Oscar Hertwig:
Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus

Dritter Teil. Zweiter Abschnitt B.

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Dritter Teil. Zweiter Abschnitt.

Der soziale Darwinismus.

(Fortsetzung.)

B. Zur Kritik und Abwehr desselben.

Wie der im ersten Abschnitt des dritten Teils gegebene Überblick gelehrt hat, besteht ohne Frage eine starke Strömung in naturwissenschaftlichen und besonders in ärztlichen Kreisen, welche auf sozialem Gebiet tief eingreifende Reformen unter Berufung auf DARWIN's Lehre fordern. Da ihre Wortführer sich auf biologische Naturgesetze berufen, machen ihre Ansichten und Verbesserungsvorschläge auch eine Prüfung mit dem Rüstzeug der Wissenschaft vom Standpunkte der Biologie aus notwendig. Wenn hierbei diese Ansichten sich als unbegründet erweisen sollten, wird ihre Kritik zugleich auch den Charakter einer Abwehr annehmen; sie muß ihn annehmen, da es sich zum Teil um Fragen handelt, die in das ganze Kulturleben der Menschheit auf das Tiefste einschneiden und die Weiterentwicklung zum Schaden oder Vorteil auf viele Jahrhunderte beeinflussen können.

Auf Irrtümer in der Zufalls- und Selektionstheorie habe ich schon unter Berufung auf verwandte Urteile anderer Forscher in meinem "Werden der Organismen" hingewiesen. Wenn hierdurch, wie ich hoffe, der feste Boden der Naturwissenschaft dem Darwinismus entzogen ist, so ist es doch nicht weniger lohnend, seinen Irrtümern und Schwächen auch auf dem sozialen Gebiete selbst nachzugehen. Wenn ich hierbei eine ablehnende Kritik an vielen, auf den vorhergehenden Seiten besprochenen Gedankengängen übe, so bin ich trotz alledem weit davon entfernt, nicht anzuerkennen, daß in der Rassenhygiene, der Eugenik und verwandten Gebieten auch viele Bestrebungen vorliegen, die nicht nur berechtigt sind, sondern denen ich auch einen vollen Erfolg für ihre Verwirklichung wünsche, worüber ich noch am Schluß des dritten Teils (Seite 96-102) einiges sagen werde. Aber jetzt handelt es sich nur um die Besprechung solcher Lehren und Forderungen, die mir nicht wissenschaftlich begründet zu sein scheinen, die Übertreibungen sind, auf Illusionen beruhen und bei ihrer weiteren Durchführung nur auf Irrwegen und zu Übeln führen können, welche größer als die zu heilenden sind.

Es sind vornehmlich drei Einwände, die ich gegen den sozialen Darwinismus zu erheben und zu besprechen habe.

Mein erster und wichtigster Einwand ist der Verstoß, den die Ultra-Darwinianer mit ihren Lehren und Bestrebungen gegen das Gesetz der Arbeitsteilung und Differenzierung begehen. Schon DARWIN hat dasselbe zum Schaden seiner Lehre vernachlässigt, weil er ohne tiefere Kenntnis der mikroskopischen Anatomie sich keine klare Vorstellung von ihm und seiner Bedeutung hatte bilden können. Das Gleiche läßt sich auch von den meisten seiner Anhänger behaupten. Und doch ist Arbeitsteilung und Differenzierung ein biologisches Gesetz von der größten Tragweite. Es beherrscht die gesamte lebende Welt in ihren verschiedenen Abstufungen, die einzelligen Lebewesen, die vielzelligen Pflanzen und Tiere, die Menschen in ihren sozialen Gemeinschaften und Staatenverbänden. Es ist dies darauf zurückzuführen, daß sich jeder Lebensprozeß in eine Summe sehr verschiedenartiger Verrichtungen oder Funktionen zerlegen läßt, und zwar ist dies um so mehr der Fall, je mehr die Organisation der lebenden Substanzen auf den einzelnen Stufen, die ich oben aufgezählt habe, von Stufe zu Stufe eine immer kompliziertere wird. Am deutlichsten tritt dies bei der Umwandlung embryonaler, artgleicher Zellen eines werdenden Organismus in zahlreiche Gewebe hervor. Da ich mich über das Gesetz der Arbeitsteilung und Differenzierung bereits in verschiedenen Schriften (1912, l. c. S. 500-516; 1916, l. c. S.144-172) ausgesprochen habe, kann ich mich hier kurz fassen und brauche auf dasselbe nur soweit einzugehen, als es unser gegenwärtiges Thema: die soziale Gemeinschaft der Menschen betrifft.

Wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, erfordert jede Arbeitsverrichtung, wenn sie nach Möglichkeit gut, rasch und mit dem geringsten Aufwand von Kraft geleistet werden soll, eine besondere Übung während längerer Zeit. Denn erst die Übung macht den Meister. Eine Folge davon ist, daß Verrichtungen, die andere Fähigkeiten erfordern, entweder vernachlässigt oder gar nicht ausgeübt werden, wenn für den Ausfall ein Ersatz geschaffen werden kann. Hiermit eröffnet sich in der auf Gegenseitigkeit beruhenden sozialen Gemeinschaft der Menschen ein unermeßliches Feld für gegenseitige Hilfe. Denn was der einzelne durch vervollkommnete Fähigkeit in einseitiger Richtung an Mehrwert über seine eigenen Bedürfnisse hinaus leistet, kann er als Tauschobjekt zum Bezug von Werten benutzen, welche andere Glieder der Gesellschaft mit anderen Fähigkeiten und unter anderen Verhältnissen besser herzustellen in der Lage sind. So entwickelte sich mit dem ersten Beginn von sich bildenden sozialen Gemeinschaften auch die Möglichkeit zu einem ökonomischen Prozeß, zu einer Volkswirtschaft, die den Menschen von Stufe zu Stufe immer weiter über die Tierheit emporhob. Wenn GOLDBERGER in seiner bekannten Schrift die Vereinigten Staaten von Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten genannt hat im Hinblick auf seine natürlichen Hilfsquellen und überrascht durch die technischen Einrichtungen, vermittels derer die Bewohner sich die Bodenschätze anzueignen und in menschliche Reichtümer umzuwandeln verstehen, so kann man mit noch größerem Recht von der Arbeitsteilung und dem auf ihr beruhenden ökonomischen Prozeß als von einem Gebiet der unbegrenzten Möglichkeiten sprechen. Denn wie groß auch die Veränderungen und Umwälzungen einer mehr als dreitausendjährigen Geschichte schon gewesen sind, von den primitiven Anfängen in einer nomadisierenden Bevölkerung bis zu den modernen Kulturstaaten mit ihren vielseitigen Gliederungen, ihrer hoch gesteigerten Lebenshaltung und den unübersehbaren Aufgaben ihres sozialen Getriebes, von einem Ruhepunkt ist der ökonomische Prozeß auch in der Gegenwart noch weit entfernt; im Gegenteil hat er sich in dem letzten Jahrhundert wie in keiner vorausgehenden Periode auf das intensivste gesteigert und fortentwickelt; er bietet noch unbegrenzte Möglichkeiten für weitere soziale Entwicklungen dar, wenn wir von der Gegenwart urteilend in die Zukunft schauen. Fortwährend werden in einem aufsteigenden Staatswesen neue Quellen menschlicher Arbeit erschlossen, durch Ausnutzung neu entdeckter Bodenschätze, durch Erfindungen der Naturwissenschaften und Technik. Jahraus, jahrein entstehen auf diese Weise neue Zentren für kooperative Arbeit; zugleich aber wächst unter allen diesen Verhältnissen mit der Vermehrung der zu bearbeitenden Objekte und der Verfeinerung der hierfür dienenden Methoden der Grad der Arbeitsteilung in unabsehbarer Weise.

Eine natürliche Begleiterscheinung der Arbeitsteilung ist die durch sie verursachte Differenzierung. In demselben Maße als die Menschen nur in beschränkter Richtung und für ganz bestimmte Zwecke einzelne Fähigkeiten ausbilden, andere dagegen unausgebildet und selbst verkümmern lassen, werden sie auch voneinander sowohl in körperlicher und geistiger Beschaffenheit als auch in ihrer gesellschaftlichen Stellung voneinander verschieden; sie werden hiernach bald in dieser, bald in jener Weise in soziale Gruppen eingeteilt, in Städter, Bauern und Seefahrer, in Stände und Berufe. Mit fortschreitender Arbeitsteilung und Differenzierung entsteht zugleich ein System von immer verwickelter werdenden Beziehungen und Abhängigkeiten der einzelnen Glieder der Gemeinschaft voneinander und vom Ganzen, dessen Teile sie sind. Infolgedessen gewinnt das menschliche Gemeinwesen eine immer fester gefügte Organisation und führt gleichsam ein überindividuelles Leben mit eigenen Daseinszwecken und eigenen Zielen. Auch in dieser Hinsicht läßt sich der oft angestellte Vergleich mit den Verhältnissen eines Zellenstaates bis ins kleinste durchführen. Wie die Zellen auch in einem hochdifferenzierten tierischen Organismus einander gleich sind als Abkömmlinge einer gemeinsamen Mutterzelle und als Träger der von den Vorfahren ererbten Arteigenschaften und doch auch wieder sehr verschieden voneinander nach ihrer Sonderung in die einzelnen Gewebe und Organe (Muskel-, Nerven-, Sinnes-, Drüsenzellen usw.), so sind die einzelnen Individuen eines Staates einander gleich als Träger menschlichen Wesens in körperlicher, geistiger und sittlicher Hinsicht, gleich als Funktionäre einer Gemeinschaft, gleich als Rechtssubjekte und gleich in ihrer gegenseitigen Bedürftigkeit in der schon früher besprochenen Weise; und doch sind sie auch wieder ungleich in vielen Einzelheiten, wenn diese zum Gegenstand genauerer Untersuchungen gemacht werden, ungleich nach ihren Fähigkeiten und Leistungen, ungleich nach ihrer Stellung im staatlichen Getriebe.

Allerdings erfährt hierdurch die von Christus bis ROUSSEAU und TOLSTOI gepredigte Lehre von der Gleichheit der Menschen eine notwendig einschränkende Ergänzung und Richtigstellung. Denn die Gleichheit findet ihre Grenze an der Stellung, welche der einzelne als ein integriertes Glied einer höheren Organisation in dieser einnimmt. Dadurch wachsen ihm besondere Aufgaben zu, die ihn von den übrigen Individuen in anderen Stellungen mehr oder minder verschieden machen, ohne daß dadurch die Gleichheit und Ebenbürtigkeit in allgemein menschlicher Hinsicht doch irgendwie aufgehoben wird.

