Oscar Hertwig:
Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus

Vierter Teil.

[ Teil 12 ] [ Index ] [ Teil 14 ]

Vierter Teil

Der politische Darwinismus.

Wie der Darwinismus, auf die Entwicklung der Gesellschaft übertragen, ethisch und sozial, so ist er in Hinsicht auf das Völkerleben auch politisch geworden, zumal in den letzten Jahrzehnten. Was lag auch näher als im Krieg der Völker eine im großen durchgeführte Art des Kampfes ums Dasein zu sehen und durch die von DARWIN verkündeten Naturgesetze nicht nur die Notwendigkeit der Kriege zu begründen, sondern auch ihre Rechtfertigung gegenüber pazifistischen Bestrebungen zu versuchen? Je mehr aber alle Kulturnationen sich so in die Gedankenkreise des Daseinskampfes und der natürlichen Auslese hineinlebten und sich mit ihnen als etwas naturgegebenem vertraut machten und abfanden, wurden diese Ideen selbst mit der Zeit eine Macht im Völkerleben; sie haben in Verbindung mit vielen anderen verwickelten Ursachen sozialer, kommerzieller, politischer und dynastischer Art nicht wenig mit dazu beigetragen, jene eigentümliche, gewitterschwüle Atmosphäre zu schaffen, welche dem gegenwärtigen Weltkrieg vorangegangen ist und durch ihn ihre Entladung erfahren bat, gerade so wie die Lehren der Enzyklopädisten, die Schriften von VOLTAIRE und besonders von ROUSSEAU in Verbindung mit den unerträglich gewordenen sozialen Mißständen die französische Revolution notwendig gemacht und durch sie den Feudalismus zu Grabe getragen haben.

Schon in meinem "Werden der Organismen" (1916, l. c. S. 710) habe ich kurz auf diese Verhältnisse angespielt. Wenn ich hierzu die nähere Ausführung in dem neuen, hierfür geeigneten Zusammenhang folgen lasse, so finde ich mich ganz in Übereinstimmung mit NORMAN ANGELL, der schon mehrere Jahre vor Ausbruch des Krieges das gleiche Thema behandelt hat und dabei sagt (l. c. S. 185): "All die biologischen und sonstigen Argumente zugunsten des Krieges tragen mächtig dazu bei, in Europa eine dem Krieg günstige und der internationalen Verständigung ungünstige Stimmung zu schaffen. Es handelt sich nicht um eine auf irgendein einziges Land beschränkte Gedankenrichtung: dieselbe findet zahlreiche Fürsprecher ebensowohl in England und Amerika wie in Frankreich und Deutschland. Es ist eine europäische Doktrin, die einen Bestandteil des europäischen Geistes bildet, und wie jemand sich ausdrückte, den allgemeinen Charakter der europäischen Kultur mitbestimmt.

NORMAN ANGELL verweist auf Schriften des Admirals MAHAN und des Professor SPENGER WILKINSON und auf ein jetzt öfters erwähntes Buch des amerikanischen Generals HORNER LEA. Das immer wiederkehrende Leitmotiv ist die Anerkennung und Verwertung des Kampfes ums Dasein und der durch ihn bewirkten natürlichen Auslese als eines wissenschaftlich festgestellten, biologischen Naturgesetzes. Aus ihm ergebe sich demnach von selbst, daß auch die Völker in Entstehung, Entfaltung und Tod denselben Gesetzen wie das ganze organische Leben unterworfen sind, dem Gesetz des Kampfes ums Dasein, dem Gesetz der Auslese. Kraft dieses Gesetzes falle der Siegespreis dem militärisch Stärkeren zu, während der Schwache zerdrückt werde. Die Neigung zum Kampf sei ein Ausdruck des völkischen Erhaltungstriebes, der seine Wurzeln in tiefen biologischen Gesetzen habe. Darum seien auch Versuche, Kriege zu verhindern, als eine unkluge Einmischung in das Weltgesetz zu betrachten. Nur die kriegerischen Völker besitzen das Erdreich.

Hieraus ergibt sich noch eine weitere Konsequenz. Denn wie der biologische Darwinismus die allmähliche Verkümmerung einer pflanzlichen und tierischen Art und die Verschlechterung eines Organs durch Panmixie beim Nachlassen der natürlichen Zuchtwahl, wie ferner der soziale Darwinismus eine Entartung der Gesellschaft ohne unerbittliche Ausjätung der Schwachen im Daseinskampf, so predigt ebenso der politische Darwinismus bei Fortfall der Kriege den Niedergang und die Entartung der Völker. Er verstärkt so die schon früher vorhandene Meinung aller derer, die auch ohne Berufung auf biologische Gesetze, aber auf die Erfahrungen der Geschichte gestützt, schon den Krieg als eine Notwendigkeit für den Fortschritt der Völker betrachteten. "Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen" schrieb MOLTKE in einem seiner Briefe, und ähnlich sprach sich 1871 der berühmte französische Theologe RENAN in seiner "Reforme intellectuelle et morale" aus, wo es heißt: "Wenn die Torheit, Nachlässigkeit und Kurzsichtigkeit der Staaten nicht gelegentlich einen Zusammenstoß verursachten, wäre es schwer auszudenken, bis zu welcher Stufe der Verkommenheit die Menschen sinken würden. Der Krieg ist eine der Bedingungen des Fortschritts, die ein Land verhindert einzuschlafen."

Entsprechende Äußerungen, wie sie der Admiral MAHAN, der Professor WILKINSON, HORNER LEA u. a. getan und durch sie einer in England und Amerika verbreiteten Ansicht Ausdruck gegeben haben; lassen sich auch aus der Literatur von manchen anderen Ländern Europas zusammenstellen, und nicht zuletzt auch von Deutschland, wo DARWIN'S Lehre, von HAECKEL und WEISMANN fortgebildet, von Anfang an ihre zweite Heimat gefunden hat. In einer Schrift, "der Krieg als schaffendes Weltprinzip" verehrt CLAUS WAGNER den Kampf als dasjenige Naturgesetz, auf das sich alle Naturgesetze vereinfachen lassen. "Seine Schöpfertat aber liege in der Auslese."

