Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane (1929)

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20 2. Das Wesen der Verschiebungstheorie.

gruent. Nicht allein der große rechtwinklige Knick, den die brasilianische Küste bei Kap San Roque erfährt, findet sein getreues Negativ in dem afrikanischen Küstenknick bei Kamerun, sondern auch südlich dieser beiden korrespondierenden Punkte entspricht jedem Vorsprung auf brasilianischer Seite eine gleichgeformte Bucht auf afrikanischer, und umgekehrt jeder Bucht auf brasilianischer ein Vorsprung auf afrikanischer Seite. Wie ein Versuch mit dem Zirkel am Globus lehrt, stimmen die Größen genau.

Ebenso hat auch Nordamerika früher neben Europa gelegen und wenigstens von Neufundland bzw. Irland ab nach Norden mit diesem und Grönland eine zusammenhängende Scholle gebildet, die erst im Spättertiär, im Norden sogar erst im Quartär durch eine bei Grönland sich gabelnde Spalte zerriß, worauf die Teilschollen sich voneinander entfernten. Antarktika, Australien und Vorderindien lagen bis zum Beginn der Jurazeit neben Südafrika und bildeten mit diesem und Südamerika ein einziges großes -- wenn auch teilweise von Flachsee bedecktes - Kontinentalgebiet, das im Laufe von Jura, Kreide und Tertiär durch Zerspaltung in Einzelschollen zerfiel, die nach allen Seiten auseinandertrifteten. Unsere in den Abb. 4 und 5 wiedergegebenen drei Erdkarten für das Jung-Karbon, Eozän und Alt-Quartär zeigen diesen Entwicklungsgang. Bei Vorderindien handelt es sich dabei um einen etwas abweichenden Vorgang: Es war ursprünglich durch ein langes, freilich meist von Flachsee bedecktes Schollenstück mit dem asiatischen Kontinent verbunden. Nach der Abtrennung Vorderindiens einerseits von Australien (in der älteren Jurazeit), andererseits von Madagaskar (an der Wende von Kreide und Tertiär) wurde dies lange Verbindungsstück durch fortschreitende Annäherung des heutigen Vorderindiens an Asien immer mehr zusammengefaltet und ruht heute in den gewaltigsten Gebirgsfalten, die unsere Erde trägt, dem Himalaja und den zahlreichen weiteren Faltenzügen Hochasiens.

Auch auf anderen Gebieten tritt die Schollenverschiebung in ursächlicher Verknüpfung mit der Entstehung der Gebirge auf: Bei dem Westwärtswandern der beiden Amerika wurde ihr Vorderrand durch den Stirnwiderstand an dem uralten, tief ausgekühlten und daher widerstrebenden Tiefseeboden des Pazifik zusammengefaltet zu dem riesigen Andengebirge, das sich von Alaska bis Antarktika hinzieht. Auch bei der australischen Scholle, zu der auch das nur durch ein Schelfmeer getrennte Neuguinea zu zählen ist, befindet


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen, Bearbeitung und OCR durch Kurt Stüber, Oktober 2003.
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© Kurt Stueber, 2003