In dieser Weise ergibt sich, wie ich schon auf Seite 46 kurz bemerkt habe, eine Lösung für den Widerspruch, der für manche zu bestehen scheint. Wenn wir gleichzeitig sowohl von einer Gleichheit als von einer Ungleichheit der Menschen in einer aus ihnen bestehenden Gemeinschaft sprechen. Es besteht eben in Wirklichkeit bei genauerer Untersuchung ein Doppelverhältnis, in welchem sich ein jeder befindet, teils als sich selbst fühlendes, egoistisches menschliches Wesen, teils als ein abhängiger und mitfühlender, von Altruismus bestimmter Teil der sozialen Gemeinschaft und insofern gleichsam ein Sklave einer übergeordneten höheren Organisation. Aus diesem Doppelverhältnis ergeben sich viele Schwierigkeiten, welche ihren Ausdruck in den sozialen Kämpfen innerhalb der Gesellschaft finden, um so mehr, je mehr sie selbst in einer fortschreitenden oder rückläufigen Entwicklung begriffen ist. Bei den Reibungen, die sich fortwährend, zeitweise mehr oder weniger einstellen und im Wesen der Entwicklung selbst begründet sind, sollte vom unbefangenen Beurteiler sozialer Verhältnisse nicht aus dem Auge verloren werden, daß, je höher sich ein Gemeinwesen entwickelt hat, um so mehr ein jeder ohne Unterschied der Fähigkeiten, des Ranges und des Besitzes auf die Mithilfe vieler anderer in seiner ganzen Existenz angewiesen ist. Das Gegenseitigkeitsverhältnis tritt auf allerdings primitiveren Stufen des sozialen Verbandes wegen seiner größeren Unmittelbarkeit mit mehr Deutlichkeit hervor. Sieht doch beim Tausch von Person zu Person ein jeder, was er gibt und was er dafür empfängt, und zugleich werden auch persönliche Beziehungen bei solchen Gelegenheiten angeknüpft. Dagegen ist in der modernen Volkswirtschaft das ursprüngliche Verhältnis der Gegenseitigkeit mehr verschleiert, teils weil es kaum noch ein Produkt gibt, bei dessen Gewinnung nicht viele Hände zusammengearbeitet hätten, teils aber auch deswegen, weil zwischen Produzenten und Konsumenten, die auch räumlich oft weit voneinander entfernt sind, sich ein umständlicher und vielgliedriger Zwischenverkehr, zuweilen ein wahrer Kettenhandel, bei unserem hochentwickelten Arbeits- und Verkehrswesen einschiebt. Das ganze Verhältnis ist dadurch ein mehr unpersönliches geworden. Dafür aber hat die ganze Gemeinschaft eine größere Verantwortlichkeit übernommen; denn auf Grund ihrer Einrichtungen, unter ihrem Schutz, ihrer Duldung und ihrem Zwang geht doch alles vor sich. Alles spielt sich jetzt gleichsam wie in einem komplizierten Mechanismus ab. Um so mehr ist es geboten, sich bewußt zu bleiben und der Einsicht nicht zu verschließen, daß doch unser ganzes Wirken auf sozial menschlicher Gegenseitigkeit und auf Recht und Sitte, die sich hiervon nicht trennen läßt, als auf ihrem Fundament beruht.

Wie hilflos würden sich Künstler, Gelehrte und höhere Beamte vorkommen, wenn sie nur den Versuch machen wollten, sich durch ihrer Hände Arbeit selbst einen kleinen Teil der täglichen Bedürfnisse des Lebens an Nahrung und Kleidung zu verschaffen. Müssen sie nicht allein schon in dieser Erkenntnis sich der sozialen Gemeinschaft dafür zu Dank verpflichtet fühlen, daß sie ohne Frage erst durch ihre Hilfe höheren Aufgaben zu leben befähigt werden? Und umgekehrt: Die Arbeiter, welche durch ihre Körperkraft, ihre Ausdauer und ihrer Hände Geschicklichkeit in Stadt und Land die täglichen Gebrauchsgüter herstellen, sollten ebenso nicht die Förderung vergessen, welche ihnen die höhere Intelligenz und Tatkraft der Männer der Wissenschaft und Kunst und die organisatorische Tätigkeit des Fabrikleiters und des Kaufmanns gebracht hat Denn wenn sie ihre gegenwärtige Lebensführung, die Sicherheit ihrer Existenz und das Niveau ihrer Bildung, das ihnen auch am geistigen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen ermöglicht, mit den früheren Zuständen, selbst denen vor wenigen Jahrhunderten vergleichen, so werden sie einen erheblichen Fortschritt und ein größeres Maß von Selbstbestimmung gegen früher erkennen und sich bewußt werden, daß ebenso auch ihnen die Kulturarbeit der Gemeinschaft zum Vorteil gereicht hat.

Bei der Untersuchung der Beziehungen, in welchen das Ganze zu seinen Teilen steht, machen sich zwei Betrachtungsweisen, wie ein Studium der einschlägigen Literatur lehrt, sowohl beim vielzelligen Organismus als auch bei der sozialen Gemeinschaft der Menschen geltend. Man kann entweder den Teil (die Zellen, die einzelnen Menschen) für sich oder das aus ihnen zusammengesetzte Ganze (den vielzelligen Organismus, den menschlichen Staat, in den Vordergrund stellen und zum Maßstab der Beurteilung machen. Wie in der Biologie hieraus verschiedene Lehren und Gegensätze entstanden sind, so ist dies noch viel mehr bei der Beurteilung der Stellung des Menschen im sozialen Verband der Fall. Vertreter des Individualismus führen mit Anhängern des Kollektivismus oder Sozialismus mehr oder minder heftige Fehden. So gewiß von jeder Seite auch manche zutreffende Gründe entweder für die Berechtigung des Individualismus oder des Kollektivismus vorgebracht worden sind, so liegt nach dem Standpunkt, den ich auch schon in der Biologie eingenommen habe, die Wahrheit in der richtigen Verbindung der Lehren von beiden, da sie sich der ganzen Sachlage nach gegenseitig ergänzen müssen. Wie die einzelnen Zellen eines vielzelligen Organismus außer von ihren eigenen Gesetzen auch noch von den Gesetzen der ihnen übergeordneten, durch ihre Gemeinschaft neugebildeten Lebenseinheit oder in der mechanischen Ausdrucksweise von den neuen Systembedingungen beherrscht werden, "so ist bei genauerer Prüfung der arbeitsteilige Bürger eines Kulturstaates trotz seiner scheinbaren individuellen Freiheit und eines eingebildeten Gefühls der Unabhängigkeit in Wirklichkeit zu einem sehr abhängigen Glied des übergeordneten sozialen Organismus geworden". "Während der einzelne auf der einen Seite sein individuelles Leben nach den Gesetzen seines eigenen Körpers führt und als Persönlichkeit sich fühlt und handelt, ist er doch auf der anderen Seite in seiner Lebenshaltung von der Tätigkeit unzähliger Personen und von der gedeihlichen Entwicklung des ganzen Staatengebildes in hohem Maße abhängig, in seiner Ernährung, in seiner persönlichen Sicherheit, in Unterricht und Erziehung, in der Wahl und Ausübung seines Berufs" (HERTWIG 1916, l. c. S. 154).

Die Art und Weise, wie sich Individualismus und Kollektivismus oder die Forderungen der einzelnen Individuen und die Forderungen von Staat und Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten mit ihren wechselnden Bedingungen ins Gleichgewicht setzen, führt im Laufe der Staatenentwicklung zu mehr oder minder heftigen Kämpfen im wirtschaftlichen, politischen und geistigen Leben der Völker; sie verleiht den aufeinander folgenden Geschichtsperioden ihren besonderen Charakter. In diesem Verhältnis liegt eine der wichtigsten Triebkräfte im Verlauf der menschlichen Geschichte. Gegensätze gleichen sich aus, um sich nach längerer Zeit verhältnismäßiger Ruhe wieder in anderer Weise von neuem zu bilden.

Dem Gegensatz, der im Kollektivismus und im Individualismus verborgen ist, haben zwei große Monarchen einen interessanten Ausdruck durch zwei epigrammatische Aussprüche über ihre verschiedene Auffassung vom Herrscherberuf gegeben; hier Friedrich der Große, dort Ludwig XIV. In richtiger, ganz moderner Auffassung vom Wesen des Staates hat schon der Philosoph auf dem Königsthron sich selbst als "den ersten Diener des Staates" bezeichnet, daß heißt, als den Diener, der mit der höchsten und der am meisten verantwortungsvollen Aufgabe der Leitung des Staatsganzen betraut ist. Er hat so dem von Ludwig dem XIV. vertretenen Ancien Regime mit seiner Herrenmoral und mit seinem Ausspruch: "Līétat c'est moi", in welchem sich der unverhüllte Egoismus des selbstherrlichen Individuums ausspricht, den entgegengesetzten Standpunkt markiert, der auf dem Boden des Kollektivismus erwachsen die moderne Staatenentwicklung beherrscht.

Das von NIETZSCHE geprägte Wort vom "Übermenschen" läßt sich jetzt auch von unserem Standpunkt aus anwenden, nur erhält es dabei einen wesentlich anderen Sinn. Wir verstehen darunter nicht eine besondere, stärkere Spezies Mensch, zu deren Gedeihen die Menschheit als Masse geopfert werden muß, nicht den Menschen, der im Selbstgefühl seiner größeren Kraft und Stärke sich "jenseits von Gut und Böse" dünkt und Macht vor Recht setzt, der erfüllt von den Vorrechten seiner Herrenmoral und bestrebt den in ihm lebendigen Willen zur Macht in die Tat umzusetzen, sich an Sitte und Recht, wie sie für Menschen gilt, selbst nicht gebunden hält und zur Durchsetzung seines Egoismus keine menschlichen Rücksichten kennt. Wohl aber werden auch nach unserer Ansicht auf dem Fundamente der Arbeitsteilung Übermenschen zu allen Zeiten aus dem Schoß der menschlichen Gesellschaft hervorgebracht; es sind die Heroen des Geistes und der Tat die als die großen Bahnbrecher staatlicher Reformen und Neubildungen, als die großen Entdecker und Erfinder auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik, als die Schöpfer neuer Kunst an der Spitze der Menschheit stehen. Was sie über die große Menge hinaushebt und ihnen im Vergleich zu ihr gleichsam übermenschliche Kraft und Wirksamkeit verleiht, verdanken sie nicht bloß dem außergewöhnlichen Maß ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte, die doch immer individuell sehr begrenzt sind, sondern zum großen Teil der Mithilfe und Mitwirkung der menschlichen Gemeinschaft, der sie angehören. Gleich anderen Menschen ist auch der auf dem Boden der Arbeitsteilung erwachsene Übermensch, wenn er sich über die gewöhnlichen Erdgeborenen erhebt, nur ein Funktionär des Staats, wie wir uns an einer früheren Stelle (S.74) ausdrückten. Er erlangt erst die Möglichkeit zur Ausbildung der ihm angeborenen Anlagen durch Erziehung in Elternhaus und Schule, später und nicht zum geringsten Teil durch die Stellung im komplizierten Getriebe des sozialen Organismus, in welche ihn die Zufälle seines Lebensganges hineinführen. Erst durch sein Leben in der Gemeinschaft wachsen ihm aus dieser zu seinen begrenzten eigenen auch noch die weiteren Kräfte hinzu, durch die er erst seine das gewöhnliche Menschenmaß übersteigenden Wirkungen hervorbringen kann.