Von ganz besonderem Interesse ist das in den Jahren vor dem Kriegsausbruch erschienene, in sechs Auflagen verbreitete Buch des Generals VON BERNHARDI (1913). Wurde es doch von der Presse der Entente in ihrem Verleumdungsfeldzug gegen Deutschland unter Todschweigen eigener, in genau der gleichen Richtung wirkender Schriftsteller zusammen mit der NIETZSCHE-Literatur als Beweismittel und Stimmungsmache dafür benutzt, daß das militaristische Deutschland der europäische Störenfried sei, der den Krieg schon von langer Hand her beabsichtigt und vorbereitet habe. Und doch steht in BERNHARDI's Buch nichts anderes, als was zur Begründung und Rechtfertigung des Krieges auch von gleichzeitigen Schriftstellern Frankreichs, Englands und Amerikas oft mit denselben Worten gesagt worden ist. In erster Linie ist für BERNHARDI der Krieg "eine biologische Notwendigkeit" gemäß "den großen allgemeinen Gesetzen, die alles Leben beherrschen", wobei er sich auf DARWIN beruft, der im Leben der Pflanzen und Tiere den "Kampf ums Dasein" als die Grundlage aller gesunden Entwicklung entdeckt habe (1913, l. c. S. 11). Diese Erkenntnis "der biologischen Notwendigkeit des Krieges" führt ihn daher von vornherein zu dem Schluß, daß jeder Versuch, ihn aus dem Völkerverkehr auszuschalten, sich als völlig undurchführbar erweisen müßte. Nach der Ansicht von BERNHARDI ist aber der Krieg nicht nur eine biologische Notwendigkeit, sondern auch eine sittliche Forderung und als solche ein unentbehrlicher Faktor der Kultur (l. c. S. 21); er ist "im Gegensatz zum Frieden der größte Machterweiterer und Lebenserwecker, den die Geschichte der Menschheit kennt" (S.22). Daher werden die Bestrebungen einer allgemeinen Friedensliga, die die Abschaffung des Krieges überhaupt zum Zwecke haben, als töricht und unsittlich verurteilt und geradezu als menschenunwürdig gebrandmarkt (S.33). Denn, "mit dem Aufhören des unbeschränkten Wettbewerbes, der schließlich mit den Waffen seinen Austrag sucht, würde sehr bald jeder wirkliche Fortschritt unterbunden, und es würde sich eine sittliche und geistige Versumpfung ergeben, die eine Entartung zur Folge haben müßte".

Hören wir auch noch zum Überfluß die Stimme von einem Vertreter der Heilkunde und der Naturwissenschaft, von R. KOSSMANN (1905). Wie derselbe als Anhänger des sozialen Darwinismus über Züchtungspolitik in der menschlichen Gesellschaft, so hat er in gleicher Weise auch über die Kriege der Völker geurteilt. "Wir sind nicht der Meinung", bemerkt er (l. c. S. 236), "daß ein Zeitalter ewigen Friedens je heranbrechen wird, so lange es noch einen Fortschritt in der Menschheit und damit einen Wettbewerb ungleicher Kräfte gibt". "So gewiß es ein Naturgesetz ist, daß im Staat der minder Treffliche dem Trefflicheren den Platz räumen muß, wenn das Volk gedeihen soll, so gewiß muß auch das minder blühende Volk dem blühenderen weichen, wenn die Menschheit dem Ideal der Vollkommenheit immer näher kommen soll. Ob die Millionen Menschen, die alljährlich ausgemerzt werden müssen, wenn anders nicht die ganze Menschheit zugrunde gehen soll, so oder so erliegen (Krankheit, Elend, Hunger oder Krieg), kommt in seiner Grausamkeit ziemlich auf eins hinaus."

Derartige und andere Aussprüche, die sich leicht in noch größerer Anzahl aus der zeitgenössischen Literatur würden zusammenstellen lassen, beweisen, wie die Lehren DARWIN's vom Kampf ums Dasein und von der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl zu einer Macht im Leben der Kulturvölker geworden sind, die sich auf den verschiedensten Gebieten äußert. Sie sind, wie NORMAN ANGELL in den früher zitierten Sätzen in bezug auf die Kriegsstimmung sich ausdrückt, "eine europäische Doktrin geworden, die einen Bestandteil des europäischen Geistes bildet".

Auch während des Krieges traf man in der Presse, in den Kundgebungen von Staatsoberhäuptern und Ministern, in den zahlreichen Schriften der Kriegsliteratur häufig auf die Redewendung vom "Kampf ums Dasein", in dem sich gegenwärtig der Staat befinde. Der Gebrauch dieses Ausdrucks war gewiß nicht zufällig und nicht gleichbedeutend mit Krieg, sondern ein Zeichen der allgemeinen geistigen Stimmung, von der das moderne Denken der Völker beherrscht wurde.

Man betrachtete den gegenwärtigen Weltkrieg unwillkürlich unter dem Gesichtspunkt der DARWIN'schen Formel und machte ihn dadurch von vornherein zu einem besonders furchtbaren, über Sein und Nichtsein des einzelnen Staates entscheidenden.

