchungen über die Temperatur des siedenden Wassers, die sie hier bei 88,7° feststellten.

<Rambletta (3570 m), eine ziemlich breite Terrasse unterhalb des Gipfels, die mit Lavatrümmern, Bimssteinen und Asche übersät ist. Der Pik selbst scheint hier zu einem niedrigen Berg zusammengeschrumpft zu sein, da er nur wenig mehr als 150 m höher aufsteigt, weshalb er von hier an Piton genannt wird. Die Isleños heißen ihn Zuckerhut, da seine Hänge mit graugelbem Bimsstein überzuckert sind. Deutlich sehen wir die Dampfwölklein am Gipfel aufsteigen, die der Wind gen Südwesten verweht. Wir nähern uns dem Zentrum der noch wirkenden, vul-
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Rambletta mit Piton
kanischen Tätigkeit; in gehobener Stimmung und mit erneuter Kraft eilen wir deshalb weiter. Wir achten kaum des lockern, stets unter dem Fuß weichen Gesteins.

Um 1/2 6 Uhr stehen wir auf dem Gipfel. Aus allen Rissen und Ritzen dringen Wasserdämpfe mit schwefligem Geruch hervor. Vor uns liegt der elliptische Krater, dessen Längendurchmesser 100 m, dessen Tiefe etwa 40 m beträgt. Der Rand hat auf einer Seite eine gewaltige Bresche; die inneren Hänge und der Boden des Kessels sind von weißgrauen, gelblichen oder ziegelroten, feinen Ablagerungen und hellgrauen, kantigen Blöcken bedeckt. Einen mächtigern Eindruck macht der viel größere Krater der pico viejo, der im Westen in einer Entfernung von 2 -3 km am Abhange des Piks sich befindet. Wohl erscheint er niedrig von unsrer hohen Warte aus; aber seine gewaltige Caldera weist darauf hin, daß er einst eine bedeutendere Rolle gespielt hat als der um 500 m höhere Gipfel des Teyde. Ringsum senken sich die kohlschwarzen Lavaströme und Schneefelder zur Tiefe, wo sie an den dunkeln unregelmäßig aufgetürmten Massen der Volcanes enden; über der Cañadasebene streben die Felswände des Ringwalles trotzig empor. Über sie hinaus schweift der Blick zu den mit Wäldern und Kulturen bedeckten Hängen auf der Südseite der Insel, die mit einer mannigfaltig verlaufenden Küstenlinie an den Ozean grenzt. Nach Norden verdeckt uns ein weites, weiches, schimmerndes Wolkenmeer die fruchtbaren Gelände von Orotava und Icod; im Osten taucht aus ihm der gewaltige Grat der Cumbr empor. Viele Pikbesteiger berichten, wie der Ozean vom Pik aus einer blauen Kristallschale gleiche; der Blick gleitet von der tief unten liegenden Küste höher und höher, bis er den in Augenhöhe sich befindenden, vom leuchtenden Himmel sich kaum abhebenden Meereshorizont erreicht hat; die Schiffe werden Insekten verglichen, die am Rand dieser Schale hinauf- oder herabkriechen. Jetzt ist der Ozean durch ein erst in der Ferne sich verlierendes Nebelmeer verhüllt. Doch ist dieser Anblick nicht minder schön, besonders da die welligen Kämme der Wolkenschwaden von der untergehenden Sonne mit einem leichten Rosa überhaucht werden. Unter dieser schimmernden Wolkenschicht können wir eine tiefer liegende wahrnehmen; es sind dort Landpassatwolken, welche nur über der Insel lager. Da und dort schauen aus dem Nebelmeer die Gratpartien von Bergen hervor, so der Inseln Palma, Gomera, Ferro und Gran Canaria; die übrigen, weiter östlich liegenden Kanaren Lanzarote und Fuerteventura sind verborgen. Lange bleibt der Blick am westlichen Firmamente hängen. Dort sinkt soeben die Sonne zum Horizont hinab; der Himmel ist purpurn gerötet, die langgestreckten, grauen Wolkenstreifen sin von einem rotleuchtendem Saume begrenzt, und langsam sinkt der elliptisch erscheinende Feuerball hinter ihnen hinab, bald neu aufleuchtend, dann wieder von einzelnen Wolken zonenweise verdeckt. Auch über Ferro steht eine schmale linienförmige Wolke in norsüdlicher Richtung; will sie uns an den Meridian erinnern, der, nachdem er 2 1/2 Jahrhunderte lang sich allgemeiner Anerkennung erfreut hat, allmählich immer mehr in Vergessenheit gerät? Während im Westen das herrliche Farbeschauspiel vor sich geht, nehmen wir auf der entgegengesetzten Seite eine andere fesselnde Erscheinung war. Ein zugespitzter, violetter Schatten schleicht träge über die Cañadas hinweg, erreicht das Wolkenmeer und wächst mehr und mehr zum Horizont hinauf. Das ist der Pikschatten. Von seiner Spitze aus steigt ein feines, weiches Strahlenbüschel empor, ähnlich wie wir es bei uns in dunstiger Atmosphäre bei untergehender Sonne beobachten können. Einen Augenblick scheint der gewaltige Schatten uns gegenüber zu stehen; dann verschwimmen die Konturen langsam; die Dämmerung ist hereingebrochen. Wir sind ergriffen von der Feierlichkeit des Augenblicks, von der Majestät des Ortes, von der Fremdartigkeit und Pracht der Naturerscheinungen, von der tiefen Einsamkeit, die uns umgibt, von der gewaltigen Ausdehnung des Sehkreises. Wir überblicken ein Gebiet, das mehr als das Doppelte der ganzen Schweiz umfaßt.

