Dr. E. Bolleter:
Bilder und Studien
von einer Reise nach den Kanarischen Inseln (1910)

Kapitel 1: Erinnerungen an Marokko

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Noch vor wenig Jahren wußte man von Marokko wenig mehr als den Namen. Wir waren in der Geographie von südamerikanischen oder ostasiatischen Staaten besser bewandert als in derjenigen des nordwestafrikanischen Kaiserreiches, und doch dringt der Blick von Südspanien aus hinüber an dessen bergige Gestade. Tausende von europäischen Handelsschiffen fuhren seit Jahrhunderten alljährlich an seiner Nord- und Westküste vorbei; mehrmals schon bildete die Straße von Gibraltar die Brücke einer Völkerwanderung herüber und hinüber. Trotz alledem blieb das Land im allgemeinen unbekannt. Erst in den letzten Jahrzehnten haben die europäischen Mächte, durch die Forschungen bedeutender Gelehrten und kühner Reisender angeregt, begonnen, dasselbe in ihren Interessenkreis zu ziehen. Aber auch jetzt ist nur ein unbedeutender Teil dieses zukunftreichen Gebietes bekannt, und da die Ansiedlung durch Europäer keineswegs bedeutend ist, so hat sich unsere Kultur noch keinen nennenswerten Eingang zu schaffen vermocht.

Heute indessen ist der Name Marokko in aller Munde. Die kriegerischen Ereignisse, die sich dort in den letzten Jahren abspielten und deren Berichte so manche Spalte unserer Zeitungen füllen, haben vermocht, was friedliche Forschungsarbeit nicht zustande brachte: die Augen von ganz Europa sind auf das seltsame Land gerichtet, und mit Spannung ist man der Entwicklung der Dinge gefolgt.

So kam es, daß wir anläßlich unserer naturwissenschaftlichen Exkursion nach den Kanaren im Frühjahr 1908 mit großer Freude die Gelegenheit ergriffen, soviel als möglich auch die marokkanischen Verhältnisse aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Der spaniche Dampfer, den wir benutzten, ging nämlich in vier Städten Marokkos vor Anker: Tanger, Casablanca, Masagan und Mogador.

Am 22. März 1908 früh nachmittags näherten wir uns Tanger. Aus den blauen Fluten des Ozeans ragt, mit dem prächtigsten Grün bekleidet, die hügelige Küste Afrikas empor. Im Hintergrund einer schönen Bucht erhebt sich amphitheatralisch die weiße von Mauern umgebene Stadt, aus deren Häusermeer mit ebenflächigen Dächern zahlreichen Türme und einzelne Kuppeln herausragen. Zu beiden Seiten der Stadt ziehen sich Hügel hin, teilweise mit Wäldern bedeckt; da und dort thront eine Ruine auf steiler Höhe. Der westliche Bergzug, der Dschebel Kebir, setzt sich fort bis zum nordwestlichsten Vorgebirge von Afrika, dem Kap Spartel. Das Ufer im Osten der Stadt ist flach und sandig; dahinter erheben sich die Berge der Landschaft Andschera. Unser Schiff fährt langsamer und hält schließlich inne; aber noch sind wir weit draußen auf offener See. Der Anker rassel und fällt klatschend ins Meer. Alles ist auf Deck und drängt sich am Fallreep zusammen, teils um zum Ausbooten bereit zu sein, teils um das außeordentlich lebhafte Treiben um den Dampfer herum zu beobachten. Denn er wird umschwärmt von zahlreichen Lanchas, kleien breiten Booten, die bemannt sind mit dunkelbraunen, abenteuerlichen Gestalten; sie sind bekleidet mit unförmlichen Pumphosen von schmutzigem Weiß und tragen eine rote Fesmütze mit "Rattenschwänzchen" auf dem Haupt. Zum erstenmal sehen wir uns den Bewohnern Afrikas gegenüber. Mit lautem Geschrei drängen alle an die unterdessen hinabgelassene Falltreppe heran. Jeder will als erster die Passagiere in seinem Boote aufnehmen; ein Drängen und Stoßen deshalb, ein Knarren und Ächzen der Boote, die gegeneinander prallen, ein Rufen und Heulen der einen, ein Schimpfen und Fluchen der andern der braunen Typen, ein Feilschen und Markten unsererseits um den Preis des Überfahrens - dann plumpsen wir ins Boot und haben das angenehme Gefühl, nunmehr auf Gnade oder Ungnade den Marokkanern ausgeliefert zu sein. Doch zeigt ein genaueres Mustern unserer Bootsleute, die gewaltig mit den Rudern ausholen und uns rasch durch die Wogen führen, daß wir von ihnen weiter nichts als die Erleichterung unserer Geldbeutel um zwei Pesetas zu fürchten haben. Es sind drei kraftvolle bronzefarbene Männer; das Gesicht zeigt feingeschnittene Linien, während das Kinn mit einem unkultivierten, spärlichen, schwärzlichen Bart geziert ist. Alle lachen uns mit weit geöffnetem Munde an und lassen uns ihre Zähne bewundern. Sie tun, als ob wir längst Bekannte wären, und da der eine etwas Spanisch versteht, so können wir uns mit ihm unterhalten. Hinten im Schiff sitzt ein etwa 14jähriger Knabe, ein echter Gassenschlingel dem Aussehen nach; doch guckt auch aus seinen Augen die Gutmütigkeit hervor. Mit lauter Stimme führen die drei Gesellen ein Gespräch. Öfters gebrauchen sie, wie wir meinen, das Wort "zie", wobie sie mit den Rudern weiter ausholen; auch wir rufen "zieh", und verständnisinnig grinsen uns die Männer entgegen. Unterdessen sind auch die adern Boote bemannt worden und abgefahren; ein eifriges Wettfahren entsteht. Rasch nähern wir uns dem Lande; am Molo halten wir an, steigen aus und werden gleich von einem ganzen Janhagel von Marokkanern empfangen, die sich mit viel Geschrei und Zupfen unserer Ärmel als Führer durch die Stadt anpreisen. Wir begeben uns indessen in die Obhut unseres Steuerknaben, der die Schar mit ein paar kurzen Worten abfertigt und uns durch die Menge geleitet. Bevor wir den Molo verlassen, haben wir 25 Centimes Brückenzoll zu entrichten. Dann treten wir den Rundgang durch die Stadt an.

Tanger, arabisch Tandscha, ist die Hauptstadt einer marokkanischen Provinz, ddie bedeutendste Handelsstadt des Landes und Sitz der Vertreter der europäischen Mächte. In Zukunft wird es den Ausgangspunkt des projektierten Eisenbahnnetzes bilden. Es kann sich auch als Seebadeort entwickeln, da es einen schönen Strand und ein gesundes, im Verhältnis zu Spanien kühles Klima hat. Die Stadt zählt etwa 30000 Einwohner; die Hälfte sind Mohammedaner, der Rest zu gleichen Teilen Juden und Europäer, besonders Spanier. Sie ist von alten Mauern umschlossen, welche von engen, hufeisenbogig überwölbten Toren durchbrochen sind und schon manchen Sturm ausgehalten haben. Der Ort hat nämlich eine bewegte Geschichte; erst war er römisch, dann vandalisch, nachher arabisch; einmal portogiesisch, später englisch, 1684 marokkanisch. Trotz der vielen Kriege mit den Europäern und den Belagerungen, die er auszustehen hatte, ist er seither in den Händen der Marokkaner verblieben.

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Bucht von Tanger

Auf einem Hügel der Stadt thront, weithin sichtbar, die Kasba, eine umfangreiche, aber stark verfallene Burg, welche eine Moschee, den Sultanspalast und neben anderen Gebäuden die Wohnung des Kaid in sich schließt, welcher vormittags von 8-11 Uhr am Eingang Recht spricht. Vor der Burg hat man eine entzückende Aussicht auf die weiße Häusermasse von Tanger, den Strand und das blaue Meer. Jenseits der Meerenge erblicken wir die Küstengebirge von Südspanien.