Um so dringender tritt in der Not der gegenwärtigen Zeit auch die Forderung zur Abwehr des politischen Darwinismus an uns heran. Denn der Versuch, den Krieg als eine unabänderliche Naturnotwendigkeit aus DARWIN's biologischer Lehre zu erklären, ist von Grund aus verfehlt. Er ist einmal verfehlt, weil schon innerhalb der Biologie die natürliche Zuchtwahl die auf sie gesetzte Hoffnung, das Werden der Organismen ursächlich zu begreifen, nicht erfüllt hat. Er würde aber auch dann verfehlt sein, wenn DARWIN's Lehre den Wert eines Naturgesetzes wirklich besitzen würde. Denn seine Lehre läßt sich auf die politischen Verhältnisse der Menschheit gar nicht anwenden. Der ganze Vergleich ist falsch angestellt und beruht auf unzutreffenden Analogien und auf dem schon mehrfach gerügten Gebrauch von Schlagwörtern, die sich in sehr verschiedener und in ganz anderer Weise anwenden lassen, als es DARWIN zur Erklärung der Entstehung der Arten getan hat. Denn es fehlt von vornherein gleich die Übereinstimmung in dem wichtigsten Punkt, welchen DARWIN zur unerläßlichen Grundlage seiner Hypothese gemacht hat, die übermäßige Vermehrung der Pflanzen und Tiere, welche es notwendig macht, daß nur ein kleiner Teil von ihnen das geschlechtsreife Alter erreichen und sich fortpflanzen kann. Menschliche Staaten, wenn wir sie als eine höhere Art von Organismus bezeichnen wollen, können zwar wachsen, indem sich die in ihnen vereinten Individuen vermehren, wie die Zellen innerhalb eines pflanzlichen und tierischen Körpers, aber sie pflanzen sich nicht wie Lebewesen fort, indem sie fortwährend neue Staaten ihrer Art erzeugen. Für solchen Vorgang würde die Erde ihnen gar nicht den notwendigen Raum zur Verfügung stellen können. Und wenn auch Staaten verfallen und untergehen können, so ist auch dies ein Vorgang, der zu dem natürlichen Tod der Lebewesen keine wirkliche Analogie darbietet. Denn wenn eine Pflanze oder ein Tier stirbt, so sterben auch seine Zellen, aus denen es sich aufbaut; es löst sich vollständig in Stoffe der unbelebten Welt auf. Dagegen mag ein Staat nach einem verlorenen Krieg seine Verfassung und Organisation oder Teile seines Besitzes und Territoriums verlieren, er mag aufgeteilt oder auch ganz unterjocht werden, so bleiben doch seine Bürger, die den lebendigen Inhalt und den Wert eines Staatswesens ausmachen, trotz alledem erhalten und können sich durch Fortpflanzung in der Zukunft, unter Umständen in noch reicherem Maße als ihre ehemaligen Besieger, vermehren und sich ausbreiten. Völker sterben nicht durch verlorene Kriege. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das Judentum. Auch nach der Vernichtung des jüdischen Staates durch die Römer, auch nach der Zerstörung Jerusalems, nach der Vertreibung seiner Bewohner und ihrer Zerstreuung zwischen anderen Völkern hat es sich durch bald zweitausend Jahre in seiner Eigenart erhalten und ist vielleicht durch seine Vermischung mit anderen Volkstypen zu einer größeren Kulturmacht geworden, als wenn es auch heute noch in dem Lande seiner Väter zusammengedrängt wäre. Was DARWIN unter natürlicher Auslese im Kampf ums Dasein als Mittel zur Veränderung und zur Entstehung neuer Arten verstanden hat, hat ganz und gar nichts mit den politischen Veränderungen infolge verlorener oder siegreicher Kriege im Zusammenleben der Völker zu tun. Überhaupt ist die Notwendigkeit des Krieges als Äußerung eines Naturgesetzes biologisch nicht zu beweisen.

Nicht viel besser steht es mit der Berufung auf die Geschichte, oder sagen wir kurz, mit dem historischen Beweis (STEINMETZ 1907, l. c. S. 200-237). Allerdings hat Zank und Streit, so lange die Welt steht, das wichtigste Kapitel der Völkergeschichte gebildet. Auch in der Darstellung der neueren Geschichte nehmen die kriegerischen Verwickelungen der Völker, ihre Rüstungen, die Vorbereitungen und diplomatischen Inszenierungen der Kriege, ihr Ausbruch, ihr Verlauf und ihre vorübergehende Beilegung durch Friedensschlüsse und Staatsverträge einen breiten Spielraum, wenn auch nicht in dem Maße wie in früheren Jahren, ein. Aber daraus folgt noch nicht, daß es immer so sein muß, daß der Krieg, wie von mancher Seite behauptet wird, zum Leben der Völker als ein notwendiges Übel, gleichsam wie der Winter als Kehrseite zum Sommer, hinzugehört. Sind doch die Ursachen und Bedingungen, unter denen im Dasein der Menschheit Kriege zwischen Völkern entstanden sind und noch entstehen, nicht nur außerordentlich zahlreich, sondern auch von sehr verschiedener Art. Auch vom kenntnisreichsten Staatsmann und Völkerpsychologen lassen sie sich kaum übersehen und in ihrer Tragweite richtig abschätzen. Daher hat selbst ein B1SMARCK trotz aller glänzenden Erfolge seiner Politik auf dem Gipfel seines Ruhms den Präventivkrieg, auch wenn er bei günstiger Konstellation Erfolg verspricht, als unmoralisch verurteilt, weil der Krieg an sich ein Übel und als solches solange als möglich zu vermeiden sei, und da niemand beurteilen könne, ob eine in Zukunft drohende Gefahr nicht im Verlauf der Dinge auf ganz andere Weise ihre Erledigung finden werde. Nur dann hat er den Krieg für gerechtfertigt gehalten, wenn auf keinem anderen Wege sich die berechtigten, höchsten Lebensinteressen eines Volkes gegenüber den Widerständen anderer verwirklichen lassen.