Auch dieses Verhältnis läßt sich durch einen Vergleich mit der Stellung einzelner Zellen im Zellenstaat anschaulicher machen. Eine Ganglienzelle, die sowohl mit verschiedenen Sinnes- und nervösen Zentralorganen, als auch mit vielen Muskelgruppen in Verbindung steht, bringt im Körper des Menschen ganz andere Wirkungen hervor, als eine einfache Epithel-, Bindegewebs- und Knorpelzelle, da sie viele Millionen Muskelfasern in geordnete Bewegungen versetzen und zu zweckmäßiger Arbeit veranlassen kann. Im Vergleich zu den bescheidenen Leistungen der meisten Gewebszellen könnte gewiß die Ganglienzelle auch als eine Überzelle bezeichnet werden denn sie kann ja durch die von ihr nach allen Seiten ausstrahlenden Reize, wie auf Kommando unzählige andere Zellen zu zweckmäßig koordinierten Tätigkeiten veranlassen und dadurch große Wirkungen erzielen. Findet sich der Übermensch nicht in einer genau entsprechenden Lage? Wie hätten Friedrich der Große, der erste Napoleon, Bismarck in dem Schicksal großer Völker so folgenschwere Umwälzungen hervorbringen können, wenn sie nicht durch ihre Stellung im Staatsorganismus die lebendigen Kräfte desselben in den Dienst ihrer Ideen und Entschließungen hätten stellen können, und wenn diese Ideen nicht auch mit denen der Gemeinschaft sich in irgendeiner Übereinstimmung befunden hätten? Denn bei allgemeinem Widerstand hätten auch diese Übermenschen sich in ihren Plänen und Untersuchungen zur Ohnmacht und Erfolglosigkeit verdammt gesehen. Und sind die großen Männer der Kunst und Wissenschaft, indem sie sich auf den Schultern ihrer Vorgänger erheben und dort weiterbauen, wo diese aufgehört haben, nicht in einer ähnlichen Lage? Sind sie nicht in gewissem Sinne die Verkünder und Vollstrecker von Dingen, zu denen schon die von früheren Generationen geförderte Entwicklung von Wissenschaft, Kunst und Technik sie hindrängte?

In diesem Sinne ist das Ideal von NIETZSCHE "daß das Ziel der Menschheit in ihren höchsten Exemplaren liegt", auch daß unsere. Oder wir können mit SCHOPENHAUER sagen: "Die Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne große Menschen zu erzeugen - und dies und nichts anderes sonst ist ihre Aufgabe." So verstanden befindet sich der Helden- und Heroenkultus zwar mit der Gleichmacherei, gegen die NIETZSCHE seinen Zarathustra mit Recht predigen läßt (S. 30 dieser Schrift), in unversöhnlichem Gegensatz, nicht aber mit dem philosophischen Prinzip der Gleichheit aller Menschen. Denn zur Hervorbringung von Leistungen, welche sich über das allgemeine Niveau weit erheben, ist es nicht erforderlich, daß sich der Übermensch über Sitte und Gesetz der sozialen Gemeinschaft hinwegsetzt und eine eigene Herrenmoral mit dem Wahlspruch "Macht geht vor Recht" für sich beansprucht. Vielmehr fließt ihm das erhöhte Maß von Kraft sehr wesentlich auch durch die Verwertung der Kräfte der Gemeinschaft zu, über welche er durch die ihm eingeräumte Stellung in ihr zu verfügen bevollmächtigt ist.

Um das Verhältnis des einzelnen zur sozialen Gemeinschaft zu beleuchten, sei auch noch folgendes nur kurz erwähnt. Während der einzelne stirbt, bleibt das, was er für die Gemeinschaft geleistet, durch sie erhalten und kann in ihr noch auf entfernte Zeiten weiter wirken. Am klarsten zeigt sich dies bei den höheren Arten menschlicher Tätigkeit im Dienst des Staates, der Wissenschaften und Künste. Entdeckungen, Erfindungen, Werke der Kunst und Technik und alle schöpferischen Handlungen, die zur Fortentwicklung von Sitte, Recht und Religion dienen, überdauern den Tod ihrer Schöpfer; sie pflanzen sich auf die Nachwelt fort. So entsteht aus der Gemeinschaft der Menschen als ihr höchstes, unvergängliches Gut, das sich von Geschlecht zu Geschlecht forterbt, eine geistige, sittliche, rechtliche und künstlerische Welt; sie wächst und gestaltet sich nach ihren eigenen Regeln und wird im Laufe der Jahrhunderte als die edelste Errungenschaft menschlicher Gemeinschaft durch die Hilfe aller späteren Generationen immer reicher ausgebaut.

Durch die vorausgeschickten Betrachtungen, welche sich an frühere Äußerungen in meinem "Werden der Organismen" (1916, S. 261-270) anschließen, nehme ich als bewiesen an, daß das wichtige Gesetz der Arbeitsteilung und Differenzierung, welches das Reich der Lebewesen auf allen seinen Stufen beherrscht, sich mit den Lehren der Darwinianer in keiner Weise vereinbaren läßt. Sowenig wie zwischen den Zellen eines pflanzlichen und tierischen Organismus, findet zwischen den Gliedern eines Staatswesens ein Kampf ums Dasein mit einer sich aus ihm ergebenden Zuchtwahl und den hieraus abgeleiteten Folgen für die Veränderung der Organismenwelt statt. DARWIN's verfehlte Hypothese zeigt sich in ihrer Unzulänglichkeit erst recht bei allen Übertragungsversuchen auf das soziale Gebiet. Hier wirkt sie geradezu gemeingefährlich. In wie hohem Maße dies der Fall ist, wird mein zweiter und dritter Einwand zeigen, der gegen die besonderen Vorschläge gerichtet ist, durch welche das auf DARWIN begründete Programm verwirklicht werden soll. Der eine Einwand handelt von der Anwendung und Verwertung des Begriffs der sozialen Auslese, der andere vom Ziele des sozialen Darwinismus, die menschliche Gesellschaft auf diesem oder auf jenem Wege in einen Züchtungsstaat umzuwandeln.

Was meinen zweiten Einwand, den Begriff der sozialen Auslese betrifft, so ist er sehr geeignet, uns neue Einblicke in die Schwächen von DARWIN's Beweismethoden zu eröffnen. Denn da es sich um menschliche Verhältnisse handelt, sind sie auch dem Nichtbiologen besser bekannt und erleichtern ihm die Bildung eines eigenen Urteils. Dadurch aber, hoffe ich, wird die Abwehr des sozialen Darwinismus auch in hohem Maß zur Abwehr der Irrtümer des biologischen Darwinismus von Nutzen sein und das Werk, das ich in meinem "Werden der Organismen" begonnen habe, von einer neuen Seite fortführen.

Gerade auf sozialem Gebiet werden die Unklarheiten offenbar werden, auf die ich früher schon im allgemeinen (S.9) hingewiesen habe, die Unklarheiten, die DARWIN durch seine Erweiterung der künstlichen zu einer natürlichen Zuchtwahl, durch seine Verbindung der Auslese und des MALTHUS'schen Prinzips und beider wieder mit der Konkurrenzformel und mit dem Kampf ums Dasein, ferner durch seinen bildlichen Gebrauch von Redeweisen und Schlagwörtern, die vielfacher Verwendung fähig sind, geschaffen hat (Auslese, Zuchtwahl, Kampf ums Dasein, Überleben des Passenden). Viele Sozialdarwinianer glauben schon im Sinne von DARWIN zu denken, wenn sie nur eins seiner Schlagwörter herausgreifen, und bemerken gar nicht, daß diese doch erst in ihrer Verbindung und Verwertung seine Theorie ausmachen. Vergessen wir daher nicht: Die Selektionstheorie will die Entstehung neuer Arten und zugleich auch die zweckmäßige Organisation der Lebewesen und ihre Anpassung an die Umwelt durch eine geschickte, aber irrige Verknüpfung mehrerer Hypothesen erklären. Diese sind: l. Die Organismen variieren unbedeutend und zufällig in verschiedenen Richtungen und vererben diese Abänderungen auf ihre Nachkommen. 2. Unter den verschieden abgeänderten Nachkommen gehen infolge der übermäßigen Vermehrung der Lebewesen und des dadurch notwendig gewordenen Kampfes ums Dasein (MALTHUS) die meisten zugrunde (negative Selektion, Ausjätung, Ausmerzung) und nur die am besten abgeänderten, die Tüchtigsten bleiben zur Fortzucht der Art erhalten (positive Selektion). 3. Eine neue Spezies mit neuen Organen kann nach unendlich langen Zeiträumen aus den Nachkommen eines weit entfernten Vorfahren schließlich hervorgehen, wenn die Selektion als akkumulativer Prozeß wirkt. Es wird hierbei angenommen, daß die ausgewählten Individuen weiter variieren und daß unter ihnen auch solche sich finden, die eine weitere Steigerung des im Daseinskampf den Ausschlag gebenden Merkmals (Plusvariante) besitzen und daher wieder zur Nachzucht ausgewählt werden, bis schließlich eine große Veränderung und eine nicht weiter steigerungsfähige Anpassung erreicht ist.