Wir benutzen den Fußweg, der von der Zitadelle aus steil hinab in die Stadt führt. Die Gassen, durch die wir kommen, sind enge, winkelig, schmutzig wie in allen marokkanischen Städten. Wir gelangen auf den kleinen Markt, sûk, den Mittelpunkt des städtischen Verkehrs. Hier finden sich die verschiedenen Postämter, ein deutsches, englisches, französisches und spanisches. Wir stürzen hinein, um uns mit den verschiedensten Marken zu versehen, teils um die Postkarten frankieren zu können, die wir schreienden Plagegeistern abkaufen, teils um befreundeten Sammlern später einen Dienst zu erweisen. Manch ein Wartender wird ungeduldig, wenn da und dort einer mit der Auswahl nicht fertig werden will. Vom kleinen Markt aus, wo sich auch die begangensten Kaffeehäuser und Kaufläden befinden, führt die Hauptstraße der Stadt zu einem Tor, Bab el dakkh, bei dessen Durchschreiten man auf den Fleisch- und Gemüsemarkt gelangt. Ein zweites Tor, Bab el fas (das Tor von Fes) führt auf den wichtigen Außenmarkt. Es ist dies ein großer unebener Platz, auf dem eine Menge von braunen Männern und tief verschleierten Verkäuferinnen ihre Waren feilbieten. Zwischen ihnen drängen sich feilschend und lärmend die Bewohner des Ortes hindurch, viele zu Fuß, andere auf Eseln reitend, welche außer ihrem Eigentümer noch große Körbe mti dem Eingekauften zu tragen haben. Die Esel selbst variieren in Größe und Farbe; es gibt kastanienbraune, graue, und weißliche. Diese Beobachtung erinnert und an Christ, der das Klima von Tanger ein wahres Eselklima nennt, weil die Langohren hier zu raschen, intelligenten Tieren von unermüdlicher Kraft, Ausdauer und komischer Grandezza werden.

Wir befinden uns in einem unbeschreiblichen Völkergewühle. Wir sehen da Typen der zwei Hauptbevölkerungsklassen Marokkos, der braunfarbigen, früher allein das Land bewohnenden Berber, einem wilden und tapferen Volk, das sich gerne gegen die Herrschaft des Sultans auflehnt, und der weißfarbigen Araber, welche im 7. Jahrhundert von Osten her eingedrungen sind und ihre Sprache und Religion einführten. Zahlreich sind auch die Neger, die ursprünglich aus dem Sudan stammen; sie spielen als Sklaven eine bedeutsame Rolle. Dazu kommen die Europäer, welche den verschiedensten Nationen angehören; ferner Juden, meist schöne Gestalten mit weißem Teint und hohem Wuchs. Daß bei der Mischung der Bevölkerung zahlreiche Übergänge vorkommen, muß uns nicht wundern; wir sehen alle Nüancen von Weiß und Braun zum Schwarz. Und ebenso mannigfaltig wie die Gesichtsfarbe und -form ist die Kleidung; die einen sind bekleidet mit weißen, andere mit farbigen Überwürfen oder Burnussen; hier trägt einer einen bunten Turban, ein anderer dort einen roten Fes; manche besitzen Pantoffeln aus gelblichem Leder, andere gehen barfuß. Die Israeliten sind an ihrem schwarzen Kaftan zu erkennen. Unangenehm fallen uns auf die zahlreichen Bettler mit fehlenden oder verstümmelten Gliedmaßen. Weniger böse sind wir den unverwüstlichen Gassenbengeln, die uns mit Geschrei, Gezänk und Gezupf einige Kupfermünzen aufzudrängen suchen; sie sind köstlich in ihrem Mutwillen und beneidenswert schön in Wuchs und Gesicht, wenn auch schmutzig.

Leider hatten wir nicht Zeit, das Leben im Hause des Marokkaners, nicht einmal im Kaffeehause, kennen zu lernen; der Kapitän unseres Dampfers hatte uns nur kurze Frist gegeben. So machen wir uns wieder auf den Weg nach dem Hafen. Bevor wir denselben erreichen, sehen wir zu unserer Rechten eine große Moschee. Ein hübsches Hufeisentor führt ins Innere; über dem Bogen befindet sich als Verzierung vielverschlungenes Arabeskenwerk, während oben das Dach auf zwei mit Tropfsteinmotiven geschmückten Konsolen schirmend über die Mauer hervorragt. Neben dem Eingange findet sich der hohe, schön verzierte Turm, das Minaret. Von der mit Zinnen bekrönten Plattform aus ruft der Muezzin viermal des Tages die Gläubigen zum Gebet. In der Mitte derselben erhebt sich ein schlankeres Türmchen, auf dessen Dach eine hölzerne Stange angebracht ist. Wenn es dunkel ist, wird an ihr zur Zeit des Gebets eine Laterne aufgezogen, bei Tag eine weiße Fahne; so weiß auch ein außer Hörweite befindlicher Moslem die Stunde des Gebets. Die Moschee selbst zu betreten, ist uns als Nasrani (Nazarener, Christen) untersagt. Indessen wissen wir, daß alle mohammedanischen Moscheen nach demselben Typus gebaut sind: Um einen Hof mit Brunnen ziehen sich geweißte Säulenarkaden; auf der einen Seite führen sie in das eigentliche Heiligtum mit der Gebetsnische, die in der Richtung nach Mekka angelegt ist.

Wir gelangen zum Hafen, wo ein bewegtes Leben und Treiben herrscht. Hier werden, besonders des Morgens, Vieh und Wild, Geflügel und Eier verladen, welche zumeist nach Gebraltar bestimmt sind. Es ist kein Leichtes, sich durch die Menge zu winden; eine Schar bettelnder Marokkaner und Buben heftet sich an unsere Fersen und läßt uns auch dann nicht frei, nachdem wir schon das Boot bestiegen haben. Sie drängen sich ebenfalls hinein, und nur den starken Armen und dem wilden Geschrei unserer Bootsmannschaft gelingt es, die ungebetenen Gäste hinaus zu drängen. Wir stoßen ab; mit raschem Ruderschlage treiben die Männer die Lancha vorwärts. Bald haben wir unsern Dampfer erreicht, und jeder sucht aus dem auf- und abwogenden Boote durch kühnen Sprung die Falltreppe zu erreichen. Doch noch sind wir nicht befreit aus den Händen der Afrikaner; sie stürmen uns die Stiege hinauf nach, weil ihnen der Bakschisch, das Trinkgeld, zu mager ausgefallen scheint, und durch kameradschaftliches Puffen suchen sie eine verbesserte Auflage zu erwirken. Endlich ist dies erledigt; ein neues Geschäft beginnt. Es werden Mützen, Pantoffeln, Dolche, Münzen, Karten, Marken und andere schöne Dinge feilgeboten, alles mit gehörigem "Nachdruck". Nur durch einige Einkäufe können wir die Plagegeister, die wir nicht zitiert, wieder los werden. Jetzt rückt das nächste Boot heran; das gleiche Geschrei und Gelärme, dasselbe Feilschen und Markten. Nicht einmal das Heraufwinden des Ankers vermag die rotbemützten Typen zum Rückzug zu bewegen; erst die Fäuste der Matrosen schaffen Abhilfe, und mehr geschoben als aktiv erreichen sie ihr Boot wieder, nicht ohne noch von unten aus mit marktschreierischem Getue den Rest ihrer Waren anzupreisen.

Wir fahren nach Westen. Rechts haben wir die bergige Südküste von Spanien, von Tarifa weg bis zum Vorgebirge von Trafalgar, wo 1805 der britische Admiral Nelson seinen Heldentod gefunden. Zu unserer Linken zieht sich der Dschebel Kebir hin, der beim Kap Spartel endigt. Hoch über dem Meer befindet sich hier ein Leuchtturm, der einzige in Marokko an seinen 1600 km langen Gestade. Die europäischen Großmächte habenihn 1865 auf Kosten Marokkos erstellt; er wird durch Jahresbeiträge von 10 Staaten unterhalten. Sein Licht leuchtet nachts 45 km weit hinaus ins Meer. Über dem Leuchtturm befindet sich eine Signalstation, welche alle durch die Meerenge laufenden Schiffe meldet, ferner die einzige zweckentsprechend eingerichtete meteorologische Station des Landes. Kap Spartel ist wegen der aussichtsreichen Lage ein beliebter Ausflugs- und Picknicksort für die Europäer in Tanger, von wo aus er etwa 3 Stunden entfernt ist.

Allmählich verschwimmen die Umrisse des Landes; endlich verschwinden sie ganz. Wir sind auf dem offenen Atlantischen Ozean. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht uns bei dem gedanken, daß wir uns zum ersten Mal auf dem weiten weltmeere befinden. Nur Wasser ringsumher; über uns der Himmel, an dem einzelne Wolken ziehen, noch gerötet von der bereits untergegangen Sonne; unter uns die geheimnisvollen Tiefen des Ozeans, die ein so interressantes Leben bergen, aber auch das Grab manches wackeren Seemanns schon geworden sind. Höher schlagen die Wogen am Schiffe empor; am Firnamente tauchen neue bisher unbekannte Sternbilder auf, während andere, die wir bei uns in jeder Nacht zu sehen gewohnt sind, nicht mehr über den Horizont emporkommen. Wir geben uns noch lange dem Genuß der schönen Nacht hin.