Durch seine geschichtlichen Untersuchungen kann der Historiker nur zeigen, wie bei dem Kulturzustand einzelner Perioden, aus der Machtverteilung zwischen einzelnen Völkern, aus ihrer Psychologie, aus ihren berechtigen und unberechtigten Wünschen und Forderungen feindselige Gegensätze entstanden sind und dann oft aus rein zufälligen Anlässen zu einem Krieg geführt haben. Ein solcher stellt sich dann allerdings unter den zurzeit gegebenen Bedingungen als ein notwendiges und unabwendbar gewordenes, historisches Ereignis dar. Da sich aber die Ursachen und Bedingungen, unter denen Kriege notwendig geworden sind, im Leben der Menschheit fortwährend verändern, läßt sich trotz der nachgewiesenen Notwendigkeit des einzelnen Falles doch stets die Hoffnung schöpfen, daß in Zukunft unter anderen Bedingungen, die dem Völkerfrieden günstiger sind, Kriege seltener und vermeidbar, wenn nicht ganz überflüssig werden. Ein solcher Standpunkt leitet seine Berechtigung aus dem Entwicklungsgedanken her. Denn wie Pflanzen und Tiere, die sich aus einfachen Anfängen allmählich zu den kompliziertesten Organismen entwickelt und sich ihrer Umgebung in der wunderbarsten Weise angepaßt haben, befindet sich die Menschheit in einem unaufhaltsamen Entwicklungsprozeß, der unbegrenzte Möglichkeiten in sich birgt. Wie der einzelne Mensch durch Benutzung der Natur seine Lebensbedingungen zu seinem Vorteil verändert und dementsprechend andere Lebensgewohnheiten vom "ungeselligen Wilden" bis zum Bürger eines geordneten Gemeinwesens angenommen hat, so hat sich auch die Menschheit als Ganzes eine immer festere und kompliziertere Organisation in den auf allen Erdteilen entstandenen Gemeinwesen, in den kleineren und größeren Staatengebilden gegeben. Und alle diese Organisationen sind noch in stetem Werden begriffen. Daher werden die Bedingungen, unter denen die Staaten nebeneinander bestehen, im Laufe der Zeiten auch andere als in den uns bekannten Geschichtsperioden werden. Darauf aber läßt sich, trotzdem diese von Kriegen als einem notwendigen Bestandteil des Völkerlebens erfüllt sind, doch die Hoffnung des Pazifismus begründen, daß die Einschränkung und Vermeidung der Kriege nur eine Frage der internationalen Organisation ist und daß schließlich die in Rassen und Staaten gegliederte Menschheit im Laufe ihrer weiteren Entwicklung nach tastenden Vorversuchen zu einem Friedensbund und zu Ausgleichen der zwischen ihnen teils vorhandenen, teils immer wieder neu sich bildenden Gegensätze mit anderen Mitteln als denen kriegerischer Gewalt gelangen wird.

Wer von diesem Leitgedanken beherrscht die Entwicklung der Menschheit betrachtet, kann aus ihr manches herauslesen, was sich zugunsten der pazifistischen Theorie verwerten läßt. Denn ohne Frage ist in den dreitausend Jahren, die wir aus genaueren historischen Überlieferungen kennen, der Kampf aller gegen alle in immer engere Grenzen eingeschränkt worden aus einem sozialen Chaos sind geordnete Zustände und Organisationen erwachsen, die erst engere, dann immer weitere Kreise zu friedlicher Gemeinschaft zusammengefaßt haben.

Es gab Zeiten, wo Familien untereinander ihre Streitigkeiten in blutigen Fehden austrugen. Noch jetzt sehen wir in Ländern mit sehr rückständiger Kultur, daß Blutrache nach Väter Sitte an der Tagesordnung ist. Auf einer höheren Kulturstufe stritten Städte in stets wiederkehrenden Kriegen miteinander um die Vorherrschaft. So wurde die Geschichte der kleinen griechischen Halbinsel im Altertum von den Feindschaften zwischen Athen und Sparta oder die Geschichte Oberitaliens in der Zeit der Renaissance von den Kriegen der großen Städterepubliken Florenz, Venedig, Pisa und Genua beherrscht. Wenn wir auf unsere deutsche Geschichte zurückblicken, so lernen wir, daß noch vor wenigen Jahrhunderten einzelne Rittergeschlechter im Schutz ihrer Burgen mit Städten, die sich mit Wall und Graben, mit Mauern und Wachttürmen zur Sicherheit umgaben, häufig wiederkehrende Fehden führten; wir lernen, daß später, als die Fürstengewalt in den deutschen Kleinstaaten erstarkte, zwar die lokalen Ritter- und Stadtfehden erloschen, aber an ihre Stelle Kämpfe der Kleinstaaten untereinander traten. Nun sind auch diese unmöglich geworden. Nach Gründung des Deutschen Reiches wird wohl kaum eine Zeit wiederkommen, daß Interessengegensätze zwischen Preußen, Bayern, Sachsen usw. mit den Waffen in der Hand ausgefochten werden könnten.

So geht unverkennbar durch die Geschichte der Menschheit die bestimmte Entwicklungstendenz hindurch, daß ursprünglich enger be. grenzte Gesellschaftsgruppen sich zu größeren Verbänden, Kleinstaaten zu Großstaaten, diese wieder zu Staatsverbänden und Weltreichen teils durch Zwang, teils durch Übereinkommen zusammenschließen.

Sehr verschiedenartige Ursachen wirken auf das Zustandekommen solcher neuen, größeren Vereinigungen hin, Gemeinsamkeit von Sprache und Religion, Gemeinsamkeit von kulturellen und wirtschaftlichen Interessen, die zum großen Teil im Boden der Vergangenheit wurzeln, endlich aber auch Notwendigkeiten, die sich aus der Lage und Gliederung der bewohnten Länder, also aus geographischen, meist sehr wichtigen Verhältnissen ergeben. Hand in Hand aber mit der erfolgreichen Bildung größerer staatlicher Verbände, wie sie die Politik bald mit friedlichen, bald mit kriegerischen Mitteln im Völkerleben erreicht, werden auch Organisationen geschaffen, welche Kriege zwischen den ursprünglich getrennten Teilen, wie sie früher aus verschiedenen Anlässen und bei günstigen Gelegenheiten ausbrechen konnten, nicht nur verhindern, sondern zugleich auch eine Schlichtung widerstreitender Interessen durch Verhandlungen nach Recht und Billigkeit möglich machen. Es erweisen sich jetzt infolge der neu geschaffenen Organisationen die einigenden Kräfte stärker als die einander widerstrebenden; gegenüber den allgemeinen, dem Wohl des Ganzen dienenden größeren Interessen, aus denen schließlich ein jeder auch für sich Vorteil zieht, müssen die kleineren, sich bekämpfenden Sonderinteressen zurücktreten. Kleinkriege, wie sie ehemals fast in allen Erdteilen an der Tagesordnung waren, sind heutzutage nur noch in Gegenden möglich, die in der Kultur zurückgeblieben sind mit politisch ungeordneten Verhältnissen, wie sie z. B. der Balkan in Europa darbot und dadurch für dieses eine stets drohende Gefahr als Ausgangspunkt für weiter um sich greifende, kriegerische Verwicklungen bildete.