Im Hinblick auf die Zusammengehörigkeit der 3 angeführten Punkte sind die Worte Auslese oder Selektion der Tüchtigen, Ausmerzen und Ausjäten der Untüchtigen, Kampf ums Dasein im Munde der Sozialdarwinianer zu Redensarten geworden, die des Zusammenhangs mit der Formel entbehren, welche DARWIN für die kausale Erklärung der Entstehung der Arten gegeben hat. Das gilt vor allen Dingen von jeder Form der Auslese, welche ohne Zusammenhang mit dem Prozeß der Fortzucht vorgenommen wird. Das ist aber fast durchweg der Fall bei allen Ausleseprozessen in der menschlichen Gesellschaft. Hier hat die Auslese, - was man bei der uns beschäftigenden Frage nie aus dem Auge verlieren darf, - mit der Fortpflanzung ja an und für sich gar nichts zu tun. Sie findet in der verschiedensten Absicht und für die verschiedensten Zwecke statt, vor allen Dingen bei der Ergreifung sehr vieler Berufe. Wenn auch in der heranwachsenden Generation zunächst die einzelnen sich nach eigenem Ermessen und nach ihrer persönlichen Einsicht in ihre Fähigkeiten und in ihre Lage sich aus den vielen Berufen den geeignet erscheinenden auswählen (also auslesen), so tritt alsdann noch eine weitere Auslese hinzu, die von Gesellschaftswegen in der verschiedensten Weise ausgeübt wird. Es werden aus der Zahl der Kandidaten für Berufe, die größere Kenntnisse erfordern, die geeigneten herausgesiebt durch Prüfungen bei der Aufnahme in Schulen für Fortgeschrittenere und in alle höheren Lehranstalten und ebenso dann wieder beim Abgang von denselben. Zur Auslese dienen ferner die Staatsexamina, an welche die Berechtigung zur Ergreifung juristischer, medizinischer, technischer Berufe usw. geknüpft ist, oder die Ausschreibung von Beamtenstellen, durch welche eine Auswahl unter einer größeren Zahl von Bewerbern ermöglicht wird. Dann gibt es eine Auslese zum Heeresdienst bei dem Musterungsgeschäft usw.

Es liegt auf der Hand, daß alle diese verschiedenen Formen der Auslese mit dem Begriff der Selektion im Daseinskampf im Sinne von DARWIN nicht das mindeste zu tun haben. Denn wenn zuweilen auch der Ausfall der Wahl noch so sehr in den weiteren Lebensgang des Betroffenen eingreifen mag, was indessen beim gewöhnlichen Verlauf nur selten der Fall ist, so handelt es sich dabei doch um keine Entscheidung weder über die Möglichkeit der Lebensexistenz, noch über die Möglichkeit, Nachkommen zu hinterlassen. Prüfungen werden ja nach kurzen Pausen zum zweiten und dritten Mal wiederholt und der zuerst "ausgemerzte" wird schließlich doch als geeignet für den Beruf zugelassen. Und außerdem gibt es neben dem einen noch manche andere Berufe und Tätigkeiten, die der untauglich Befundene ergreifen und durch die er nicht nur sein Dasein sicherstellen, sondern auch für Familie und Nachwuchs sorgen kann. Der große Vorteil, den das Prüfungswesen mit seiner Auslese für den Staat darbietet, ist daher auch mehr darin zu suchen, daß durch die Aufnahmeprüfungen von vornherein eine Fürsorge für ein gleichmäßiges Bildungsniveau der Schüler getroffen wird und daß die Zwischen- und Schlußexamina als ein heilsamer Zwang für ein geordnetes und fleißiges Studium dienen und dadurch in Verbindung mit der Güte des Unterrichts die Durchschnittsleistung des ganzen Berufes auf einer zeitgemäßen Höhe halten.

So haben denn alle diese Arten von Selektion, mag man auch noch so viel von Ausjäten der Untauglichen und von Auslese der Tüchtigen sprechen, wie es gegenwärtig zur Mode geworden ist, auch nicht den geringsten Zusammenhang mit der DARWIN'schen Formel für das Entwicklungsproblem. Denn Auslese wird in DARWIN's Schriften mit Zuchtwahl in Verbindung gebracht. Zu einer Zuchtwahl werden nun aber alle aufgezählten Ausleseverfahren ganz offenkundig gar nicht vorgenommen. Niemand beabsichtigt bei ihrer Veranstaltung, ja denkt nicht einmal an die entfernteste Möglichkeit, daß er durch sie einen Einfluß auf die Erhaltung der Eigenschaften des Kandidaten durch Hinterlassen von Nachkommen ausüben könne, und noch weniger wird daran gedacht, durch die Auslese etwa eine akkumulierende Wirkung durch Steigerung der ausgelesenen Qualitäten in der Nachkommenschaft der als tüchtig befundenen hervorrufen zu wollen. Ein derartiger Gedanke würde auch gegen die ganze augenblickliche Richtung unseres an inneren Widersprüchen so reichen Jahrhunderts verstoßen, welches anstatt auf eine Stabilisierung der Gesellschaftsatome die im Laufe der Generationen durch die sozialen Einrichtungen mit ihrer Gliederung hindurchströmen, vielmehr auf ihre Mobilisierung und Durcheinanderschüttelung bedacht ist. Jeder, der sich für zurückgesetzt und vom Schicksal für vernachlässigt hält, und wer glaubte dies heutigen Tages nicht, - wünscht, daß seine Nachkommen in eine bessere Stellung kommen. Während es früher noch häufiger vorkam, daß in ein und derselbe Familie entweder der geistliche, der juristische, der ärztliche oder militärische Beruf oder der Ackerbau auf der Scholle von einer größeren Zahl aufeinanderfolgender Generationen ausgeübt und gleichsam durch eine Art von Inzucht fortgeerbt wurde, beginnt dies jetzt immer mehr zu einem Ausnahmefall zu werden, und es gibt bekanntlich für die Parteien des sog. Fortschritts keinen größeren Stein des Anstoßes als der militärische Beruf, der von manchen Familien durch viele Generationen hindurch mit Vorliebe "aus Familientradition" ergriffen wird.

Auf den wichtigen Unterschied zwischen der von DARWIN angenommenen "Natural Selektion" und der Auslese, die infolge der Arbeitsteilung und Differenzierung in der menschlichen Gesellschaft in dieser und jener Weise ausgeübt wird, war es notwendig näher einzugehen, weil er entweder gar nicht bemerkt oder stillschweigend übergangen wird. Der Nachweis hierfür läßt sich leicht aus den Schriften von TILLE und AMMON beibringen.

TILLE hat einen "obersten Satz volksstandswirtschaftlicher Weisheit" aufgestellt, der lautet (1897, l. c. LXVIII): "In der gesamten Natur kommt der Fortschritt nach dem heutigen Stande der Wissenschaft einzig durch die natürliche Auslese der Tüchtigeren zustande. Wenn man die Arbeitsleistung eines ganzen Volks auf eine höhere Stufe heben will, so muß man naturgemäß zu allererst an das gleiche Mittel denken, an die soziale Auslese und Ausscheidung, kraft deren die tüchtigsten Arbeiter überleben und reichliche Nachkommenschaft erzeugen, während die untüchtigsten womöglich schon vor dem Heiratsalter zugrunde gehen." Es dürfte TILLE schwer fallen, den wirklichen Nachweis für die Richtigkeit des letzten Teils seiner Behauptung, welche die Fortpflanzung der bei der Auslese als tüchtig Befundenen und der Ausgemerzten betrifft, beizubringen. Hat doch im Gegenteil die methodisch durchgeführte, wissenschaftliche Untersuchung sozialer Verhältnisse von AMMON, HANSEN, FAHLBECK u. a. in mancher Hinsicht zu entgegengesetzten Ergebnissen geführt.

Besonders interessant ist hierbei die Stellungnahme von AMMON, der zwar eine richtige Darstellung des von ihm beobachteten Tatsachenmaterials gibt, aber trotz dieser Einsicht sich von dem Glauben an die "Natural Selektion" nicht frei machen kann. AMMON hat als blinder Anhänger der Lehren DARWIN's, HAECKEL's und WEISMANN's ein Buch über "die natürliche Auslese beim Menschen" auf Grund eigener Untersuchungen beim Rekrutierungsgeschäft und eines umfassenden statistischen Materials veröffentlicht. Er vertritt in ihm die auch von anderer Seite öfters geäußerte Ansicht, daß die Städte mit ihrer höheren Kultur gleichsam das Grab der Menschheit sind, da in ihnen die Bürgerfamilien schon in wenigen Generationen wegen versiegender Nachkommenschaft aussterben, und da infolgedessen die städtische Bevölkerung, um sich in ihrem Bestand zu erhalten, eines ununterbrochenen und kräftigen Zustroms frischen Blutes aus der Mitte der sich stärker vermehrenden Landbevölkerung bedarf. AMMON beruft sich, abgesehen von eigenen Untersuchungen, auch auf die statistischen Angaben von G. HANSEN. Dieser findet, daß die eingeborene Bevölkerung einer Stadt in zwei Menschenaltern durch den Zuzug von auswärts vollständig ersetzt wird, daß in der dritten und folgenden Stadtgeneration die Zahl der alteingesessenen Familien nur noch 1 % und weniger beträgt. AMMON reiht hieran noch einige Beispiele von dem Aussterben der höheren und bevorrechtigten Stände. Von den 28 edelfreien Geschlechtern, die im Domkapitel von Straßburg (1266-1332) aufgeführt werden, sind alle bis auf das Haus Fürstenberg erloschen. In dem Kirchenbuch der Insel Reichenau finden sich 48 Namen edler Geschlechter, von denen jetzt nur noch drei bestehen. Ebenso wie alte Adelsgeschlechter sind fast alle alten Patrizierfamilien in den Städten erloschen. Bei dieser Erscheinung handelt es sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weder um einen Rückstrom von der Stadt nach dem Land, noch um einen Rücktritt einzelner aus dem höheren in einen niederen Stand, sondern um ein Erlöschen aus Mangel an Nachkommenschaft.

Ist AMMON bei der Erklärung seiner Feststellungen nicht mit Blindheit geschlagen, wenn er auch in ihnen eine Bestätigung von DARWIN's Lehre erblickt, obwohl durch die Auslese 99% von den Städtern in wenigen Generationen geopfert werden (l. c. S. 296)? Tritt hier der Widerspruch zu DARWIN's Darstellung von der Rolle der Natural Selektion, auf den ich schon oben aufmerksam gemacht habe, in AMMON's Buch: "Die natürliche Auslese beim Menschen" nicht deutlich wie an einem Musterbeispiel zutage? Bei DARWIN führt die natürliche Auslese zur Erhaltung und Ausbreitung der Tüchtigen durch vermehrte Nachkommenschaft im Laufe der Generationen und wird als ein Mittel dargestellt, durch akkumulative Wirkung ihre Vorzüge allmählich im Laufe vieler Generationen soweit zu steigern, bis es zur Bildung einer neuen Art gekommen ist. Bei AMMON aber führt die natürliche positive Auslese im Gegenteil zum Untergang des ausgelesenen, tüchtigeren Geschlechts. Werden dort die Untüchtigen, so werden hier gerade die Tüchtigen, weil sie nicht in entsprechendem Maße Nachkommen hinterlassen, ausgemerzt. Die von ihnen gebildeten Stände und Berufe müssen daher immer wieder von neuem aus der mehr undifferenzierten und in der Kultur rückständigen Masse der Bevölkerung, aus den unteren Ständen, den "Allzuvielen" von NIETZSGHE, ergänzt und ersetzt werden; sie sind nicht selbsterhaltungsfähig.