Am folgenden Morgen sind wir weit außen im Atlantischen Ozean. Unser Schiff dampft seinen regelmäßigen gang nach SW. Ein Passagier um den anderen erscheint auf Deck, um die frische seeluft voller einzuatmen, und wir haben Gelegenheit, die erst in Tanger eingestiegenen Fahrgäste kennen zu lernen. Vor allem fesselt uns der Anblick eines vornehmen Arabers in prächtiger Kleidung. An dem braunen, kuttenartigen Überwurf, der Dschellaba, findet sich eine Kapuze, die über den beturbanten Kopf gezogen ist. An der Brust ist ein weißes, leines Obergewand sichtbar, unter welchem sich der rosafarbene Kaftan befindet. Das hell bronzefarbige Gesicht zeigt feingeschnittene Linien; aus den Augen schauen gleichzeitig Gutmütigkeit und Selbstbewußtsein hervor. An der Seite hängt eine braunrote Ledertasche mit grüner Stickerei; sie scheint ein unzertrennlicher Begleiter des Mannes zu sein. Wir suchen mit dem interessanten Reisegefährten ein Gespräch anzuknüpfen; doch ist dies mit gewißen Schwierigkeiten verknüpft, da wir nicht arabisch können, er aber weder spanisch noch eine andere europäische Sprache versteht. Not macht erfinderisch; warum nicht Hände und Finger zu Hilfe nehmen, gelegentlich unterstützt durch ein Wort, das marokkanisch nicht viel anders lauten wird wie España, Francia u.a.? Es geht ganz gut, und bald sind wir in einem lebhaften Gespräch begriffen. Wir erfahren, daß das Ziel seiner Reise Casablanca ist; er hat in Tanger einen politisch wichtigen Brief erhalten, den er ins marokkanische Lager zu Rabat, nördlich von Casablanca, bringen soll und den er uns zeigt, ohne ihn indessen aus den Händen zu geben. Er ist in der Politik sehr verfahren; durch die Gebärde des in den Mund Schiebens und Verschlingen kennzeichnet er das Verhältnis Franlreichs zu Marokko. Er kennt auch die Stellen europäischer Mächte untereinander. Er teilt die Meinung aller echter Marokkaner, nach welcher Tanger, der Sitz der Diplomatie, nicht mehr als arabisch zu betrachten sei; er versichert uns, daß die wahren Vaterlandsfreunde sich mehr im Inneren aufhalten. Unser Freund hat zu Hause drei Frauen, woraus wir schließen, daß wir es mit einem sehr vornehmen Marokkaner zu tun haben; denn nur ein solcher Mann kann sich den Luxus eines harems gestatten. Der Sultan Abdel Asis leistete hierin das Beispiellose; doch wurde sein Harem im vorletzten Jahre von 200 auf 50 reduziert. An seinen Kindern scheint unser Reisegefährte eine große Freunde zu haben. Wir kommen auf die Ledertasche zu reden. Das Klimpern beim Schütteln zeigt an, daß sie seine Geldkatze ist, und es gelingt uns, einige marokkanische Silberlinge gegen spanische einzutauschen. Ferner ist er so freundlich, uns auf einigen Karten Proben seiner Schreibkunst abzulegen. Wir sehen dabei, daß die Marokkaner, wie alle islamitischen Völker von rechts nach links schreiben, und mußten sowohl die Gewandheit, mit der er schrieb, als auch die Schönheit seiner Schriftzüge bewundern.

Von den übrigen neuen Passagieren interessierten uns besonders zwei marokkanische Juden im Zwischendeck, die eine junge kranke Frau mit großer Liebe hegten und pflegten. Der ältere der Beiden war eine stattliche, überaus ehrwürdige Patriarchengestalt mit einem prachtvollen Charakterkopf: scharf gebogene Nase, dunkle, üppige Augenbrauen, ein starker schwärzlicher Bart. Über seinem hellen Untergewand trug er einen schwarzen Überwurf, das Kennzeiche der Juden in ganz Marokko; er ging auch in schwarzen Babuschen, Pontoffeln, einher. Da er als Kaufmann fließend spanisch sprach, konnten wir uns in ein Gespräch einlassen. Er teilte mit, daß er mit den Seinen nach Casablanca reise, wo wie in allen marokkanischen Städten eine bedeutende Judengemeinde sei. - Die Juden sind überhaupt in ganz Marokko ein sehr wichtiges Volkselement, schon von alten Zeiten her. Als die Araber das Land im 7. Jahrhundert eroberten, waren schon zahlreiche Israeliten ansässig. Zur Zeit der Judenverfolgung in Spanien wanderte von dort her eine große Zahl ein, so daß man heute noch zwischen Eingeborenen und spanischen Juden unterscheidet, die sich nach Aubin, einem der besten Kenner des Landes, durch Verschiedenheit des Ritus auszeichenen sollen und besondere Synagogen besitzen. Die historische Entwicklung der Dinge hat es mit sich gebracht, daß sie unter dem besonderen schutze des sultans stehen, dafür allerdings gewiße Verpflichtungen, wie Zahlen von Steuern, haben. In größeren Ortschaften wohnen die Juden in besonderen Quartieren zusammen, Mellah genannt (schmutziger Ort); in Tanger allein leben etwa 10000, in Casablanca 5000, in Fes 8000. Im allgemeinen ist die jüdische Bevölkerung sehr ärmlich; nur in den Handelsstädten ist es einzelnen Familien gelungen, sicch aus dem elend des mellahs zu erheben und Reichtum, ja bedeutende Macht zu erlangen [ Siehe hierüber wie über die Sitten und Gebräuche in Marokko überhaupt die beiden sehr zu empfehlenden Bücher von Grethe Auer , “Marokkanische Erzählungen" und “Marokkanische Sittenschilderungen" (Bern, A. Francke).]. Jeder Stammeskaid (Häuptling) hat in der nächsten stadt einen Juden, den er seine Geldkatze nennt. Die Judenviertel werden öfters Von Epidemien, wie Blattern, Typhus, Malaria, Haut- und augenkrankheiten heimgesucht. Eine Unsitte ist das trinken von Mahia, eines Branntweines, der aus Feigen, Datteln und anderen Früchten hergestellt wird und einen Hauptreiz des Lebens bildet. -