Wenn in der Geschichte der Menschheit, wie wir zu erkennen glauben, die Tendenz besteht, die verschiedenen Völker je nach ihrer geographischen Lage und nach der Gemeinschaft ihrer Interessen zu Zweckverbänden zusammenzufassen und durch eine internationale Organisation Kriege zwischen ihnen unmöglich zu machen, dann läßt sich auch der Gedankke nicht von der Hand weisen, es werde einst die Zeit kommen, wo die jetzt noch feindlich getrennten Völker Europas sich zum friedlichen Staatenbund zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen zusammenfinden werden. Wenn nicht durch bessere Einsicht und Selbsterkenntnis, werden sie schließlich durch die harte Lehrmeisterin der Not zu einer vorteilhafteren Vereinigung ihrer Kräfte gezwungen werden, damit sie hinter den Vereinigten Staaten Nordamerikas und hinter dem englischen Weltreich in der Entwicklung ihrer Kultur und ihres Wohlstandes nicht zurückbleiben. Die Hoffnung allerdings, die ich in der ersten Auflage (Seite 107) während des Krieges aussprach, daß ein geeintes Mitteleuropa als verheißungsvolle Schöpfung aus dem Wirrnis dieses Weltkrieges hervorgehen werde, hat sich leider nicht erfüllt, und scheint sogar in weitere Ferne als je zuvor gerückt Aber was im Augenblick gescheitert ist. braucht es nicht in alle Ewigkeit zu sein.

Wenn ich in meinen Erwägungen über Verhütung von Kriegen fortfahre, so darf nicht unerwähnt bleiben, daß unter den Bedingungen, durch welche Kriege entstehen, auch die psychologischen Motive in der Seele der Völker sich während der aufeinanderfolgenden Geschichtsepochen sehr wesentlich verändert haben und sich noch weiter verändern werden. In dieser Richtung läßt sich ebenfalls hoffen, daß eine dem Völkerfrieden mehr förderliche Seelenverfassung als in der Vergangenheit und Gegenwart zur Oberherrschaft gelangen wird. Es gab Zeiten, wo gewöhnlich religiöser Fanatismus die Völker zu den Waffen gegeneinander greifen ließ. Unter der Fahne des Propheten breiteten sich die Mohammedaner im heiligen Krieg gegen die Ungläubigen an den Küsten des Mittelmeeres aus. Im Zeichen des Kreuzes einigten sich die gläubigen Ritterscharen Europas und führten, als das Papsttum der erste Machtfaktor im Leben der abendländischen Völker war, ihre Kreuzfahrten zur Befreiung der heiligen Stätten aus. Durch die Reformation erzeugte religiöse Gegensätze wirkten als treibende Kräfte an erster Stelle mit in den Kriegen, die während dreißig Jahren Deutschland verwüsteten und entkräfteten. Jetzt fallen bei dem Ausbruch von Welthändeln religiöse Fragen kaum noch ins Gewicht. Mit der Ausbreitung der Toleranz gegen Andersgläubige hat das religiöse Motiv die Macht verloren, welche ihm einst in so hohem Maße innewohnte, die Völker zu kriegerischen Handlungen gegeneinander zu erregen.

In der Gegenwart macht das Nationalitätsprinzip viel von sich reden. Trotzdem scheint es mir einem ähnlichen Wandel wie das religiöse Motiv entgegenzugehen. Zwar ist es im letzten Jahrhundert ohne Frage von der größten politischen Bedeutung gewesen. Kraft desselben haben sich zwischen den europäischen Mächten Veränderungen vollzogen, die als politische Notwendigkeiten ersten Ranges und als bleibende Grundlagen für den weiteren Kulturfortschritt Europas betrachtet werden müssen, die Vereinigung der deutschen Kleinstaaten zu einem machtvollen deutschen Reich und die nationale Wiedergeburt Italiens. In beiden Fällen hat die Durchführung des Nationalitätenprinzips dem Fortschritt der Menschheit gedient, indem es Teile, die zusammengehören, vereint und durch eine gemeinsame Organisation ihnen den gegenseitigen Frieden in der schon früher erörterten Weise und die wirksame Entfaltung aller geistigen und wirtschaftlichen Kräfte gesichert hat. Überall aber, wo das Nationalitätsprinzip derartigen Zwecken nicht mehr dient, läuft es Gefahr, in selbstsüchtigen, kurzsichtigen Chauvinismus umzuschlagen und in den Händen einer gewissenlosen, in ihrem Fanatismus blinden Irredenta zu einem kulturfeindlichen, politischen Mittel zu werden, um zwischen Staaten einen latenten Kriegszustand zu unterhalten und bei günstiger Gelegenheit einen Krieg anzuzetteln.