DARWIN und AMMON verbinden somit beim Gebrauch der Begriffe "natürliche Auslese" zwei ganz entgegengesetzte Vorstellungsreihen. Wenn bei der Entstehung der Arten im Pflanzen- und Tierreich die "natürliche Auslese", wie sie AMMON im Menschengeschlecht wirken läßt, vor sich gehen würde, dann müßte z. B. die Spezies Homo sich durch fortwährenden Zustrom aus der niederen Spezies, aus der sie die Darwinianer herleiten, also aus den Menschenaffen, ununterbrochen wieder neu ergänzen. Das ist aber ein so ganz anderer Verlauf des Ausleseprozesses, eine so vollständig andere Lehre als die von DARWIN vorgetragene, daß sie auch AMMON für die Entstehung der Arten nicht annehmen würde. AMMON hat auch selbst gefühlt, daß hier ein Widerspruch vorliegt, ohne aber die eigentliche Wurzel desselben erkannt zu haben; er hat sich durch eine Art Verlegenheits- und Hilfserklärung zu helfen gesucht, von der übrigens wohl dasselbe gilt, was NÄGELI einst von der Migrationstheorie von WAGNER gesagt hat: "Das Heilmittel ist viel schlimmer als das Übel". AMMON meint, die natürliche Auslese habe offenbar keine Menschenvarietät mit nur veredelten seelischen Anlagen hervorbringen können; denn "die künstliche Steigerung der seelischen Anlagen habe unfehlbar das Aussterben der Varietät zur Folge, und es hieße die ganze Art vernichten, wenn das Experiment zu gleicher Zeit mit sämtlichen Individuen angestellt würde, um die untauglichen ein für allemal auszuscheiden. Deswegen werde dasselbe immer nur mit einem Teile der Individuen vorgenommen, die, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben, durch andere aus der großen Menge heraus ersetzt werden können" (l. c. S. 321).

Man wird an diesem Fall erkennen, was für Verwirrung in der Wissenschaft angerichtet wird, wenn Begriffe, die zur Verständigung über verwickelte Naturprozesse dienen sollen, nicht scharf definiert, sondern unlogisch gebraucht werden, wie es in der DARWIN'schen Lehre von Anfang an der Fall war. Arbeitsteilung und Differenzierung, auf denen die Stände und Gruppenbildung in der menschlichen Gesellschaft mit ihrer höheren Kultur beruht, - ich wiederhole es noch einmal - haben weder mit dem von DARWIN gelehrten Prozeß der natürlichen Auslese und Zuchtwahl noch mit der Formel vom Kampf ums Dasein irgend etwas zu tun: sie stehen eher in einem direkten Gegensatz zu ihnen, wie ich früher schon gegenüber der Intraselektion von WEISMANN und dem Kampf der Teile im Organismus von ROUX betont habe. Hoffentlich trägt der Fall AMMON dazu bei, wenigstens über diesen Punkt die dringend wünschenswerte Aufklärung herbeizuführen.

Denselben sozialen Vorgang wie AMMON und HANSEN hat der schwedische Nationalökonom FAHLBECK in einem sehr lesenswerten Buch über "den Adel Schwedens" (1903, l. c.) zum Gegenstand einer gründlichen statistischen Untersuchung gemacht. In vorurteilsfreier Weise aber ist er nicht in den von AMMON gemachten Fehler verfallen, die von ihm ermittelten Tatsachen einer wissenschaftlichen Mode zu Liebe aus DARWIN's Theorie erklären zu wollen. FAHLBECK findet, daß nach einer Statistik vom l. Januar 1895 von den schwedischen Adelsgeschlechtern nur noch 717 bestehen, dagegen 2316, also 76%, erloschen sind. Bei einer Berechnung ihres Alters, das vom Jahr der Erhebung in den Adelsstand bis zum Erlöschen gerechnet wurde, ließ sich ihre große Kurzlebigkeit zahlenmäßig feststellen. Von 1219 adligen Geschlechtern starben 946 innerhalb des ersten Jahrhunderts aus; nur 273 traten in das zweite Jahrhundert und von diesen wieder nur die verschwindende Zahl von 22 in das dritte ein; von allen bestand ein einziges noch im vierten Jahrhundert. Nach einer Berechnung der Zahl der Generationen, die ein Adelsgeschlecht bis zu seinem Erlöschen aufweist, sind von 1547 schwedischen Geschlechtern nicht mehr als 249 über das dritte Glied und nur 38 über das fünfte gelangt; nur zwei aber haben das neunte Glied erreicht. Damit also der Adel, in welchem FAHLBECK "eine Auslese der Besten" des schwedischen Volkes erblickt, als Stand nicht ausstirbt, hat fortwährend eine Ergänzung durch neue Adelsverleihungen an hervorragende Männer aus den mittleren und unteren Schichten des Volkes stattfinden müssen. Genau denselben Vorgang lehren auch angesehene Bürgergeschlechter in Großstädten. Nicht weniger als 249 sind allein in Stockholm in der Zeit von 1600 bis 1800 erloschen, und neue Emporkömmlinge sind an ihre Stelle getreten.

FAHLBECK nennt diesen innergesellschaftlichen Prozeß den sozialen Umsatz oder nach HANSEN die Standeszirkulation. Er erkennt in ihr nicht "ein Werk von Zufälligkeiten, sondern eine Folge innerer Ursachen, die aus der Natur und sozialen Stellung der oberen Klassen herrühren". Solche sind: der um die bevorzugten Stellen herrschende gesteigerte Konkurrenzkampf, veranlaßt durch das unbezwingbare Streben der niederen Klassen emporzukommen; die Verzögerung der Eheschließung oder die Unterlassung der Heirat unter den Höhergestellten wegen der erschwerten und lange dauernden Vorbereitung zur Erlangung einer Lebensstellung mit standesgemäßem Auskommen; der gesteigerte Luxus, die Abnahme der Kinderzahl in den Ehen, die von Generation zu Generation zunehmende Unfruchtbarkeit derselben und andere derartige Erscheinungen, die FAHLBECK aus einer auf die Reproduktion beschränkten Degeneration zu erklären versucht (S. 161).

FAHLBECK gelangt daher auf Grund seiner genauen Untersuchung der tatsächlichen sozialen Verhältnisse immer wieder zu demselben Endergebnis, dem er an verschiedenen Stellen seines Buches Ausdruck verleiht: "Es scheint der Mensch gezwungen zu sein, die Schätze der Bildung und Verfeinerung mit dem Verlust des Lebens, wenn auch nicht seines eigenen, sondern des der Nachkommen zu erkaufen." "Bildung und soziale Erhebung führen in vielen Fällen zum Untergang" (S. 168). Oder an anderer Stelle (S. 303) heißt es: "Was gleichwohl für alle Zeiten feststehen dürfte, ist, daß der Aufstieg zu den Höhen der Gesellschaft gewöhnlich, wenn nicht immer, der Weg aus dem Leben ist." Es bedarf wohl keines Wortes weiter, um jeden Leser zu überzeugen, daß die "soziale Auslese", die zur Ständebildung führt, wenn man einmal den Ausdruck gebrauchen will, jedenfalls mit DARWIN's Theorie von der "Natural Selektion" auch nicht in der entferntesten Beziehung steht. Beiden ist nur der Name "Auslese" gemeinsam und sonst auch weiter nichts!

Auf ähnlichen Trugschlüssen und mangelhafter wissenschaftlicher Begründung beruhen die Lehren der Rassenhygieniker, die wie HAYKRAFT u. a. in der größeren Kindersterblichkeit, in den Verheerungen der infektiösen Mikroorganismen, in der Vernichtung menschlicher Existenzen durch Alkohol, Not und andere soziale Ursachen die naturgegebenen Mittel zur Verbesserung der Rasse, dagegen in der lebenserhältenden und lebensverlängernden, konservierenden Tätigkeit der Ärzte kontraselektorische Handlungen erblicken. Es würde mich zu weit führen auch hierauf noch genauer einzugehen. Es genügt auf den Protest zu verweisen, welchen der Münchener Hygieniker M. GRUBER gegen diese Gedankengänge und gegen ihre vermeintlich wissenschaftliche und statistische Begründung in der Münchener medizinischen Wochenschrift (1903, l. c. S. 1713) erhoben hat in einem Artikel unter der Überschrift: "Führt die Hygiene zur Entartung der Rasse?" M. GRUBER kann in keinem Fall den Beweis erbracht sehen, daß die Verminderung der Sterblichkeit "mit einer Verschlechterung der körperlichen Tüchtigkeit" der Bevölkerung verknüpft ist (l. c. S. 1781), daß man überhaupt "von einer allgemeinen Degeneration der modernen Kulturvölker zu sprechen berechtigt sei" (l. c. S. 1782); im Gegenteil bemerkt er, daß "die Kinder der Wohlhabenden im Durchschnitt weit besser entwickelt sind, als die der Armen (Körperlänge, Gewicht, Brustumfang, Lungenkapazität) und daß "in der Entwicklung der Kulturvölker höchstwahrscheinlich sogar eine körperliche Verbesserung" stattgefunden hat und stattfindet (l. c. S. 1782). Wie mit Recht von ihm betont wird, "werden in Wirklichkeit Tausende und Tausende, die von Haus aus als Primaqualität zu bezeichnen sind, durch Infektionen und andere Zufälligkeiten vorzeitig mit den Schwachen ausgemerzt oder dauernd so stark geschwächt und geschädigt, daß sie entweder überhaupt keine oder wenige oder geschwächte und kranke Nachkommen erzeugen" (l. c. S. 1784). "Falsch" nennt daher M. GRUBER "das Bild von der Auslese, das die Anbeter dieses modernen Götzen entwerfen" (l. c. S. 1784). Und ebenso falsch ist - füge ich hinzu - die Ansicht TILLE's und AMMON's von der Rolle, welche das "darkest England" wie Ostlondon (TILLE) oder das Elend der Arbeitslosigkeit und der vagabundierenden Bevölkerung (AMMON) im Dienste der natürlichen Zuchtwahl und der Nationaleugenik spielen soll. Doch hierüber erst einige Worte am Schluß des dritten Teils (S.99).