Gegen Mittag kommt die Küste wieder in Sicht. Langsam fahren wir auf dieselbe zu. Die Hügel, welche das Gestade begleiten, werden immer deutlicher sichtbar, ebenso die Umrisse einer breit angelegten Stadt mit weißen Häusern und schlanken Türmen, vor welcher zwei Panzerschiffe liegen. Casablanca! Noch vor weingen Monaten war dieser Name wenig bekannt, seit einigen Wochen kehrt er in jeder Zeitung wieder und ist in aller Mund. Die Franzosen hatten die Stadt belagert, beschossen und teilweise zerstört; von hier aus gedachten sie ihre weiteren Operationen vorzunehmen. Wir sehne denn auch bald, abgesehen von den Kreuzern, daß wir in einer kriegerischen Gegend sind. Links von der Stadt, gegen den Hügel hin, wo von alters her eine dunkle, halbverfallene maurische Festung thront, können wir ein Dorf aus Holzbaracken erkennen, in welchem man mit einem Fernglas ein bewegtes Leben beobachtet: das Kriegslager der Franzosen. Eben steigt ein gewaltiger Ballon langsam in die Höhe und schwebt eine Zeitlang über dem Lager, dann über der Stadt. Auf der anderen Seite der ortschaft sehen wir ein Stangengerüst; es ist die Station für die Drahtlose Telegraphie, von welcher aus man direkt mit derjenigen auf dem Eiffelturm in Paris verkehrt. Mit Spannung erwarten wir den Augenblick, wo wir ausbooten können, um die berühmte Stadt zu besuchen. Doch wir werden bitter enttäuscht. Gewaltige Wogen kommen vom Ozean her und rollen ans Land, wild aufbäumend an dem felsigen Gestade und den ganzen Küstensaum in eine weiße schäumende Brandung hüllend. Keine Lancha kommt vom Lande um uns abzuholen. Im übrigen meint der Kapitän, es würde dies nichts nützen, er könnte niemandem die Erlaubnis geben, ans Land zu gehen, nicht einmal den nach Casablanca bestimmten Passagieren; er sei verantwortlich für das Leben aller Fahrgäste, das er nicht aufs Spiel setzen dürfe. Warten! Warten, und vor uns liegt, unserem Auge erreichbar,die beschossene Stadt, vor uns das Lager der Franzosen. Mit Wehrmut richten wir unsere Blicke auf die Panzerschiffe in der leisen Hoffnung, von ihnen aus die nötige Hilfe zu erhalten. Es wird Abend, und noch hat das Meer in seiner Aufregung nicht nachgelassen. Und wie die Nacht hereinbricht, glänzen darüber zahlreiche Lichter auf. Ein wundervoller Sternenhimmel wölbt sich über uns; hell flimmert der Sirius in seiner Pracht, strahlend zieht Orion seine stille Bahn. Die Plejaden und Hyaden blinken auf uns hernieder, und der Fuhrmann leuchtet hoch am Zenith; treu vereint wandeln die Zwillingsbrüder am Firnament dahin, während eben das Schiff Argo aus den Fluten des Meeres taucht. Die Venus wirft einen zarten Schein auf das Wasser. Die Luft ist milde; in vollen Zügen genießen wir die afrikanische Frühlingsnacht. Erst spät steigen wir in unsere Kabinen herab. Doch haben wir noch lange Gelegenheit, über die schlimmen Erfahrungen des Tages nachzudenken; das Schiff “rollt" ganz bedenklich hin und her und läßt uns lange nicht zur Ruhe kommen. Wenn es nicht Nacht wäre, würden wir an den vertikalen Linien unseres engen Raumes, in dem viere untergebracht sind, , alle möglichen und unmöglichen Neigungen wahrnehmen. Endlich nicken wir ein; ein erneuter stärkerer Stoß wirft uns herum, weckt uns und bringt uns so recht zum Bewußtsein, was “hohle See" bedeutet. -

Der 24. März bricht heran. Glanzvoll erhebt sich die Sonne über dem afrikanischen Kontinent, den östlichen Himmel mit purpurner Glut überziehend. Herrlich blau leuchtet das Firmament über uns. Aber noch rollen die wogen an unser Schiff heran wie gestern; noch brandete das Meer in gleicher heftigkeit an das Gestade; noch will sich kein Boot vom Lande lösen, und die Auskunft, die unser Kapitän gibt, lautet wenig tröstlich. Manch einer gibt seine Ungeduld in kräftigen Worten zu erkennen; aber niemand achtet solcher Zornausbrüche, weder die Besatzung des Dampfers, noch die Bevölkerung von Casablanca, noch das Meer, das in gleich gewaltigem Atem sich hebt und senkt. Der franzöische Postdampfer, der in der Nacht angekommen, vermag nur kurze Zeit unser Interesse in Anspruch zu nehmen. Dafür läßt uns ein anderes Ereignis die tödliche Langeweile des Wartens einen Augenblick vergessen. Der “Kleber", so heißt der französische Panzer in unserer Nähe, schickt uns ein Boot mit etwa 16 Mann Besatzung zu uns herüber. Das Flämmchen der Hoffnung flattert heller empor. Doch umsonst! Der Kommandierende des Bootes meldete uns, daß heute an ein Landen unmöglich zu denken sei; immerhin nimmt er unsere Empfehlung an den französischen Konsul, sowie unsere Briefe und Karten entgegen, um wenigstens diese zu besorgen, falls wir selbst unverrichteter Dinge unsern Anker lichten und weiterfahren müßten, ohne die Stadt besucht zu haben. Dann stößt das Boot wieder ab; mit taktmäßigem Ruderschlage gleitet es dahin, bald hinter einem Wellenberg vollständig verschwindend, bald hoch auf der Kante eines solchen schwebend. Unsere Blicke verfolgen die Braven; erst als alle an den Planken des Kreuzers emporgeklettert sind, kehren wir zu unserer Beschäftigung zurück, die bei den einen in Schimpfen und Zetern, bei anderen in Lesen und Schreiben oder süßem Nichtstun besteht. Von Zeit zu Zeit aber schweifen die Blicke wieder hinüber nach Casablanca, der weißen Stadt, welche in den letzten Monaten so sehr im Vordergrund europäischen Interesse gestanden hat. Wir haben genügend Zeit, uns über das Warum Rechenschaft abzulegen.

Von jeher haben die Marokkaner mit europäischen Ländern Krieg geführt, bald mit, meist ohne Erfolg. In früheren Jahrhunderten waren dies besonders Portugal oder Spanien; von 1820 bis 1860 Österreich, Frankreich und Spanien. 1880 fand in Madrid eine Marokkokonferenz statt, an der sich die Mehrzahl der europäischen Mächte beteiligte und die vor allem die Schutzrechte der in Marokko lebenden Europäer und der von ihnen eingestellten Einheimischen regelte. Dieses internationale Übereinkommen erregte in der Bevölkerung des Landes große Verstimmung. 1893 brach ein neuer Krieg mit Spanien aus, zu dessen Beteiligung Marokko wie gewöhnlich tüchtig zahlen mußte. Auch kleinere den Mächtevertretern gelegentlich zugefügte Beleidigungen wurden immer wieder mit unverhältnismäßig großen Geldsummen wieder gutgemacht, die der Bevölkerung derjenigen Landschaft, wo das Unrecht geschehen war, durch die marokkanischen Behörden ausgepreßt wurden. Dies geschah meist auf einfachste Weise: die betreffende Ortschaft wurde überfallen, geplündert und derjenige, der nicht zahlen wollte niedergemacht.