Als Beispiele lassen sich hierfür die Erfahrungen der letzten Jahre anführen. Ich erwähne die systematischen Versuche, Deutschland und Österreich nach dem Nationalitätsprinzip in einzelne Bruchstücke zu zerschlagen und so Mitteleuropa in einen Brei politisch und wirtschaftlich ohnmächtiger Kleinstaaten, wie es vorübergehend in traurigen früheren Zeiten war, zurückzuverwandeln. Ich verweise auf Italien und Rumänien, die, wie sie sagen, aus heiligem Egoismus ihren Bündnispflichten untreu wurden, um ihren ehemaligen Bundesgenossen Grenzgebiete zu entreißen, die von einer gemischtsprachigen Bevölkerung bewohnt sind, so daß hier die angebliche Befreiung des einen Teils nur die gewaltsame Unterwerfung des anderen bedeutet.

Fürwahr in dieser Weise aufgefaßt würde das Nationalitätsprinzip nichts anderes als die Verewigung des Krieges selber sein, solange es die Denk- und Handlungsweise der Menschen beherrschen würde. Denn da die einzelnen Staaten sich nicht mit chinesischen Mauern umgeben können, ist eine Vermischung zwischen den verschiedenen Nationalitäten nicht nur unvermeidlich, sondern wird sogar durch die Erleichterung des Verkehrs, durch den im Wachsen begriffenen, internationalen Handel und durch die Gemeinsamkeit künstlerischer und wissenschaftlicher Interessen in der Gegenwart mehr als in früheren Zeiten begünstigt. Im natürlichen Verlauf der Dinge werden sich immer zwischen benachbarten Staaten gemischtsprachige Grenzbezirke bilden. Ihre Bevölkerung wird hin und her fluktuieren und ihre Zusammensetzung bald in dieser, bald in jener Richtung ändern je nach den Bedingungen, die durch die Bevölkerungsspannung beiderseits der Grenzen oder durch Bedürfnisse der Industrie und Landwirtschaft geschaffen werden.

Immer finden sich fast überall kleine, in größere Staaten eingestreute Völkersplitter. Wo gibt es überhaupt einen größerem Einheitsstaat, der, wenn er auf seine in viel hundertjähriger Geschichte entstandene Zusammensetzung untersucht wird, nicht eine Vermischung verschiedener Rassen aufweist? Hier findet das Nationalitätsprinzip als staatenbildender Faktor seine Grenze. Seine Undurchführbarkeit tritt aber in keinem Falle klarer als bei den Vereinigten Staaten von Amerika hervor, deren Bevölkerung durch Einwanderung aus allen Ländern der Welt entstanden, sich aus Angelsachsen, Iren, Germanen, Romanen, Slaven und Juden bunt gemischt zusammensetzt und trotzdem in der Bewältigung gemeinsamer Staatsaufgaben erfolgreich zusammenwirkt. Das ist nur möglich unter dem Zeichen nationaler Toleranz. Aus solchen Erwägungen aber läßt sich die schon oben ausgesprochene Hoffnung rechtfertigen, daß wie das religiöse Motiv, so auch das Nationalitätsprinzip seine Wirksamkeit zur Entfachung von Kriegen im natürlichen Verlauf der Entwicklung zwischen ethnologisch verwandten Völkern allmählich bei besserer Einsicht verlieren und gegenseitiger Toleranz auf der Grundlage internationaler und innerstaatlicher Organisation zur Aufrechterhaltung eines friedlichen Wettbewerbs wird weichen müssen.

Unter den Ursachen von Kriegen hört man in unserer Zeit häufig die Gegensätze nennen, welche zwischen einzelnen Staaten durch die scharfe Konkurrenz ihrer Industrien und ihres Handels und durch den Wettbewerb um die Absatzmärkte in überseeischen Ländern hervorgerufen werden. Das Verlangen nach größerem Reichtum und nach ausgedehnterer Macht, die Reichtum schafft, ist eine der kräftigsten Triebfedern der in unserem Jahrhundert sich überall regenden imperialistischen Tendenzen. Die sich überstürzenden Errungenschaften der theoretischen und der technisch angewandten Naturwissenschaften, der durch sie geschaffene gesteigerte Verkehr und Reichtum haben unter den Völkern eine geistige und sittliche Atmosphäre geschaffen, in welcher die materiellen Interessen an die erste Stelle gerückt sind. Nicht ganz mit Unrecht wird häufig der Großkapitalismus als der einflußreichste Feind des Weltfriedens angeklagt, weil ihm als verlockender Siegespreis entweder die Vernichtung eines lästigen Konkurrenten in Handel und Industrie oder die Besitzergreifung und Monopolstellung in einer reichen Kolonie und in einem wirtschaftlich rückständigen, in eigene Verwaltung genommenen Lande vor Augen schwebt. Bezeichnend für diese und ähnliche Gedankengänge ist ein Ausspruch, welchen NORMAN ANGELL aus einer führenden englischen Zeitschrift mitteilt: "Wenn Deutschland morgen vernichtet wäre, würde es übermorgen keinen Engländer geben, der nicht reicher geworden wäre. Nationen haben jahrelang um den Besitz einer Stadt oder um die Erbfolge gefochten. Müssen sie nicht auch fechten, um einen Handel von 250 Millionen Pfund jährlich zu gewinnen?" (l. c. S. 78).