Ein Pfrpfen springt, und ein Glas perlenden Schaumweins kreist in der Runde. Dann lassen wir ein heimatliches Lied erschallen; es ist wohl das erstemal, daß auf dem Teyde ein Lied aus zo zahlreichen Kehlen ertönt. - Erst spät gehorchen wir unserm Führer, der schon lange zum Aufbruch mahnte. er wußte, daß der Weg in der Nacht ein tückischer ist. Zudem macht uns der scharfe Wind die Kälte, die auf 0° gesunken ist, empfindlich spüren. Der Abstieg geht nicht ohne Unterbruch von statten; wir stehen öfters still, um wiederum das Firmament im Westen zu betrachten, das immer noch in purpurnen Farben erglüht. Schwer ist es, sich von dem herrlichen Schauspiel zu trennen; nur die vollständig hereinbrechende Dunkelheit vermag uns schließlich zur Eile anzuspornen. Die dünne Mondsichel und die strahlende Venus erleuchten nur spärlich unsern Pfad; das Licht des Führers, der voraus ist und uns den Weg weisen will, verschwindet hinter einem Block oder einem schwarzen Lavawalle, um im folgenden Augenblick an anderer Stelle plötzlich wieder aufzublitzen. Tief unter uns schimmert in mattem Schein das Wolkenmeer, das die Insel umspannt. Lautlos herrscht die Nacht! -

Auf Alta Vista verteilen wir uns auf die drei Räume der Hütte, von denen zwei für die Touristen bestimmt sind, einer von Führern und Arrieros bezogen wird. Nach dem Essen begeben wir uns vor das Haus, um noch die Nacht zu genießen. Vor uns liegt der steile Hang, der zur Montaña blanca hinabführt; er ist unheimlich schwarz in der Dunkelheit. Der Ringwall der Cañades hebt sich kaum vom Himmel ab. Da die Nacht keine Einzelheiten mehr erkennen läßt, erscheinen die bizarren Konturen der Laven zur Rechten und Linken nur noch gespenstischer. Der Himmel ist mit einigen dünnen Wolkenschleiern bezogen, zwischen denen in ruhigem, steten Glanz die Sterne herniederstrahlen. Das Flimmern, dessen wir bei uns gewohnt sind, ist in der ätherreinen Region kaum merklich. Das Phänomen, das Humboldt und seine Begleiter so befremdete, ein starkes, seitliches Oszillieren der Lichtpunkte, vermochten wir nicht wahrzunehmen.