1894 starb der Sultan Mulei Hassan, dessen Regierungszeit durch zahlreiche prunkvolle Gesandtschaftsreisen an die europäischen Hauptstädte ausgezeichnet gewesen war, und als Nachfolger hatte er nicht einen seiner älteren Söhne, sondern den 16jährigen Abdulasis bestimmt. Dieser erwies sich, zum Schrecken der konservativen Beamten und Geistlichen, als ein europafreundlicher, allerdings auch regierungsunfähiger Herrscher; es sammelten sich an seinem Hofe zahlreiche Franzosen und Engländer, manche darunter mit fragwürdiger Geschichte. Die Schlößer des Sultans füllten sich mit Billards, Automobilen, Zweirädern, Droschken, photographischen Apparaten, Kinematographen, Ballons, Maschinen für drahtlose Telegraphie usw.; dafür leerten sich die Schatzkammern mit bedenklicher Geschwindigkeit. Der allgemeine Steuerdruck und die Willkür der Beamten wurden unerträglicher. Die unvermittelt eingeführten Reformenwaren nach Meinung der Geistlichen dem Koran zuwider. Dazu kamen neue Verwicklungen mit dem Auslande. Zahlreiche Heilige geißelten die Sittenlosigkeit des Hofes und schrieben den Niedergang aller islamitischen Sitten und Gebräuche den Europäern zu. So ist es zu begreifen, daß da und dort Unruhen ausbrachen und es allfälligen Kronprätendenten ( deren es in Marokko übrigens immer gab ) ein Leichtes war, bei der Unbeliebtheit des bedenklich in den Geruch der Unheiligkeit gelangten Sultans sich einen größeren Anhang zu verschaffen. Zu ihnen gehört Bu Hamara, der im Jahre 1902 im Norden zum ersten Mal vvon sich Reden machte, ferner Raisuli, welcher 1904 einen amerikanischen Staatsangehörigen entführte und deshalb einen Konflikt mit den Vereinigten Staaten heraufbeschwor. Ein Vertrag, welchen Marokko im April 1904 mit Frankreich und England schloß, öffnete einer friedlichen Infiltration Frankreichs die Tore. Die übrigen Signaturmächte von 1880 glaubten sich durch diesen Sondervertrag geschmälert; da die Unruhen im Inneren des Landes wuchsen und sich der Sultan denselben gegenüber vollständig machtlos erwies, beschloß man den Zusammentritt zu einer neuen Konferenz, welche vom 16. Januar bis 7. April 1906 in Algeciras stattfand. Außer den Balkanländern und Norwegen waren alle europäischen Staaten sowie die Union vertreten. Neben Finanzfragen und einem Reglement zur Überwachung und Verhinderung des Waffenschmuggels wurde insbesondere geornet di Organisation der Polizei im Küstengebiet; einzelne Häfen sollten spanische, andere französische, einige, so Tanger und casablanca, beiderlei Instruktoren erhalten. Als Generalinspektor sollte ein Schweizer Offizier bestimmt werden [ Es ist bekannt, daß der Bundesrat Oberst Armin Müller dafür bestimmte.]. Das Protokoll der Konferenz wurde am 18. Juni 1906 vom Sultan unterzeichnet, was die Bevölkerung von Marokko sehr übel aufnahm. Die Unruhen wuchsen wieder mehr. In Marrakesch, der südlichen Hauptstadt des landes, wurde ein französischer Arzt getötet; in Casablanca ermordeten die Marokkaner im August 1907 einige italienische und spanische Hafenarbeiter. Frankreich wollte diesen Gewaltakt rächen. Sofort wurde die stadt durch Kriegsschiffe belagert, bombardiert und teilweise zerstört. Solche Vorgänge wirkten auf die Bewohner der Stadt sehr aufregend, und die Unfähigkeit von Abdulasis, derartiger Situation meister zu werden, führte den inzwischen aufgetretenen Kronprätendenten, seinen älteren Bruder Mulei Hafid und Mulei Mohammed, zahlreiche Anhänger zu. Der Krieg war im Gange. Die Franzosen bemächtigten sich Casablancas und errichteten dort ein umfangreiches Kriegslager; ihr Plan war, die Provinz Schauja zu unterjochen, um dann durch Aufstellen einer Lokalbehörde die Ordnung aufrecht erhalten zu können. Allerdings konnte diese Programm erst dann zur Ausführung gelangen, als sie mit genügendem Kriegsmaterial versehen waren, also im Januar 1908. Von nun an ddurchzogen ihre Kolonnen das Land und bedrängten da, bald dort den Feind, dessen Widerstand immer mehr erlahmte. In der ersten Hälfte des März fanden die letzten entscheidendenKämpfe statt, welche die Pacifizierung der Küstengegend herbeiführten [Jetzt, Ende 1909, redet man weniger mehr von dem französisch-marokkanischen, als dem spanisch-marokkanischen Kriege. Spanische Unternehmer haben mit dem Gold dder Jesuiten Bu Hamara Erzlager abgekauft, deren Abbau mittelst einer Bahn von Melilla aus durch marokkanisches Gebiet ermöglicht werden sollte. Die Rifbewohner, die sich das nicht gefallen lassen wollten, töteten einige spanische Aufseher; sie wurden von General Marina mit einer Strafexpedition heimgesucht. Voll Wut darüber stürzten sich die Eingeborenen, durch die französischen Umtreibe sonst schon erregt, auf die spanischen Truppen und zwangen so Marina, eilig von Madrid her Verstärkung zu erbitten. So entstand der spanisch-marokkanische Konflikt.] -. Wir zählen den 24. Dort liegt die beschossene Stadt; dort dehnt sich das weite Kriegslager der Franzosen aus, zu dessen Besichtigung wir den Erlaubnisschein in der Tasche haben. Was nützt er uns wenn wir nicht landen können? Und heute ist, wie uns schon des vormittags angekündigt worden, daran nicht mehr zu denken. Wir begeben uns zum zweitenmal zur Ruhe, ohne unseren Fuß auf den afrikanischen Boden gesetzt zu haben.

Am 25. März sind wir alle früh auf Deck. Die Andeutung des Befehlshabers, daß wir, wenn heute keine Landung möglich wäre, den Kurs fortsetzen müßten, klingt nicht sehr angenehm. Ängstlich blicken wir nach Westen über den Ozean hin, um zu sehen, ob nicht endlich die Wellen, die von dorther kommen, in ihrer Heftigkeit nachlassen wollen; erwartungsvoll schauen wir hinüber zu der ersehnten Stadt. Im Lager geht irgendetwas bedeutsames vor, dor herrscht ein lebhaftes Treiben. Bald sehen wir, wie eine lange dunkle Kolonne das Barackendorf verläßt und sich landeinwärts wendet. Erst später haben wir erfahren, daß der General d'Amade an diesem Morgen aufgebrochen, um seine kriegerischen Operationen ins Innere des landes zu verlegen.

Will sich der Ozean unserer noch nicht erbarmen? Uns scheinen zwar die Wogen viel niedriger geworden zu sein; aber noch immer lehnt der Kapitän jede Verantwortung für ein Verlassen des Schiffes ab. Enttäuschte Gesichter, vernichtende Blicke, heimliche Verwünschungen, kraftvolle Worte sind der Dank für die Pflichttreue des biedern Mannes. Wir harren weitere zwei Stunden. Endlich! Aus seinem Munde ertönt das erlösende Wort. Schon sind wir alle zum Ausbooten bereit; schon nähern sich auch einige Schiffe mit Marokkanern. Ohne weiteres Zaudern steigen wir ein und stoßen ab. Doch ist die Sache schwieriger als wir gedacht; die Männer müssen all ihre Kraft aufbieten, um uns unversehrt durch den Wogenschwall hindurchzubringen. Bald schauen wir von hohem Wellenkamm auf das meer und die Stadt; im nächsten Augenblicke gleiten wir in ein Wellental hinab, und Dampfer und Boote sin unseren Blicken entschwunden. Je näher das Land , umso gefährlicher. Die Wellen überschlagen sich und drohen, uns zu überwerfen; hoch schießen die Wogen an den Felsen, auf welchen der Ort erbaut ist, empor. Es bedarf der Kunst erprobter Ruderer, uns heil ans Ufer zu bringen. Die zahlreichen schwärzlichen Klippen verhindern ein vollständiges Auffahren auf den Strand; aber ein Haufe kurzbehoster Marokkaner empfängt uns draußen im Wasser, und auf ihren kräftigen Armen werden wir ans Land getragen. Sofort machen wir uns auf, die Stadt kennen zu lernen.

Casablanca, arabisch Dar el beida, das weiße Dorf, fällt in der Tat, wie wir zur Genüge wissen, schon von weitem durch seine weißen Häuser und hohen Türme auf, welche Eigenschaft es übrigens mit anderen marokkanischen Städten teilt. 1755 wurde es durch das Erdbeben von Lissabon zerstört und aufgegeben. Im 19. Jahrhundert aber hat sich der Ort wieder mächtig entwickelt; vor der Bombardierung zählte er 25000 Einwohner. Bezüglich der Ausfuhr ist er heute die erste Seestadt Marokkos. Wenn die Hafenbauten, welche die Franzosen plniert haben, ausgeführt sein werden, wird er allen andern marokkanischen Küstenstädten bei weitem an Bedeutung übertreffen.

Wie wir die zerfressenen Sandsteinklippen des Landungsplatzes hinter uns haben, gehen wir einer hohen Mauer entlangdurch welche ein Hufeisentor ins Innere der Stadt geleitet. Von den uns sich als Führer aufdrängenden Einheimischen nehmen wir einen mit, damit er uns den Weg zum französischen Konsulat weise. Der Konsul empfängt uns freundlich; ein Sekretär begleitet unsund zeigt uns zunächst die interessantesten Quartiere der Stadt. Ein lebhafter Verkehr herrscht überall; wenn nicht da und dort ein Haus die Spuren der Belagerung tragen würde, so wüßten wir kaum, daß wir in einem tatsächlich so kriegerischen Orte sind. Dasselbe bunte Gemisch von Typen wie in Tanger: helle Araber, braune Berber, schwarzgekleidete Juden, kräftige Neger, wir Europäer mit Kamera oder Notizbuch bewaffnet, dazu rothosige französische Soldaten, alles drängt sich hier durcheinander. Da werden Lebensmittel aller Art feilgeboten: Fleisch, Bohnen, Brot, Früchte, Wurzeln, Mehl, Salz, Zucker, Butter, Honig usw.; schwärzliche Datteln und getrocknete Feigen scheinen sehr beliebt zu sein. Ein brauner Droguist hat Berge von Schmierseife aufgerichtet; die kleinen rötlichen, getrockneten Bättchen in jenen Körben sollen besonders die Marokkanerinnen anlocken, da sie zum Färben der Nägel, Handflächen und Augenbrauen verwendet werden können. Dort sind farbige Tücher in Mengen aufgestapelt, dazu die fertigen Produkte, Dschellabas, Haiks und wie die Kleidungsstücke alle heißen. In einem Laden, der so groß ist, daß der hockende Besitzer von seinem Platze aus alle seine Reichtümer herunterlangen kann, sind Ledertaschen, Pantoffeln, Geldtäschchen, Pulverbeutel zur Schau ausgestellt. In jener Werkstätte sehen wir Schuhflicker damit beschäftigt, aus altem Schuhzeug wieder neues herzustellen. In dunklem Raume stellt ein Juwelier an einfachem Kohlefeuer allerlei Schmuckgegenstände her. In einer offenen Bude, deren Wände mit arabischen Schroftzeichen bedeckt sind, hocken einige Schüler und sprechen ihrem Lehrer eine Koransure eintönig nach. Ein Hausierer drängt uns in handgreiflicher Weise Halsketten, Bänder und andere schöne Dinge auf. Waffenhändler versuchen uns Dolche oder silberverzierte Steinflinten aufzuschwatzen. Vor einem Hause werden auf einem seltsamen, sargähnlichen, irdenen Herde Keffas gebraten. Klößchen aus gehacktem Fleisch, die an einer eisernen Stange aufgespießt sind. In einer schmalen Gasse sehen wir fast ausschließlich Schneider an ihrer Arbeit; Kinder sind beim Einfädeln behilflich. Am Ausgang hockt ein verwahrloster Marokkaner, ohne auf die Vorübergehenden zu achten: ein Geisteskranker.