Schon durch NORMAN ANGELL hat diese Frage in seiner noch vor Ausbruch des Krieges geschriebenen, lesenswerten Schrift: "Die falsche Rechnung" eine zutreffende Antwort erhalten; sie muß aber auch vom Standpunkt biologischer Wissenschaft aus als verfehlt zurückgewiesen werden. Das Gesetz der Arbeitsteilung und Differenzierung, das bei allen Gestaltungsvorgängen in der Organismenwelt die von mir oft beschriebene große Rolle spielt, wird sich im Laufe der Menschheitsentwicklung auch in den Beziehungen der Staaten untereinander immer mehr zur Geltung bringen. Es wird, wie es die einzelnen Bürger im Staat zu einer geordneten Friedensgesellschaft zusammengeführt hat, auch immer engere und schwerer zu lösende internationale Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten im Laufe der Geschichte knüpfen, so daß einer dem anderen zur Ergänzung dient und keiner ohne Schaden für das Kulturwerk, das die Menschheit als Ganzes zur Beherrschung der Erde aufrichtet, entbehrt werden kann. Der internationale Verkehr, der durch Wissenschaft und Technik gefördert, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt unaufhaltsam immer größere Dimensionen annimmt, ferner die Verschiedenheit der Erdteile an Bodenschätzen und Naturprodukten, auf deren Gewinnung und Austausch die Völker für ihr Kulturleben angewiesen sind, endlich die Ungleichheit der Produktionsbedingungen, die von der organisatorischen und geistigen Begabung der Werkleiter, wie nicht minder von der manuellen Geschicklichkeit und Bildung der arbeitenden Klassen, von ihrem Fleiß, ihrer Disziplin und Genügsamkeit in den einzelnen Ländern abhängt, sind Faktoren, auf denen sich langsam aber unaufhaltsam eine geordnete Weltwirtschaft aufbauen wird. "Wenn aber jeder der Beteiligten aus dem gegenseitigen Verkehr und der internationalen Arbeitsteilung seinen Vorteil zieht, dann ist es eine verkehrte Auffassung, daß das Interesse verlange, die Industrie der anderen Nation zu vernichten" (l. c. S. 167). So erhebt sich neben dem Nationalitätsprinzip als gleichberechtigte und ergänzende Macht das internationale Prinzip der Humanität mit seinen internationalen Interessen in Wissenschaft und Kunst, in Finanz und Handel.

Gedanken, die von Schriftstellern der Nationalökonomie, der

Industrie und Finanz schon öfters ausgesprochen worden sind, benutzt NORMAN ANGELL als wirksames Argument für seinen pazifistischen Standpunkt, wenn er sagt: "Die über die Landesgrenzen hinwegschreitende, vitale gegenseitige Abhängigkeit der Kulturnationen ist in weitem Maße das Werk der letzten 40 Jahre. Während dieses Zeitraumes ist sie soweit gediehen, um die Weltplätze durch die verwickeltesten und engsten Bande zu verknüpfen, so daß eine Störung auf dem Geldmarkt von New York eine Störung von Kredit und Handel in London nach sich zieht und in ernsteren Fällen sogar Londoner Bankiers zwingt, mit denen von New York zusammen zu arbeiten um der Krise ein Ende zu setzen, und zwar nicht aus Nächstenliebe, sondern aus geschäftlichem Selbstinteresse. Diese wahrscheinliche Abhängigkeit ist die Folge des täglichen Gebrauchs von Kultureinrichtungen, die erst von gestern datieren" (l. c. S. 67).

Wie überall im Reich der Lebewesen, muß auch zwischen den einzelnen Nationen eine zunehmende Arbeitsteilung zu einer entsprechend gesteigerten Integration führen. Die sich ergänzenden Staaten müssen schließlich zu abhängigen Gliedern im Dienste der organisierten Menschheit werden in demselben Maße, als diese sich in Zukunft immer besser international organisiert und sich dadurch gleichsam in einen übergeordneten Organismus höheren Grades umwandelt. Dieser Zustand bewirkt, wie NORMAN ANGELL mit vollem Recht hervorhebt (l. c. S. 179), "die Zurückdrängung des Faktors der physischen Gewalt in den internationalen Beziehungen. Dadurch wird notwendigerweise nicht nur die Bedeutung der politischen Machtausübung geschwächt, sondern auch infolge der mannigfachen Verschlingungen der Arbeitsteilung die Tendenz geschaffen, ein solidarisches Zusammenarbeiten von Gruppen hüben und drüben zustande zu bringen, welches über die politischen Landesgrenzen hinwegschreitet, so daß die politischen Scheidelinien nicht mehr mit den wirtschaftlichen zusammenfallen."

Vom Standpunkt des Geschäfts betrachtet, muß der moderne Krieg durch die Zerstörungen, die er anrichtet, und durch die ungeheuren Kosten, die er allen beteiligten und selbst neutralen Staaten auferlegt, schließlich auch die Anbeter des goldenen Kalbes und die egoistischen Kriegshetzer aus materiellen Interessen zur Erkenntnis bringen, daß der aus ihm auch im Fall des Sieges zu erwartende Gewinn an Reichtum ein illusorischer ist, daß er die Kosten nicht lohnt und daher wie NORMAN ANGELL nachweist, "auf einer falschen Rechnung" beruht.

Vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet kann unter diesen Umständen der Krieg selbst als ein Mittel der Natur, um auf einen dauerhafteren Frieden im Entwicklungsprozeß der Menschheit hinzuwirken, angesehen werden. Er ist, was GOETHE den Mephisto von sich sagen läßt, "ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse und stets das Gute schaft". Denn durch die Not und die Zerstörung, welche der Krieg in seinem Gefolge hat, zwingt er schließlich mit unfehlbarer Sicherheit die unter ihm leidenden Menschen sich auf den neuen Grundlagen eines Friedensschlusses miteinander zu vertragen und in einer Ordnung, die den neu geschaffenen und als Ergebnis anerkannten Verhältnissen besser angepaßt ist, wieder vereinigen.