Eng zusammengepfercht verbringen wir in der Hütte eine ziemlich schlaflose Nacht, so daß wir Gelegenheit haben, all das Gesehene und Erlebte nochmals im stillen durchzukosten. Es ist empfindlich kalt (morgens 5 Uhr -2°), Wie wir vor die Hütte treten, rötet sich eben der östliche Himmel. Noch einige Augenblicke - ein grünliches Aufblitzen - und langsam steigt die Sonne über das erst in endloser Ferne sich verlierende Wolkenmeer, dasselbe mit ihrem Licht überflutend, empor. Das tief zu unsern Füßen gelegene Lavagewirr taucht aus dem Dunkeln auf und Farbe und Form an; der hohe Grat der Cumbre läßt wieder seine grünen Wälder erkenne. Die Cañadasumwallung mit ihren nischenartigen Ausbuchtungen zeigt die mannigfaltige Schichtung ihrer steilen Wände. Über dem Nebelmeer aber taucht am Horizont klippenartig die Bergkuppe von Gran Canaria auf. - Humboldt berichtete in seiner Reisebeschreibung, daß die Sonne, vom Pikgipfel aus gesehen, etwa 12 Minuten früher aufgestanden sei als für einen entsprechend gelegenen Ort an der Küste; auch habe das Aufgehen 6 Minuten gedauert, also dreimal länger als dies nach Berechnung hätte sein müssen.

Um 7 Uhr sind wir bereits im Absteigen begriffen. Bald stellt sich eine spärliche Retamavegetation ein. Der oberste Strauch fand sich bei 3140 m, dem Boden dicht angepreßt und zernagt von dem wilden Kaninchen, dem einzigen Tier, das in diesen Höhen noch sein Dasein fristet. Nur im Sommer verschlägt der Wind Schmetterlinge, Bienen, Hummeln, Fliegen und Spinnen in die Gipfelregion hinauf, und Segler und Teydefink jagen ihnen nach. Am untern Ende der Serpentinen wächst im Bimssteinschutte die berühmte Viola del Pico, das Pikveilchen; es ist eine niedrige Pflanze mit kleinen, lanzettlichen, dichtbehaarten Blättern und großen, amethystblauen Blüten.

Von der Montaña blanca an wenden wir uns direkt nach Norden und steuern der Fortalezza zu, einem Rest des Ringwalles, der einst die riesige Kratereinenkung vor Aufschüttung des Piks umgrenzte. Am Hange des Berges begleiten uns zunächst noch einzelne Lavaströme; da und dort ragt aus dem Bimssteinfelde ein kleinerer Kegel oder ein einsamer Block hervor. Endlich ist die Cañadesniederung erreicht; eine gelblich-graue Lapilliwüste ligt vor uns in ungeheurer Ausdehnung. Mächtige Retamabüsche sind über die Ebene zerstreut; wir messen solche mit bis zu 8 m Durchmesser und 3 1/2 m Höhe; die Stämme sind bis 30 cm dick. Die jungen Pflänzchen, die wir aus dem Boden loslösen, zeigen Wurzeln von 6 m Länge; in solcher Tiefe muß die merkwürdige Pflanze die nötige Feuchtigkeit zu gewinnen suchen. Die knorrigen Hauptäste schmiegen sich dem Boden an und verzweigen sich in viele federspuldicke starrende Zweige so dicht, daß man nur stellenweise oder gar nicht in den Busch eindringen kann. Schon mancher Pikreisende hat im Schutze einer solchen Pflanze die Nacht verbracht; jedem aber hat sie das Material für das Lagerfeuer geliefert, da sich das saftarme Holz hierfür vortrefflich eignet; selbst lebende Büsche können leicht in Brand gesetzt werden. Vielfach werden aus der Retama Reisigbündel hergestellt, die mit Mauleseln in die tiefere n Regionen hinabgeführt werden und dort als Brennmaterial dienen. Übrigens bilden die jungen Triebe der Pflanze die einzige Nahrung der Ziegen, die in Cañadas herumklettern.

Endlich stehen wir vor der etwa 100 m hohen Mauer der Fortalezza. Sie wird größtenteils durch ein mächtiges, graubraunes Phonolithgestein gebildet, unter welchem gelbgefelckte Tuffe aufgeschlossen sind. Am Fuße der Felswand ist eine Schutthalde. Beim Aufstieg über dieselbe finden wir Rhamnus integrifolia, einen kleinen, verästelten Strauch, Juniperus Cedrus und ein federbuschiges Echium. Bei 2150 m steht hier die erste Pinie.