Ich komme zum letzten Einwand in meiner Abwehr des sozialen Darwinismus, zur Undurchführbarkeit der als ideales Ziel von ihm angestrebten Einrichtung eines menschlichen Züchtungsstaates. Künstliche Zuchtwahl, wie sie von DARWIN als Mittel zur Hervorbringung der Kulturrassen beschrieben und zum Vorbild seiner Natural Selektion gemacht worden ist, soll nach der Ansicht seiner Jünger, die sich mit der Veredelung des Menschengeschlechts beschäftigen, in Zukunft auch von menschlichen Zuchtkommissionen planmäßig und zielbewußt wie vom Tierzüchter geübt werden. In seinem Buch: "die Züchtungspolitik" definiert ja R. KOSSMANN ihr Programm kurz dahin: "Wie man die Vorzüge eines edlen Zuchtstamms durch fortgesetzte zweckmäßige Zuchtwahl bewahren kann, so hat der Staat bei seiner Politik als wichtigste Aufgabe die Erhaltung der besten Erbqualitäten zu betrachten" (1905, l c. S. 62). Schon HUXLEY (1897, l. c. S. 250) hat sich gegen diese Marstallprinzipien, wie er sie in treffender Weise nennt, mit kräftigen Worten gewandt.

Von vornherein ist klar, daß ohne Zwangsgesetze und ohne geradezu ungeheuerliche Eingriffe in eines der ersten und stärksten Naturrechte des einzelnen, auf Erhaltung seiner Art, und in sein hierbei ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht ein erfolgreicher Züchtungsstaat sich nicht einrichten läßt. Bis jetzt erfolgt bei allen Kulturvölkern die Eheschließung und die Ergreifung eines Berufes, durch den die erstere ermöglicht wird, nach wenig beschränkter, fast freier Wahl der Beteiligten. Diese werden entweder aus gegenseitiger Zuneigung und aus wahrer, in der Dichtkunst aller Zeiten verherrlichten Liebe oder aus mehr und minder berechtigten Vernunftgründen oder aus egoistischen, häufig auch niedrigen Motiven zusammengeführt. Nur die geschlossene Ehe und die aus ihr entstehende Familie wird eine gesetzlich geordnete Staatsinstitution. Hiervon abgesehen gehört die Eheschließung bis jetzt jedenfalls zu den wenigen Gebieten, die von staatlichen Zwangsmaßregeln frei geblieben sind. In dieses Verhältnis soll nach den Zukunftsphantasien der Sozialdarwinianer der Züchter als maßgebender Auslesefaktor wie ein Gestütsdirektor eingreifen. Auf Grund seiner beschränkten, teils richtigen, teils falschen, teils eingebildeten wissenschaftlichen Kenntnisse soll er mit weitgehenden Befugnissen ausgerüstet werden, um das Fortpflanzungsgeschäft auf einen engeren Kreis der Tüchtigen, wie das jetzt gebräuchlicher gewordene Losungswort heißt, einzuschränken. Und damit diese positive Auslese auch wirksam wird, muß er zugleich auch negative Auslese treiben; er muß einen großen Teil der menschlichen Gemeinschaft von Kindesbeinen an als minderwertig brandmarken und wenn sie erwachsen ist, durch Zwangsmittel der Möglichkeit berauben, Nachkommen zu hinterlassen. (Unfruchtbarer Geschlechtsverkehr mit Hetären, eventuell Vasektomie und Kastration oder beiderlei.) Die zur Leitung und Regulierung des Fortpflanzungsgeschäfts eingerichteten Behörden müßten dann kraft des Gesetzes eine solche Macht über Leib und Seele aller Mitglieder der sozialen Gemeinschaft ausüben, wie sie selbst die katholische Kirche zuzeiten ihrer höchsten Macht über die Seelen ihrer Angehörigen durch Erstickung ungläubiger Gesinnung, durch religiöse Zwangsmittel, Inquisition, Ketzergerichte und Hexenverbrennung nicht ausgeübt hat.

Nach den Vorschlägen, welche schon von verschiedenen Seiten, von PLOETZ, SCHALLMAYER, KOSSMANN, VON EHRENFELS u. a. bald in dieser, bald in jener Weise gemacht worden sind, würde das Leben jedes einzelnen von der Wiege bis zum Grabe unter Zuchtwahlkontrolle gestellt werden. Ein System von Behörden würde geschaffen werden, in denen die Ärzte selbstverständlich die Hauptrolle spielen vermöge ihrer besseren Kenntnis der Anatomie und Physiologie und ihrer Bekanntschaft mit den Ausschlag gebenden Gesetzen des Darwinismus. Wie die Kirche mit ihren Institutionen die ihr Zugehörigen auf ihren Lebenswegen begleitet, sie mit der Taufe in die christliche Gemeinschaft symbolisch aufnimmt, sie mit der Konfirmation in das werktätige Leben entläßt, die Ehe als Sakrament schließt und heiligt, endlich ihnen und ihren Angehörigen beim nahenden Tod und beim Begräbnis tröstend zur Seite steht, so würde im Züchtungsstaat nach den Utopien einiger Sozialdarwinianer eine Kommission schon den Neugeborenen empfangen und durch ärztliche Untersuchung feststellen, ob er zur Aufzucht geeignet oder besser gleich wegen zu schwacher Konstitution oder wahrscheinlicher, erblicher Belastung als untauglich für eine Edelrasse, als unnützer Ballast für den Staat durch eine Dosis Morphium oder andere milde Verfahren auszujäten ist. Ein Erziehungs- und Schulrat würde dann die körperliche und geistige Entwicklung der heranwachsenden Jugend überwachen und den verschiedenen Wert der einzelnen Individuen für die Fortzucht durch Prüfungen ermitteln. Eine oberste und den Ausschlag gebende Behörde des Züchtungsstaates würde schließlich ihre Vorarbeiten als schätzbares Material benutzen und nach Marstallprinzipien die Auslese bei den Eheschließungen vornehmen, damit bei der Fortpflanzung eine allmähliche Verbesserung des Menschengeschlechts erzielt wird.

Ist es angesichts derartiger Vorschläge denkbar, daß je eine menschliche Gemeinschaft sich finden könnte, welche ihre Einwilligung zu den angedeuteten Zwangsmaßregeln geben oder sich gar geduldig ihnen fügen würde? Und gibt es überhaupt für die sozialen Reformatoren des Darwinismus noch eine Grenze ihrer Neuerungsbestrebungen, solange sie glauben nach den Gesetzen der Wissenschaft zu denken und zu handeln? Gleichen sie nicht in ihrem wissenschaftlichen Aberglauben in jeder Beziehung religiösen Fanatikern? Man betrachte nur ihre Stellung zur Form der Ehe. Die Gemäßigten unter ihnen messen noch der Sitte und den bestehenden Einrichtungen, da sie auf einer mehr als tausendjährigen Kultur historisch begründet sind, einen Wert bei; sie halten daher an der christlichen Einehe (Monogamie) fest, wollen aber die Zulassung zur Ehe durch ärztliche Prüfung auf einen engeren Kreis von Auserlesenen einschränken; zugleich soll für diese die Möglichkeit zur Heirat durch staatliche Erhöhung des Einkommens und ebenso der Kinderreichtum ihrer Ehen durch Prämien gefördert werden. Dagegen lassen die radikal Gesinnten wie VON EHRENFELS, nur die naturwissenschaftliche Erfahrung und das Experiment maßgebend sein, und insofern handeln sie in der Ehefrage konsequenter als die gemäßigtere Partei, wenn sie in der polygamen Form der Fortpflanzung das schon in der Tierzucht erprobte Mittel erblicken, um größere Erfolge für die Rassenveredelung zu erzielen. Gewiß ist vom Standpunkt der Tierzucht gegen den Vorschlag einer menschlichen polygamen Sexualordnung wissenschaftlich nichts einzuwenden. Insofern hat VON EHRENFELS schon Recht, wohl aber trifft ihn der schwerwiegende Vorwurf, daß er den naheliegenden Gedanken nicht ernstlich geprüft hat, ob das Gestütsverfahren auch wirklich auf den Menschen anwendbar ist. Eine solche Prüfung vorzunehmen, hätte er um so mehr Anlaß gehabt, als er selbst erkannt und es offen ausgesprochen hat: "Es ist allerdings kaum möglich, sich mit ernster Miene in Verhältnisse hineinzudenken, welche alles Hergebrachte auf den Kopf stellen würden. Das Lachen ist aber hier nur ein Anzeichen menschlicher Schwäche und sachlich durchaus nicht angebracht. Die Wege der Entwicklung des Lebens sind unforschlich" (1907, l. c. S. 817). Dem letzten Absatz darf ich wohl ergänzend hinzufügen, daß in der Entwicklung der Lebewesen nach meinen Erfahrungen frühere Vorgänge nicht durch die nachfolgenden auf den Kopf gestellt zu werden pflegen, sondern diesen vielmehr als feste Grundlagen für ein organisches Weiterbauen dienen. Auch in der historischen Entwicklung der Menschen und Völker fehlt es nicht an einer in mancher Hinsicht gesetzlichen, organischen Kontinuität. Bei der VON EHRENFELS vorgeschlagenen Sexualreform hätte, abgesehen von anderen, dieser Gesichtspunkt wohl einige Erwägung verdient.

Meinem Argument, daß keine menschliche Gesellschaft sich den Zwangsgesetzen eines Züchtungstaates unterwerfen würde, füge ich noch ein zweites, wichtigeres und nicht minder naheliegendes hinzu. Wenn ein Gestütsdirektor sich in der Auswahl seiner Zuchtpferde irrt, kann er nur wenig schaden. Welches Unheil würde dagegen eine Menschenzuchtbehörde bei ihrer unendlich schwierigeren Aufgabe durch Irrtum anrichten und wie viel Leid und Wehe würde sie auch sonst noch bei allen ihren Entscheidungen, von denen Menschenglück abhängt, hervorrufen? Mit welcher übermenschlichen Weisheit und Voraussicht in die Zukunft, mit welcher Menschenkenntnis müßte sie ausgestattet sein, damit ihr die im Schoße der Zukunft ruhende Veredelung der Menschheit anvertraut werden könnte? Sie müßte wie ein Gott nicht nur die äußerlich erkennbaren Merkmale und Fähigkeiten eines Menschen richtig beurteilen, sondern sein inneres Wesen, auch seine nicht direkt wahrnehmbaren Anlagen durchschauen können. Kommt es doch auch bei der Pflanzen- und Tierzucht, wie die Vererbungswissenschaft immer klarer lehrt, weniger auf die Auswahl der ausgebildeten, sichtbaren Merkmale, als vielmehr auf die Auswahl der gewünschten, unentwickelten, noch unsichtbaren Anlagen in den Keimzellen an, die erst in der nächsten Generation zutage treten. Jedermann weiß, daß auch sehr begabte und in mancher Hinsicht ausgezeichnete Väter eine minderwertige, ihnen nicht gleichende Nachkommenschaft hinterlassen können. Ein Menschenzüchter müßte also eine geradezu übermenschliche Voraussicht besitzen. Auch der in sittlicher und geistiger Beziehung vollkommenste Mensch würde diesen Anforderungen nicht entsprechen, und er am allerwenigsten würde sich bereit finden, im Bewußtsein seiner menschlichen Schwäche einem solchen Tribunal als Mitglied anzugehören, wie auch früher sich gewiß nicht die Besten zum Amt eines Groß-Inquisitors und Ketzerrichters gedrängt haben. Wohl aber würden in politisch erregten Zeiten sich immer ein Robespierre und ein Marat finden, welche die Ausjätemaschine der negativen Zuchtwahl bestens zu versorgen wüßten.

