Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane (1929)

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162 8. Grundsätzliches über Kontinentverschiebungen usw.

beurteilen. Und so haben diese Behauptungen zu einem beschämenden Zustand der Verwirrung geführt, dessen Beseitigung mir eine dringende Pflicht der theoretischen Geophysiker zu sein scheint.

Schon die Urteile so hervorragender Theoretiker wie Lord Kelvin, Rudzki, Schiaparelli sollten doch stutzig machen. Lord Kelvin schreibt [212]: „Wir können nicht nur zulassen, sondern sogar als höchst wahrscheinlich behaupten, daß die Achse größter Trägheit und die Rotationsachse, immer nahe beieinander, in alten Zeiten sehr weit von ihrer gegenwärtigen geographischen Position entfernt gewesen sein können, und daß sie nach und nach um 10, 20, 30, 40 oder mehr Grade gewandert sein können, ohne daß dabei jemals eine wahrnehmbare plötzliche Störung, sei es des Wassers oder des Landes, stattgefunden hat." Und ganz im gleichen Sinne schreibt Rudzki [15]: „Falls die Paläontologen einmal zu der Überzeugung kämen, daß in einer der vergangenen geologischen Epochen die Verteilung klimatischer Zonen auf eine von der gegenwärtigen ganz verschiedene Rotationsachse hinweist, so bliebe den Geophysikern nichts übrig, als dieses Postulat zu akzeptieren."

Etwas eingehender hat Schiaparelli [211] in einer wenig bekannten Schrift die Frage behandelt. Einen Auszug aus seinem Gedankengang hat W. Koppen [200] gegeben. Er behandelt dabei die drei Fälle einer völlig starren Erde, einer völlig flüssigen Erde und drittens einer solchen, die sich bis zu einem gewissen Grenzwert der Kräfte wie starr verhält, bei Überschreitung derselben aber zu fließen beginnt, und findet im Fall 2 und 3 unbegrenzte Achsenverlagerungen möglich.

Aber wie kommt es, daß andere Autoren zu einer so strikten Ablehnung von inneren Achsenverlagerungen gekommen sind? Die einfache Antwort hierauf lautet: weil sie die unrichtige Voraussetzung machen, daß bei diesen Vorgängen der äquatoriale Abplattungswulst der Erde seine Lage unverändert beibehält! Alle Verneinungen der inneren Achsenverlagerung gehen von dieser nicht nur unbegründeten, sondern sicher unzulässigen Voraussetzung aus.

Machen wir diese falsche Voraussetzung, so ist auch ohne Rechnung klar, daß die Hauptträgheitsachse der Erde und damit auch die Rotationsachse ein für allemal festgelegt sind. Der Äquatorradius der Erde ist 21 km länger als der polare. Der äquatoriale Massenwulst stellt daher eine ungeheure Masse dar, die um den Erd-


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen, Bearbeitung und OCR durch Kurt Stüber, Oktober 2003.
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© Kurt Stueber, 2003