In geistreicher Weise hat KANT diesen Gedanken in seinen zwei das Friedensproblem behandelnden Schriften näher ausgeführt, in seiner "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) und in seiner Schrift "zum ewigen Frieden" (1795. Er läßt die "große Künstlerin Natur", aus deren mechanischem Verlauf sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, die Gewähr des Friedens bieten, indem sie durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen läßt (l. c. 1795, S. 427). Dies gilt sowohl für die Vereinigung der Menschen zu einem Staat als auch für die Vereinigung einander widerstrebender Staaten zu einem allgemeinen Staatenbund zur Wahrung des internationalen Friedens. Zur Vereinigung widerstreitender Menschen zu einem Staat - führt KANT des Näheren aus - kommt es nur auf eine gute Organisation des Staates an, um die Kräfte selbstsüchtiger Menschen "so gegeneinander zu richten, daß eine die anderen in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält oder diese aufhebt, so daß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenngleich nicht ein moralisch guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird. Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegenstreben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg ebenderselbe ist, als ob sie keine solchen bösen Gesinnungen hätten. Ein solches Problem muß auflöslich sein. Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanismus der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen" (1795, l. c. S. 433)

Wie auf das Verhältnis der einzelnen Menschen hat KANT denselben Gesichtspunkt auch auf das Verhältnis der Staaten zueinander angewandt. Auch hier hat die Natur die Unverträglichkeit der Staaten "wieder als Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen Antagonismus derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden, d. h. sie treibt durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Not, die dadurch endlich ein jeder Staat, selbst mitten im Frieden, innerlich fühlen muß, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger, innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosem Zustand der Wilden hinauszugehen und in einen Völkerbund zu treten, wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht oder eigener rechtlicher Beurteilung, sondern allein von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigtens Willens erwarten könnte." "Alle Kriege" betrachtet daher KANT, "als Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zustande zu bringen und durch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung aller, neue Körper zu bilden, die sich aber wieder, entweder in sich selbst oder nebeneinander, nicht erhalten können und daher neue ähnliche Revolutionen erleiden müssen, bis endlich einmal, teils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, teils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich, ein Zustand errichtet wird, der einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann" (1784, l. c. S. 150, 151).

Die Idee des Völkerbundes zur Erreichung eines internationalen, dauerhaften Friedens hat schon oft Philosophen, Schriftsteller und Staatsmänner beschäftigt. Seit dem Tage, wo der Abbé Saint Pierre seinen Extrait du projet de paix perpétuelle verfaßt und ROUSSEAU einen Kommentar zu demselben geschrieben hat, ist die Idee des ewigen Friedens immer wieder aufs neue von diesem und jenem Gesichtspunkt aus erörtert und auf seine Ausführbarkeit geprüft worden, von KANT als Philosophen, von BLOCH als Philanthrop, von NORMAN ANGELL als Volkswirtschaftler. Eine Friedensagitation ist seit Jahrzehnten unter den Völkern Europas im Gange gewesen, je drohender sich das Kriegsgewölk zusammenzog. Noch nie in der Geschichte hat es vielleicht als Einleitung der kommenden Dinge so viele Verbrüderungsfeste wie in unseren Tagen gegeben, bei wissenschaftlichen Kongressen aller möglichen Art, bei Besuchen und Festmählern der Vertreter verschiedener Völker und Städte, Vereine und politischen Parteien. Im Zeichen des Pazifismus ist ein Friedenstempel im Haag als Sitz für ein von den Staaten gewähltes Schiedsgericht zur Schlichtung internationaler Streitfragen gegründet worden. Und doch ist derselbe Zar, der die Anregung zum Schiedsgericht im Haag gegeben hat, der erste gewesen, welcher gedrängt von seinen Ratgebern und von einer starken imperialistischen Strömung seines Reich den Brandfunken in das europäische Pulverfaß geworfen und die lange schon vorbereitete und zu einer historischen Notwendigkeit gewordene Katastrophe zum Ausbruch gebracht hat.

Muß man nicht angesichts der eben durchlebten Erfahrungen, angesichts des abgrundtiefen Hasses und des gegenseitigen Vernichtungswillens zwischen den europäischen Staaten, die sich als die Träger der höchsten europäischen Kultur betrachten, und im Hinblick auf die Lüge und Verleumdung, mit welcher man die eingekreisten, aus dem Weltverkehr ganz ausgeschalteten und so der Mittel zur Abwehr beraubten Zentralmächte Europas schon vor der erhofften und als sicher ausgerufenen Vernichtung durch Hunger und durch Granaten auch moralisch im Urteil der Welt zu vernichten und noch beim Friedensschluß und nach ihm zu schädigen strebte, muß man, frage ich, unter diesen Umständen die pazifistische Idee nicht als eine schlecht angebrachte Utopie bezeichnen, die von vornherein der Lächerlichkeit preiszugeben ist?

Eine Utopie wäre es allerdings, wenn jemand erwarten wollte, daß der europäische Kulturmensch in seinem Denken, Fühlen und Wollen von heute auf morgen ein anderer würde oder daß die zum Völkerfrieden (paix perpetuelle von St. Pierre) erforderliche internationale Organisation der Staaten auf einem Friedenskongreß plötzlich aus den Köpfen der vereinigten Staatsmänner Europas entspringen würde. Solche Hoffnung wäre verfrüht, doch bleibt ein Trost. Der einzelne Mensch ist ungeduldig, weil er sterblich ist; aber die schöpferische Natur, die große Künstlerin, wie sie KANT nennt, oder der ewige Gott, wie ihn der gläubige Mensch verehrt, haben Zeit beim Aufbau ihrer Werke. 1000 Jahre sind im Vergleich zur Ewigkeit wie ein flüchtiger Tag. In diesem Sinne ist gewiß nicht der Friedensgedanke als utopistisch zu bezeichnen mit seiner Erwartung, daß die Entwicklung der Menschheit, wenn auch nach mannigfachen Erschütterungen und Umwegen einst zu einem Zustand führen wird" in welchem zwischen den Völkern der einzelnen Weltteile und ebenso zwischen diesen eine internationale Friedensorganisation herrschen und Moral und Recht die entscheidende Macht im Völkerbund der Menschheit ebenso wie zwischen den einzelnen Bürgern eines vorbildlichen (Kulturstaats sein wird. [In der ersten Auflage schloß die Schrift mit einem Nachwort und dem Titel: "Das Gebot der Stunde". Der Gang der Weltgeschichte hat anders entschieden, als im November 1917 von mir noch gehofft wurde. Da somit dem damaligen Nachwort jetzt keine aktuelle Bedeutung mehr zukommt, ist es in der zweiten Auflage fortgefallen.]


Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library.
Erstellt am 6. August 2001 von Kurt Stüber.