Schließlich sei noch auf eine letzte Reihe von Gründen gegen die Unmöglichkeiten der Utopieen eines Züchtungsstaates hingewiesen. Wenn wir die Phrasen: Auslese der Tüchtigen, Zucht des Übermenschen, Errettung des Menschengeschlechts von unheilbarer Degeneration, Veredelung desselben durch eine Fortschrittsentwicklung zu schwindliger Höhe nur etwas genauer zergliedern, so wird recht bald hervortreten, wie die Ansichten in der menschlichen Gesellschaft über die erstrebenswerten Ziele der natürlichen Auslese und über die zu ihnen führenden Wege weit auseinandergehen würden, noch weit mehr als in gewöhnlichen politischen Fragen, in denen sich doch schon eine recht erhebliche Fülle verschiedener Parteistandpunkte geltend macht.

Wie könnte dies auch anders sein Denn menschliche Art ist trotz ihrer Gleichheit in den allgemeinen Zügen (vgl. S.41-48) doch auch wieder in vielen Einzelheiten ihres Wesens unergründlich verschieden (vgl. S. 71-80) und läßt in der Fülle dieser Verschiedenheiten erst den vollen Reichtum ihres Lebens zutage treten. So leben im modernen Kulturstaat Menschen nebeneinander, die nach ihrer Abstammung mehreren Völkern und Rassen und ihren Mischungen angehören und sich nach ihrer Sprache, nach ihren körperlichen und geistigen Eigenschaften nicht unerheblich unterscheiden. Und ferner sind diese an sich schon verschiedenartigen Menschen nach dem Gesetz der Arbeitsteilung und Differenzierung wieder ungleich voneinander und vertreten die Vorzüge und Schwächen, die körperlichen, geistigen und sittlichen Merkmale der Berufe und Stände, denen sie angehören und durch die sie in ihrer Entwicklung beeinflußt worden sind. Wie soll sich nun der Züchtungsstaat zu den hieraus ableitbaren Aufgaben verhalten? Soll er Rassenzucht treiben, wie es das Programm von HENTSCHEL und seiner Versuchskolonie Mittgart ist? Soll er den germanischen, den romanischen, den slavischen, den semitischen Typus als das Züchtungsideal der Zukunft bevorzugen und ihn zum Salz der Erde machen, zu dem doch eine jede Rasse sich von ihrem Gott berufen fühlt? oder soll er, woran der amerikanische Züchter BURBANK gedacht haben soll, nach naturwissenschaftlichem Plan und nach der Art von Mendelversuchen Kreuzungen vornehmen, von denen der Experimentator schon eine recht erkleckliche Zahl in einem Programm für viele Jahrhunderte aufstellen könnte? Schon die Fragen aufwerfen, heißt die Unmöglichkeit ihrer Ausführung dartun! Obwohl unsere Generation wie im Zeichen des Verkehrs, so auch im Zeichen des Experiments steht, ist es doch besser, kein Wort mehr über die experimentellen Unmöglichkeiten zu verlieren.

Und steht es etwa besser mit der Aufgabe des Menschenzüchters im Hinblick auf die zahllosen Anforderungen, die das Gesetz der Arbeitsteilung und Differenzierung in der menschlichen Gesellschaft zu berücksichtigen verlangt? Mit der Redensart "Auslese der Tüchtigen' ist hier nicht gedient. Im politischen Leben mag sie ihre guten Dienste leisten, um bei einer großen Hörerschaft und in der großen Presse billige Wirkungen zu erzielen, da unter dem vieldeutigen Schlagwort jeder nach seinen eigenen Interessen sich etwas Verschiedenes, ihm Erwünschtes, denkt; aber bei der Zuchtbehörde gilt es Worte in praktische Taten umzusetzen! Welche menschliche Tüchtigkeit soll denn nun von ihr gezüchtet werden?

Die Fähigkeiten eines Gelehrten sind andere als diejenigen eines Künstlers, und sie sind unter den Gelehrten selbst sehr verschieden, je nach den Gebieten, auf denen sie tätig sind, unter denen das eine mehr großes Gedächtnis und Fleiß, ein anderes Beobachtungs- und Erfindungsgabe, ein anderes wieder mathematische Anlagen erfordert. Die Begabungen der Künstler sind vielleicht in noch höherem Grade verschieden, je nachdem sie auf dem Gebiete der Dichtkunst, der Musik, der Malerei, der Plastik und der Architektur liegen. Ebenso verhält es sich auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit in einem reich gegliederten Kulturstaat. Jeder Beruf, jeder Arbeitsstand, jedes Gewerbe verlangt seine besonderen Fähigkeiten und eine dementsprechende Tüchtigkeit, nach welcher der einzelne in seinem Kreise gewertet wird. Bei der Wertung innerhalb eines Berufes aber ergibt sich in den verschiedenen Fällen selbst wieder eine abgestufte Reihe vom Tüchtigsten bis zum minder Tüchtigen und schließlich zum unbrauchbar Untüchtigen herab. Außerdem sind alle diese arbeitenden menschlichen Wesen, von denen jeder tüchtig und minder tüchtig in seiner Art, zugleich aber auch untüchtig in sehr vielen anderen Beziehungen ist, die für ihn als arbeitsteiliges Glied der Gesellschaft nicht in Frage kommen, wieder verschieden nach sittlichen Maßstäben, verschieden an Wert in der Familie, in der Gesellschaft und in ihrer Beteiligung an sozialen und politischen Vereinen, verschieden in körperlicher Kraft und Schönheit, an Gesundheit und Widerstand gegen äußere Einflüsse. Wie soll sich demgegenüber eine menschliche Zuchtbehörde verhalten? Welche von den unzähligen Tüchtigkeiten verschiedenster Art soll sie begünstigen und nach welchem Wertungsmaßstab, der anstatt eines subjektiven ein objektives Urteil ermöglicht, ihre vermutlichen Träger für die Zucht auslesen? Vermutliche Träger müssen wir sagen. Denn in dem Kind und der schulpflichtigen Generation sind erst die Anlagen für alle die Erfordernisse, welche die werktätige Gesellschaft stellt, vorhanden; sie werden gepflegt und erzogen. Was aber aus allen den schlummernden Anlagen, die sich allmählich bald früher bald später zu entfalten beginnen, im Endergebnis wird, stellt sich doch erst mit Sicherheit bei dem Wettkampf des Lebens selbst heraus. Nicht vor Prüfungskommissionen, sondern im Leben wird schließlich über die Tüchtigkeit und vor allem über den Wert des einzelnen für die Gesellschaft entschieden. Gewöhnlich aber zeigt sich gerade bei den höchsten Fähigkeiten, durch welche die Wohlfahrt und der Fortschritt der Gesellschaft am meisten gefördert wird, erst in höheren Lebensjahren, welche die Tüchtigsten sind. Denn sie bedürfen sowohl der längsten und sorgfältigsten Pflege zu ihrer Entwicklung, also auch der passenden Gelegenheit zu ihrer vollen Entfaltung. Dabei sei auch nicht vergessen, daß nicht wenige hochbegabte und durch ihre Leistungen sehr verdiente Menschen von den Mitlebenden ganz verkannt und erst nach ihrem Tode, zuweilen nach einer leidensvollen Laufbahn, nach Verdienst gewertet werden, so daß sie noch eine nachträgliche Berühmtheit erlangen.

Gesetzt endlich den so unwahrscheinlichen Fall, daß eine menschliche Zuchtbehörde die nötige Einsicht besäße, die verschiedenen Arten und Grade der Tüchtigkeiten, deren die arbeitsteilige Gesellschaft bedarf, schon frühzeitig zu erkennen und die einzelnen den für sie geeigneten Berufen durch Auslese zuzuführen, so würde sie sich doch noch vor neue Schwierigkeiten gestellt sehen. Denn Staat und Gesellschaft haben nur einen beschränkten Bedarf für die einzelnen Arten der besonderen Tüchtigkeiten. Stände und Berufe befinden sich in bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen voneinander, durch welche die Zahl und das Wohlergehen ihrer Glieder geregelt wird. Sollte eine Züchtungsbehörde in einer heranwachsenden Generation 10 mal soviel Begabte entweder für gelehrte oder für künstlerische, entweder für juristische oder für ärztliche Berufe auslesen, als ein Bedarf vorhanden ist, so würde ihre Zuchtwahl in der Hauptsache eine verfehlte und für die natürliche Entwicklung des Staates verkehrte gewesen sein; sie würde sich daher in die unangenehme Lage versetzt sehen, sich bei ihrem Verfahren nicht allein nach der spezifischen Tüchtigkeit der Auszuwählenden, sondern auch nach dem jeweiligen Bedarf zu richten; sie wäre also selbst ihrem heiligen Zuchtwahlprinzip bei seiner Durchführung untreu geworden und hätte sich von ihrer Unzulänglichkeit überzeugen müssen.

Überhaupt ist ernstlich vor der Ansicht zu warnen, welche uns auf den vorhergehenden Seiten öfter entgegengetreten ist und welche dahin geht, in der gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung einen Fortschritt durch Zwangsmaßregeln erreichen zu wollen, auch wenn diese in einem grellen Widerspruch zum allgemeinen Volksempfinden stehen. Hierauf sollte von den Ultradarwinianer bei ihren sozialen Reformvorschlägen auch noch in mancher anderen Beziehung mehr als geschehen ist, geachtet werden. Denn Nichts ist geeigneter, den sozialen Klassenhaß zu schüren und die Wege der internationalen Sozialdemokratie, dem Marxismus, zu ebnen als so unbedacht geäußerte und zugleich falsche Lehren, daß die verwahrlosten Arbeiterviertel mancher Fabrikstädte wie Ostlondon als Nationalheilstätten durch die Ausjätung der im Daseinskampf Unterlegenen zu schätzen seien. ENGELS Buch über die Lage der arbeitenden Klassen in England hat durch seine Beschreibung des Proletarierelends und seiner Wohnungsverhältuisse in Manchester viel dazu beigetragen, sowohl den Widerstand der unteren gegen die oberen Klassen als auch das Gefühl für seine Berechtigung und das soziale Mitempfinden in den nicht beteiligten Kreisen zu wecken.