Nach kurzer Mittagsrast - gemütliches Aufessen des noch vorhandenen Proviants - beginnt der eigentliche Abstieg über den langen Kamm der Ladera de Tigaiga. Nochmals werfen wir den Blick zurück auf den in seinem Scheegewande aufragenden königlichen Pik - unter uns dehnt sich ein endloses Wolkenmeer aus, durch dessen Risse wir das grüne Küstengelände heraufblicken sehen.

Die Vegetationsformen, die wir zwei Tage zuvor kennen gelernt, wiederholen sich in umgekehrter Reihenfolge. Bei 1730 m sind wir an der Grenze der Retama angelangt; die Erikaformation beginnt. Die ersten nebel wallen durch das Gesträuch; bei 1600 m sind wir mitten in der Passatwolke, die bis 1140 m hinabreicht. Die Temperatur, die über derselben 16° betrug, ist auf 6° gesunken.

Es ist ein erfrischendes Reiten durch den feuchten Erikawald. In den Schluchten, deren Rand wir berühren, gedeiht üppiges Lorbeergehölz. Wir haben die Wolke nun hinter uns. Der Weg führt stellenweise an der steilen Felswand hin, welche das Tal von Orotava gegen Westen begrenzt. Ein entzückendes Panorama bietet sich hier unserm Auge. Zu unsern Füßen breitet sich eine grüne, fruchtbare Terassenlandschaft aus bis hinüber zur Ladera von S. Ursula, hinter welcher die waldigen Höhen der Cumbre den Horizont begrenzen. Gerade unter uns liegen die beiden Dörfchen Realejo; als Nachbar des Kirchleins von Realejo alto winkt uns mit weit ausgebreiteten Ästen ein mächtiger Drago herauf. Von da schweift der Blick über all die zahlreichen Ortschaften, die mit ihren weißen Häusern über die weite Mulde zerstreut sind. Drei kegelstumpfförmige Hügel ragen über sie empor, die jüngsten Erzeugnisse des Vulkanismus im Niederland. Ihre kahlen, dunkeln Bimssteinhänge bilden einen grellen Kontrast zu der lachend grünen Umgebung, ebenso die felsigen, gelblich oder braun gefärbten Barrancos, welche das fruchtbare Gelände zerstückeln. In vielgestaltiger Kurve verläuft die Küstenlinie; zahlreiche Felsenvorsprünge ragen kulissenartig in das blaue Meer hinaus, dessen nie rastende Brandung die Insel mit weißem Band umsäumt.

Wie beim Aufstieg von Villa Orotava drängt sich auch jetzt ein Vergleich in mir auf: der Blick von unsrer hohen Warte erinnert mich auffallend an die Ansicht, die man von Glion oder Caux aus auf das fruchtbare Gelände von Montreux-Vevey genießt. Nur die jungen vulkanischen Aufschüttungen haben dort kein Analogon. - Bald ist das Dörfchen Icod el Alto erreicht. Hier fällt der Tigaigarücken inüber 300 m hohem Sturze zum Meere ab. Unter uns liegt Icod de los Vinos; im Westen ragt aus dem Meer der dunkle Inselfelsen von Garachico aus den schimmernden Fluten hervor.

Auf steilem Zickzackpfade steigen wir nun nach Realejo hinab, wobei wir den innern Aufbau der weithin sichtbaren Wand genauer kennen lernen können. Sie besteht aus einer ganzen Reihe von pseudoparallelgelagerten Lavabänken, die alle meerwärts geneigt sind, in den tiefern Regionen mehr als in den obern. Der Fuß der Wand ist durch eine Anhäufung losen Gesteinm,aterials bedeckt. Ein Barranco wird noch durchquert, dann sind wir in Realejo angelangt. Damit haben wir die "Carretera", die Landstraße, erreicht. Ein einstündiger Ritt unter Eukalyptern und Palmen, vorbei an blumengeschmückten Gartenmauern und üppigen Bananenfeldern, über trockene Barrancos mit ihrer fremdartigen Vegetation, bringt uns zurück zu unserm Strandquartier, dem Humboldtkurhaus ob Puerto Orotava.


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Erstellt am 6. August 2001 von Kurt Stüber und Volker Lauschke.