Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane (1929)

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16 2. Das Wesen der Verschiebungstheorie.

auch mit der aus der Verbreitung der Organismen abgeleiteten Lehre von den versunkenen Landbrücken1).

Wir haben mit Absicht im vorangehenden die Einwände gegen die Kontraktionstheorie etwas ausführlicher besprochen. Denn in einem Teile der hier vorgebrachten Gedankengänge wurzelt eine andere, heute namentlich unter den amerikanischen Geologen verbreitete Theorie, welche man als Permanenztheorie bezeichnet. Willis [27] faßte sie in die Formel: „Die großen Tiefseebecken bilden permanente Erscheinungen der Erdoberfläche und haben mit geringen Änderungen ihrer Umrisse schon seit der ersten Sammlung des Wassers an derselben Stelle gelegen, an der sie jetzt liegen." In der Tat waren wir schon oben durch die Flachseenatur der marinen Sedimente auf den heutigen Kontinenten zu dem Schluß gekommen, daß die Kontinentalschollen als solche in der Erdgeschichte permanent gewesen sind. Die aus der Isostasielehre folgende Unmöglichkeit, die heutigen Tiefseeböden als versunkene Zwischenkontinente aufzufassen, ergänzt dies Resultat zu einer allgemeinen Permanenz der Tiefseebecken und der Kontinentalschollen. Und da man auch hier von der selbstverständlich erscheinenden Annahme ausging, daß die Lage der Kontinentalschollen relativ zueinander keine Änderung erfahren habe, so erscheint die Formulierung, die Willis der Permanenzlehre gab, als logischer Schluß aus unseren geo-physikalischen Erfahrungen, freilich unter Nichtachtung der aus der Verbreitung der Organismen abgeleiteten Forderung nach ehemaligen Landverbindungen. Und so haben wir das seltsame Schauspiel, daß über das vorzeitliche Antlitz unserer Erde zwei ganz gegensätzliche Lehren gleichzeitig bestehen, nämlich in Europa

*) Die hier aufgezählten Einwände gegen die Kontraktionstheorie richten sich in erster Linie gegen deren typische ältere Form. In neuester Zeit sind von verschiedenen Seiten, wie Kober [24], Stille [25], Nölcke[26], Jeffreys [102] u. a. Versuche gemacht worden, die Kontraktionstheorie zu modernisieren und teils durch Einschränkungen, teils durch Zusatzhypothesen den gegen sie erhobenen Einwänden auszuweichen. Ahnliches gilt für die von R. T. Chamberlin propagierte Kontraktion, die durch „rearrangement" des Materials im Erdinnern verursacht sein soll als Folge der von diesem Autor angenommenen planetesimalen Entstehung [160]. Wenn auch diesen Versuchen ein gewisses Geschick bei der Verfolgung ihres Zieles nicht abgesprochen werden kann, so kann andererseits doch nicht die Rede davon sein, daß die Einwände wirklich widerlegt und die Theorie in befriedigende Übereinstimmung mit den Erfahrungen, namentlich auf geophysikalischem Gebiet, gebracht worden wäre. Eine eingehende Besprechung dieser Neokontraktionstheorie würde indessen den Rahmen unserer Darstellung überschreiten.


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen, Bearbeitung und OCR durch Kurt Stüber, Oktober 2003.
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© Kurt Stueber, 2003