Indem wir die Gassen und Straßen durchschreiten, gelangen wir zu einem Tor, unter welchem französische Soldaten Wache halten. Auf dem Platze davor treffen wir Militär aus verschiedenen Truppengattungen; wir wissen, daß wir uns dem Lager nähern. Bald haben wir dieses erreicht. Ein hoher Offizier empfängt uns und übergibt uns der Führung eines anderen Würdenträgers, welcher uns als Elsässer mit großer Freude als Nachbar seiner fernen Heimat begrüßt. Zunächst besuchen wir das Observatorium, einen kleineren steinernen Bau, dessen niedere Lokalitäten Diensträume sind, dessen Turm weit über die Umgebung emporragt und eine prächtige Aussicht auf das Lager, die Stadt, die Hügellandschaft´und das Meer gewährt. Wir blicken über zahlreiche Felder hin, die mit Getreide, Erbsen und Cardons bepflanzt sind; diese Einfriedung besteht aus einer mächtigen Pflanze, einem holzigen Doldenblütler. Da und dort ragt aus dem Gebäude eine Dattelpalme hervor, vereinzelte Zwergpalmen wuchern am Boden.

Nunmehr machen wir einen Gang durch das Lager selbst. Es besteht aus zahlreichen Holzbaracken, die auf kurzen Pfeilern aufruhen. Hinter einer derselben erblicken wir in windgeschützter Lage den vollen Ballon, dessen Maqnöver wir vor zwei tagen beobachtet hatten. Infanteristen, Kavalleristen u.a. Soldaten sind mit kleineren Arbeiten beschäftigt. Die einen waschen an einem Bächlein, das durchs Lager fließt, ihre Kleider; andere sitzen in Gruppen und spielen; wieder andere besorgen die Reit- und Zugtiere. Pferde, Maultiere und Kamele vermitteln den Transport der Waren, die ins Lager gebracht werden. Alles in allem scheint uns das Leben gar kein reges zu sein. Hätten wir gestern unseren Besuch ausführen können, so wäre das Bild allerdings ein ganz anderes gewesen: die 3000 Mann, mit denen General d´Amade heute ins Innere aufbrach müßten dasselbe zu einem viel bunteren gestaltet haben. Schade!

Ein Soldat überbringt uns einen Strauß prachtvoller blauer Blumen (Statice), die im Lager selbst gewachsen sind. Das erinnert uns daran, daß wir über unseren kriegerischen Erlebnissen das Studium der Flora nicht vergessen dürfen. Wir planen deshalb einen kleinen Ausflug in die Umgebung der Stadt, um die marokkanische Pflanzenwelt kennen zu lernen. Der uns begleitende Offizier rät uns indessen davon ab, da wir Gefhr laufen könnten, durch räuberische Banden, welche die Gegend unsicher machen, zusammengeschossen zu weden. Auf diese Mitteilung hin erlischt plötzlich das Interesse an der afrikanischen Flora vollständig.

Wir kehren in die Stadt zurück. Um 12 Uhr nehmen wir in einem Offiziershotel das Mittagsessen à la française ein (eine angenehme Abwechslung, nachdem wir 10 Tage lang auf einem spanischen Dampfer zu Gast gewesen!). Nachher werden einige Einkäufe besorgt. Vor einem Cafè trinken wir ein Täßchen afrikanischen Kaffees, schreiben einige Ansichtskarten an unsere Lieben und lassen uns von einem braunen Schlingel für zwei Sous die Schuhe wichsen, ein lang entbehrtes "glänzendes" Vergnügen. Dann begeben wir uns an den Strand. Unsere Lanchas liegen zur Abfahrt bereit, und da sich das Meer inzwischen beruhigt hat, haben wir eine prächtige Fahrt. Die auf dem Schiff Zurückgebliebenen empfangen uns mit gebührender Hochachtung - haben wir doch die Kriegsstadt Casablanca betreten! - und überhäufen uns mit Fragen nach all dem Erlebten.

Leider haben wir uns nur zu pünktlich auf dem Dampfer eingefunden; denn noch ist die Schiffmannschaft mit dem Einladen von Waren beschäftigt, die zumeist nach dem nächsten marokkanischen Hafenorte, Masagan, bestimmt sind. Indessen ist es auch von Interesse, dem regen Treiben im Zwischendeck zuzusehen. Die Araber, welche die Kisten und ballen in Booten herüber gebracht haben, zeigen eine erstaunliche Kraft und Gewandtheit. Bewundernswert ist ihre Sicherheit mit Klettern; behend wie Eichhörnchen klimmen sie, mit der großen Zehe am runden, nur zollbreiten Schiffsgesimms sich stützend und nur eine Hand ein Seil fassend, auf und nieder. Pssierlich ist das kleine Haarbüschelchen anzusehen, das Marabout, das einzelne auf dem Kopfe tragen. Wie da die braunen Marokkaner, die kräftig gebauten Neger, unsere spanischen Matrosen geschäftig durcheinander drängen, haben wir ein Bild vor uns, wie es an Buntheit nichts zu wünschen übrig läßt.

Nachdem das Laden beeindigt ist, wenden wir unsere Aufmerksamkeit den neuen Gästen zu, die sich in unsererAbwesenheit eingefunden haben. Auf dem Deck hat sich, unter einem Rettungsboote gegen allfälligen Regen wohl geborgen, eine ganze arabische Familie niedergelassen, bestehend aus zwei Männern, einer Frau und einem kleinen Kind. Sie haben auf dem Boden einen farbigen orientalischen Teppich ausgebreitet, der als Lagerstätte dient. Sorgfältig hat die Mutter ihr Kind in Tücher gebettet, über beide haben die Männer liebevoll eine Decke gelegt. Die Familie glaubt sich wohl in Casablanca nicht sicher, oder es paßt ihr der französische Schutz nicht; ihr Ziel ist Masagan. Für kleine Aufmerksamkeiten, die dem kleinen erwiesen werden, danken die Eltern mit strahlenden Augen oder warmen Händedruck; einer unserer Teilnehmer erhält sogar ein Amulett, eine 50 Jahre alte Münze, das der Vater unter seinem Kleid hervornestelt. Dasselbe Ziel hat eine arabische Schöne, die in ihrer bunten Tracht auf dem Schiffe eine recht auffallende Erscheinung ist. Besonderes Gefallen haben die Matrosen an ihr, und noch spät abends finden wir sie im Gespräch mit dem Offizier des Dampfers. -

Am 26. März morgens sind wir in Masagan angelangt. Eine große gelbsandige Bai liegt vor uns, eine der wenigen Flachbuchten, welche die Küste Marokkos aufweist. Wiederum beherrscht ein französisches Kriegsschiff, "Isly", die Stadt vom Meere aus. Ob die Marokkaner gerade an diesem Schiff große Freude haben? "Isly" bezeichnet nämlich den Fluß an der Grenze des Landes gegen Algerien, wo ein großes marokkanisches Heer 1844 von den Franzosen gänzlich aufs Haupt geschlagen wurde.

Wir lassen uns trotz der heftigen Brandung ans Land rudern. Wie eine gewaltige Festung erscheint uns die Stadt, der wir uns nähern; ein gewaltiges Minaret entsteigt derselben. Das Landen geht vortrefflich von statten; ein guter Hafen gewährt kleinen Schiffen völligen Schutz. Der Damm, der ihn einschließt ist belagert von beturbanten Arabern, die allem Anschein nach über ihre Zeit frei verfügen können; zunächst der Einfahrt sitzen ergraute Männer mit übereinander geschlagenen Beinen, eine Art Senat, der unsern Einzug mit Ruhe und Würde geschehen läßt. Nach dem Aussteigen schlängeln wir uns durch die uns umringende Menge, und kurz nach durchschreiten des engen Tores gelangen wir auf den Marjt. Während in Tanger sich Afrika und Europa die Hand reichen und Casablanca gegenwärtig vollständig im Zeichen der Franzosen steht, haben wir hier einen völlig afrikanischen Ort vor uns. In dem dichten Gedränge, in dem wir uns befinden, erblicken wir keine Europäer mehr; nur Araber, Berber, Neger und Juden setzen das bunte Gemisch zusammen. Ganze Karawanen von Kamelen lagern auf dem Platze; sie haben die Produkte aus dem Inneren des Landes, besonders Mandel, Nüsse, Wachs und Öl, an die Küsate befördert. masagan ist der Haupthafen von Marrakesch, der Landeshauptstadt. Da wir uns zum letzten Male auf afrikanischem Boden befinden, benützen wir die Gelegenheit, von den uns mit allen möglichen Gegenständen umschwärmende Händler einige Andenken aufzukaufen, vor allem Lederwaren, welche die Marokkaner so zierlich herzustellen verstehen. Der eine hängt sich eine Ledertasche, Schukara, um, wie sie alle Einwohner, besonders auch die Soldaten, bei sich tragen; sie besteht aus feinem roten Maroquin. Ein anderer ermarktet sich Damenpantoffeln aus gelbem Leder, gestickt mit Sammet-, Gold- und Silberfäden. In Farbe und Zeichnung erregen diese Zeichnungen unsere volle Bewunderung. An die kriegerischen Zustände, in denen wir Marokko angetroffen, sollen uns die fußlangen, gekrümmten Dolche, Kummias, erinnern; sie werden an einer farbigen Schnur um die Schultern getragen und weisen oft die kunstvollen Gravierungsarbeiten auf. Ich kaufe ferner eine zierliche, zweiseitige Gitarre, von den Marokkanern Gemmi genannt; der Resonanzboden besteht aus einer Schildkrötenschale, die mit Tierfell überspannt ist. Die Einheimischen schlagen die Seiten mit einem kleinen Hölzchen und erheben dazu ein ziemlich eintöniges Geschrei, für sie Musik. Ein anderes uns angebotenes Musikinstrument besteht aus einem vasenartigen bemalten Tongefäß, das auf einer Seite durch einen Membran verschlossen ist; mit den Fingern wird dBerauschungsmittel abgeben; die Pfeife ist in 2-3 Zügen ausgeraucht. Daß wir uns übrigens im Zeitalter des Postkartensports mit Ansichtskarten und Marken reichlich versehen, braucht nicht besonders betont zu werden.

Das Bewußtsein uns einmal in einer typischen afrikanische Stadt zu befinden, erfüllt uns mit großer Genugtuung. Mit Interesse durchwandern wir die Straßen und Gassen von Dschedida, wie Masagan auf marokkanisch heißt. Sie sind eng und schmutzig, die Häuser zu beiden Seiten niedrig, mit weißem Putz versehen und ohne oder nur mit wenig Fenstern. Die Türe führt zunächst auf einen kurzen Gang, dann in einen innern Hof, auf welchen hinaus sämtliche Zimmer münden, zu ebener Erde sowohl wie im ersten Stock; eine Gallerie führt um den offenen Raum herum. Die Wände sind so ziemlich überall mit dem gleichen Schmuck versehen; dieselben Malereien oder Tonfliesen, dieselben in Gips geprägten Motive. Auch Wandteppiche kommen vor, der Boden ist mit Matten belegt, und die Türen sind mit Vorhägen verschlossen. In einem Magazin finden wir zahlreiche Frauen mit Sortieren von Kichererbsen beschäftigt, einem auch in Spanien verbreiteten Lebensmittel. In einer primitiv eingerichteten Mühle wir Weizen gemahlen; alte Pferde müssen einen Göpel treiben, vermittelst dessen der Mühlstein in Bewegung gesetzt wird. In den Höfen der karawanserein sehen wir Kamele und Maultiere, die abgeladen der bepackt werden.

Um 11 Uhr finden wir uns am Hafen wieder ein, reich beladen mit marokkanischen Erzeugnissen. Doch geraten wir in nicht geringe Aufregung. Als alle schon in den BootenPlatz genommen haben, wird Apell gehalten; einer fehlt. Unruhig haften die Blicke am Eingangstor der Stadt; jeden Augenblick hoffen wir den vermißten erscheinen zu sehen. Umsonst! Einer der unseren macht sich auf, ihn zu suchen, wobei ihm ein brauner Geselle gegen einen kleinen Bakschisch Hilfe leistet. Wir gelangen bis auf den Markt. Hier entdecken wir endlich den Gesuchten, der von einer Bande schreiender Händler derart umringt ist, daß er kaum einen Schritt vorwärts machen kann. Unser Zurufen verschafft ihm etwas Bewegungsfreiheit, und mit lautem Geschrei, diesmal von europäischer Seite aus, wird der verloren geglaubte in unserer Mitte empfangen. Dann stoßen wir ab; wiederum ist der Hafendamm vollgepfropft von Neugierigen, welche unsere Boote mit ihren Blicken verfolgen.

Nach dem Mittagessen suchen wir die hohe See zu gewinnen, um den Kurs nach Süden fortzusetzen. Doch sind wir nochmals gezwungen, uns der Küste zu nähern. Unser Kapitän führt Nachrichten und Provisionen an den spanischen Konsul in Mogador mit sich; unter allen Umständen muß er dieselben an ihren Bestimmungsort bringen. Am 27. März frühe kommt die Küste wieder in Sicht. Wir nähern uns derselben<<, ein echt orientalisches, fesselndes Bild taucht vor uns auf. Die weiße Stadt mit ihren zahlreichen Türmen ist umgeben von einer Mauer mit Bastionen, Zinnen und Erkern; davor aber ist ein schwarzer, zackiger Felsengürtel, der die innere Rede abschließt. Auf der rechts gelegenen Insel liegen alte portugiesische Forts und eine Moschee; an die Stadt leht sich ein langes vielfach durchbrochenes Riff. Eine gewaltige Brandung tobt an diesen Felsen empor und hüllt alles weithin mit einem weißen Saume ein; sie erschwert, wie die Matrosen erzählen, die Einfahrt in den durch die Insel, die einzige an der ganzen Westküste Marokkos, gebildeten natürlichen Hafen. Wenn sich die Wellen treffen, welche zu beiden Seiten in die Bucht hereinrollen, so entsteht ein wildes Durcheinander, welchem kein Anker zu widerstehen vermag. Schiffbrüche sind daher hier keine Seltenheit. Wir begreifen nun, warum der Kapitän keine Lust zeigt zu landen; weit vom Ufer entfernt werfen wir Anker und ein Flaggensignal belehrt die am Lande unser Harrenden, daß sie die für Mogador bestimmten Objekte holen sollen. Bald stößt ein Schiff vom Lande ab; rasch rudern die Insassen an dem französischen Panzerschiff "Desaix" vorbei. Dann nehmen sie die für die Stadt bestimmten Waren sowie unsere letzten afrikanischen Kartengrüße in Empfang.

Mogador liegt auf einer Nehrung, die sich an ihrer Wurzel auf 30 m verschmälert und nur 3 m über den Wasserspiegel emporragt. Das Haff ist sehr flch, beinahe durchschreitbar; zu beiden Seiten der Stadt ziehen sich, wie wir vom Schiffe aus wohl konstatieren können, gelbliche Stranddünen hin. An der Küste erkennen wir die Ruinen eines portugiesischen Schlosses, auf den Hügeln dahinter ist ein weißes Dorf gelegen, auf der spanische Küstenkarte des Kapitäns Pueblo de Derbit geheißen. Hinter derselben steigen in einiger Entfernung die letzten Ausläufer des hohen Atlas empor; sie sind bewaldet.

Es mag von Interesse sein hier einige Bemerkungen über die marokkanischen Küstenverhältnisse einzuschalten. Die ganze Westküste verläuft ziemlich gradlinig und weist weder Buchten noch Inseln auf, welche günstige Reeden schaffen würden. Nur auf kurzen Strecken finden wir Dünen; fast der ganzen Länge nach sind Untiefen und Klippen, an denen sich die von Westen kommenden Wellen des Ozeans brechen. So entsteht ein gewaltiger Brandungsgürtel. Man kann nicht wissen, wenn man Land geht, ob man nach ein paar Stunden an Bord zurückkehren kann. Wochenlang ist oft kein Verkehr mit dem Lande möglich. In Larasch, nördlich von Casablanca, war im Jahr 1904 die Ein- und Ausfuhr an 53 Tagen vollständig unterbrochen, an weiteren 29 sehr gefährlich, im folgenden Jahr an 89 Tagen unmöglich. Daß durch solche Umstände der Verkehr sehr erschwert wird, lehrt folgendes Beispiel: Bei Rabat finden sich große Apfelsinenhaine, die vortreffliche Früchte erzeugen. Da sie fast nichts kosten, kaufte ein deutscher Kaufmann einen reichlichen Vorrat auf, verpackte sie sorgfältig und harrte des Dampfers, der sie nach Hamburg bringen sollte. Es war aber kein Landen möglich. Durch eine Kamelkarawane ließ er nun die Früchte nach dem 2 Tagesreisen südlich gelegenen Casablanca bringen, weil dort etwas bessere Hafenverhältnisse sind. Auch hier war ein Verkehr mit den Dampfern absolut ausgeschlossen, und die Apfelsinen verfaulten. -

Noch andere Faktoren erschwerten die Schiffahrt. Häufig erscheinen an der Küste dichte Nebel ( durch sogen. kaltes Auftriebswasser bewirkt), eine sonst in diesen Breiten seltene Erscheinung. Mit Ausnahme von Kap Spartel weist das ganze Gestade keinen Leuchtturm auf; keine Sturmwarnsignale, Bojen oder sonstige Bezeichnungen des Fahrwassers sichern den Verkehr. Gerade hier täte dies aber not; nicht selten, namentlich im Winter, brechen die Stürme so plötzlich los, daß die Schiffe fortwährend unter Dampf liegen müssen, um jeden Augenblick die hohe See gewinnen zu können; sie würden Gefahr laufen, auf den Starnd geworfen zu werden. Bei den mittelalterlichen Zuständen, in denen Marokko noch steht, kann es nicht wundernehmen, daß auch der Zustand der Häfen ein mißlicher ist. Tanger hat seit 1907 einen Molo, der durch Deutsche gebaut worden ist; er erleichtert das Landes bietet aber keineswegs den Schiffen Schutz. Die Franzosen geben sich begreiflicher Weise Mühe, die Zufahrt in Casablanca zu erleichter; doch scheint das Meer mit den Marokkanern, indem es die angefangenen Bauten oft genug wieder vernichtet.

Ebenso verkehrsfeindlich ist die Nordküste von Marokko, was die lange Absperrung von Europa einigermaßen erklärt. Nicht nur bietet sie keinen natürlichen Schutz, sondern ist überhaupt vom Lande wie vom Meere schwer zugänglich. Die kleinen Buchten, die durch die starke Meeresbrandung entstanden sind, dienten von jeher zahlreichen Seeräubern als sicherer Schlupfwinkel. Die Rifpiraten waren stehts gefürchtet; noch im 19. Jahrhundert entricheteten die europäischen Staaten Marokko Tribut, um vor denselben gesichert zu sein. Ja selbst heute werden sie kleinen Seglern gefährlich, und die von Gibraltar kommenden Schiffe nehmen in möglichsterEntfernung von der Küste gerade Kurs nach Osten. Den Inseln, die ihr vorgelagert sind, kommt keinerlei Bedeutung zu; die Spaniern, denen sie gehören, sind gezwungen, alle Nahrungsmittel, sogar das Trinkwasser, von Europa herüber zu bringen. So kommt es, daß Marokko niemals wichtige Hafenplätze besaß; nur Ceuta und Tanger spielten wegen Beherrschung der Straße von Gibraltar eine gewiße Rolle. -

Um 10 Uhr sind die Angelegenheiten mit Mogador erledigt. Die Barke mit den Marokkanern und den offiziellen Persönlichkeiten stößt ab. Der Anker wird gelichtet; der Dampfer setzt sich in Bewegung. Wir nehmen Kurs nach Westen. Zum ersten Mal werden an allen drei Masten die Segel gehißt; ein günstiger Wind schwellt sie. Die weiße Brandungszone verschwindet hinter der Wölbung der Wasserfläche; die Stadt mit ihren Mauern und Türmen wird unsern Augen entrückt; aber noch immer ist unser Blick nach Osten gerichtet. Mehr und mehr verschwimmen die Umrisse der Höhen in der blauen Ferne; nur wenige Minuten noch, und Afrika ist für uns Erinnerung geworden.
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Marokko ist ein äußerst reiches Land. Die Schuld, daß es trotz seiner Nähe zu Europa sich nicht zu einer bedeutenderen Macht aufzuschwigen vermochte, liegt im Charakter der Bewohner. Wie die meisten heutigen Muhammedaner sind auchdie Marokkaner träge, fahrlässig, gleichgültig, schläfrig. Der Fatalismus ihrer Religionverhindert energische Arbeit und läßt sie im Kampf ums Dasein völlig kalt und regungslos. Zähe hängen sie am Alten und werden nur dann leidenschaftlich, wenn das hereindrängende Neue das gewohnte Alte verdrängen will; sofort wird dann der heilige Krieg (Dschihad) ausgerufen. Doch ist Marokko keinswegs verwüstet; die Fülle seiner Hilfsquellen ist nur unentwickelt. Nach Prof. Marburg, der dreimal das Land bereist und eingehend studiert hat, könnten in dem Land noch Millionen neuer Ansiedler Platz finden. Insbesondere sind die Verhältnisse für den Getreidebau günstig; im Atlasvorland finden sich Felder von mehr als 5 km Länge. Fischer ist überzeugt, daß Marokko eine Kornkammer für Europa werden könnte, zumal Gerste schon von Mitte April an, Weizen anfangs Juni geerntet werden kann. Ebenso wichtig ist die Baumkultur; Oliven, Mandeln, Apfelsinen, Feigen, Datteln sowie die mitteleuropäischen Obstfrüchte gedeihen ausgezeichnet. Mogador hat einmal in einem Jahr für 6 Millionen Mark Mandeln ausgeführt; die Datteln von Tafilelt gelten als die besten der ganzen Welt. Auch die Viehwirtschaft ist eines viel größeren Betriebes fähig; Vieh und Felle werden zwar jetzt schon in bedeutender Menge exportiert. Auf den ausgedehnten Flächen könnten mit Vorteil allerlei Ackerbaumaschinen verwendet werden; so wird Marokko ein dankbares Feld für die Maschinenindustrie sein. Der Verkehr zwischen Küste und dem Inneren des Landes, der bereits sehr umfangreich ist, ruft dem Bau von Autobahnen und der Verwendung von Frachtautomobilen; es ist merkwürdig, daß ein so europanahes Land so lange ohne Schienenstrang bleiben konnte. Im Inneren hat Marokko große Minerallager, die noch des Abbaus harren: Gold, Kupfer, Eisen, Antimon, Erdöl, Kohlen. Der Süden des Staates kann, wie dies früher schon der Fall war, wieder zum Ausfuhrland für die Erzeugnisse des westlichen Sudans und vieler Oasen der Sahara werden. Zu diesen wirtschaftlichen Faktoren kommt aber noch die weltpolitische hinzu. Marokko beherrscht durch seine Lage zwei Ozeane und eine der wichtigsten Meerstraßen der Welt; zwei Kontinente stoßen da zusammen. Aus all dem dürfen wir mit Sicherheit schließen, daß Marokko eine große Zukunft bevorsteht. Mit Recht sagt Fischer: "Derjenige Staat, dem es gelingt, sich dies Land ganz zu eigen zu machen, erlangt daraus einen so gewaltigen Machtzuwachs, daß dies alle anderen Staaten als einen mächtigen Druck empfinden müssen." Daher das Interesse, das Frankreich und Spanien als Nachbarländer an Marokko haben; daher aber auch die Ängstlichkeit, mit welcher die europäischen Staaten und Amerika die Entwicklung der marokkanischen Konflikte überwachen. Möchte es dem Lande vergönnt sein, aus allen Kriegen heraus bald auf diejenige Höhe wirtschaftlicher Entwicklung zu gelangen, die ihm die Natur zugewiesen hat!


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Erstellt am 24. July und am 3. August 2001 von Kurt Stüber und Volker Lauschke.