Auf die Abwehr des sozialen Darwinismus, die ich hiermit abschließe, lasse ich noch einige Worte über die Wege und Ziele folgen, auf denen sich die soziale Gemeinschaft der Menschen weiter entwickeln und vervollkommnen wird. Denn darin, daß sie noch in vieler Hinsicht sehr verbesserungsbedürftig ist, muß ich den Forschern, deren Reformvorschläge ich nicht teilen konnte, vollkommen beipflichten. Aber ich vertrete auch hier an Stelle der von DARWIN gelehrten natürlichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein wie auf allen Gebieten der Biologie, den Menschen mit eingeschlossen, die Theorie der direkten Bewirkung, die das Kausalitätsgesetz zu ihrer Grundlage hat. Um die Veränderungen bei der Entwicklung eines Lebewesens zu verstehen und unter allgemeine Gesichtspunkte zu gruppieren, empfiehlt es sich, die äußeren und die inneren Ursachen oder Faktoren des Entwicklungsprozesses zu unterscheiden. Das kann auch bei dem vorliegenden Thema geschehen.

Die äußeren Faktoren umfassen alle denkbaren Beziehungen der menschlichen Gesellschaft zu ihrer Umwelt und alle sich hieraus für sie ergebenden Entwicklungsbedingungen. In dieser Richtung eröffnet sich noch eine weite Perspektive für unabsehbare Fortschritte der Menschheit zu höherer Kultur. Denn noch bietet die Erde eine ungeheure Arbeit für produktive, menschliche Tätigkeit. Nicht nur sind große unkultivierte Länderstrecken ökonomisch zu verwerten, anzubauen und für menschliche Bedürfnisse der verschiedensten Art nutzbar zu machen, sondern es läßt sich die Ertragsfähigkeit des Bodens auch in den am besten kultivierten Ländern durch wissenschaftlich rationellere Methoden oft um ein mehrfaches steigern. Überall harren in der Tiefe unseres Erdballs, der auf ausgedehnten Gebieten geologisch fast gar nicht untersucht ist, alle möglichen Bodenschätze, deren Hebung und zweckentsprechende Verwertung den Reichtum und das Wohlbefinden der Menschen in ungeahnter Weise steigern wird. Wissenschaft und Technik werden auf lange Zeit hinaus vor stets neuen, großen Aufgaben stehen, welche zum Zweck haben, die unorganische und die organische Natur dem Menschen durch neue Entdeckungen und Erfindungen nutzbar und dienstbar zu machen. Immer mehr wird mit kunstvollen Wegen des Verkehrs, durch Eisenbahn- und Kanalbauten, die Erde umspannt, und so die Möglichkeit geschaffen werden, die nach Klima und Boden verschiedenen Erzeugnisse von entfernten Ländern und von Kontinenten gegeneinander auszutauschen. Immer besser wird der Kulturmensch, gestützt auf die Fortschritte seiner Erkenntnis von den Gesetzen der Natur, sich von den schädlichen Einflüssen des Klimas unabhängig machen; er wird die ihm feindlichen Mächte der Natur, unter ihnen vor allen Dingen auch die kleinsten und darum für ihn gefährlichsten Lebewesen, die als Infektionserreger eine Ursache verheerender Krankheiten sind, von sich abzuwehren oder ihre ursprünglich verderblichen Wirkungen wenigstens abzuschwächen wissen.

Nicht geringere Arbeit zur Hebung und Veredelung des Menschengeschlechts ist durch Beeinflussung und Veränderung der inneren Faktoren des gesellschaftlichen Getriebes noch in ferne Zukunft hinein zu leisten, durch bessere Organisation der menschlichen Gesellschaft und durch zweckentsprechende Ausbildung der körperlichen, geistigen und sittlichen Anlagen der einzelnen in allen Schichten der arbeitsteilig gewordenen Bevölkerung. An Stelle des trügerischen, als Naturgesetz ausgegebenen Phantoms der negativen und der positiven Auslese ist der wahre Fortschrittshebel die planmäßig durchgeführte Erziehung des Volkes in allen seinen Schichten, ferner die dem Einzelzweck am besten angepaßte Vorbereitung für die Arbeit in den niederen und höheren Berufsarten und nicht am wenigsten die Hemmung aller zersetzenden Kräfte und die Belebung aller altruistischen sittlichen Kräfte, welche die Glieder eines staatlichen Organismus im Bewußtsein ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und der Notwendigkeit gegenseitiger Hilfe zusammenhalten, also: Stärkung des Familiensinnes, der Liebe zu den näheren und weiteren Volksgemeinschaften, die Liebe zum Vaterland und eine sie ergänzende, allgemein humane Gesinnung.

Noch stehen wir in den ersten Anfängen bei der inneren Arbeit zur besseren Organisation der sozialen Gemeinschaft. Denn obwohl im Vergleich mit früheren Jahrhunderten "der Reichtum der Nationen" durch Beherrschung der Naturkräfte und Ausnützung der Naturschätze sich in einer verhältnismäßig kurzen Zeit so ungemein gesteigert hat, ist derselbe doch für die allgemeine Wohlfahrt noch wenig zur Geltung gekommen. Während in einzelnen Gesellschaftskreisen Luxus und Wohlleben wie zur römischen Kaiserzeit gewachsen sind und nach außen, oft in beleidigender Weise, zur Schau getragen werden, herrschen Armut, Not und Elend in weiten Schichten des werktätigen Volkes, in Stadt und Land. Viele Mitmenschen leben mit ihren heranwachsenden Kindern einen Tag um den anderen von der Hand in den Mund, erfüllt von der Sorge, daß sie nicht mit ihrer Nachkommenschaft der Ausjätemaschine der negativen Auslese verfallen. Hier liegt der Scheideweg, an welchem sich zwei Weltanschauungen trennen, die kaltherzige, auf eingebildeterNaturwissenschaft beruhende Anschauung der Manchesterleute und der Sozialdarwinianer und die in Jahrtausenden schon gepflegte, in allen Wechselfällen der Geschichte sich immer wieder neu belebende, christlich humane, soziale Weltanschauung.

Englands Ostlondon und die ihm entsprechenden Quartiere des Elends in seinen großen Fabrikstädten, die slums in New York, Chicago und San Franzisko, ihre Einwanderer-, Juden- und Chinesenviertel, dienen fürwahr nicht der zukünftigen Veredelung des Menschengeschlechts durch negative Auslese, sondern sind Geschwüre am Körper eines staatlichen Organismus; es sind soziale Schäden, die offensichtlich für jedermann zutage treten und Heilung erfordern. Es ist eine faule Ausrede, die sich in derartigen und anderen Erscheinungen äußernde menschliche Not einfach als eine selbstverschuldete zu beschönigen oder gar in ihr eine gerechte Strafe des Himmels zu erblicken, welche Minderwertige mit der Strenge eines Naturgesetzes trifft. Wir müssen es billigen, wenn BOOTH in seinem "darkest England" "die antichristlichen Wirtschaftslehrer anklagt, die es für einen Verstoß gegen die Lehre vom Überdauern der Tüchtigsten halten, die Schwächsten vom völligen Untergang zu retten und für die Pflicht einer auf ihr Wohl bedachten Gesellschaft, denen, die einmal gefallen sind, auch noch auf den Rücken zu knieen" (zitiert nach TILLE, 1893, l. c. S. 270). Denn was aus einem Menschen wird, hängt nicht nur von seiner angeborenen Anlage, sondern ebensogut auch von den sozialen Bedingungen ab, unter denen er aufwächst und wohnt, unter denen er Arbeit suchen, sein Leben fristen, eine Familie begründen muß. Mancheiner wird zum Alkoholmißbrauch getrieben, nicht aus angeborener Naturanlage, sondern aus Gelegenheitsursachen, sehr häufig infolge langdauernder Arbeitslosigkeit oder unter dem Einfluß der Not, um im Rausch auf Stunden seine Sorgen zu vergessen. Auch pflanzliche Samen, die nach Anlage gleichwertig sind, liefern sehr verschiedene Produkte, je nachdem sie auf einen gut kultivierten Boden oder in eine sandige und wasserarme Wüste ausgesät werden. Die einen gedeihen zu üppigen und kräftigen Exemplaren und erzeugen hundertfältige Frucht, die anderen werden, wenn sie nicht schon als Sämlinge zugrunde gehen oder bald darauf verdorren, kleine Hungerpflänzchen, die nur wenig Samen geben.

Darum bietet die innere Organisation der menschlichen Gemeinschaft ein ebenso weites Feld für eine glücklichere Zukunft und weitere Veredelung der Menschheit, als die Verbesserung der äußeren Faktoren des Daseins durch vollkommenere Beherrschung der Naturkräfte und durch Vermehrung des äußeren Reichtums der Nationen.

Unser positives Programm, welches die Theorie der direkten Bewirkung auf sozialem Gebiet zur Anwendung bringt, fällt in seinen großen Richtlinien mit der Entwicklung zusammen, welche die soziale Frage seit einem halben Jahrhundert bei uns in Deutschland genommen hat. Es läßt sich kurz dahin zusammenfassen: Hebung der menschlichen Gesundheit in allen Volksständen durch soziale, medizinische und hygienische Maßnahmen, Verlängerung des Lebens durch Bekämpfung der Ursachen vorzeitigen Todes, durch Verhütung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten, durch Vernichtung schädlicher Mikroorganismen, des Cholera-, Typhus-, Tuberkelbazillus u. a., wobei es allerdings noch der fortgesetzten, wissenschaftlichen Prüfung bedarf, daß nicht durch das empfohlene Heilmittel auch Schaden in anderen Beziehungen dem zu heilenden Körper zugefügt wird. Hierzu gesellt sich der Kampf gegen soziale Laster jeder Art wie gegen Trunksucht und überhaupt gegen den Mißbrauch alkoholischer Getränke und anderer narkotischer Substanzen (Morphium, Kokain, Nikotin), Verbesserung des Wohnungswesens und Maßnahmen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz auch in den untersten Bevölkerungsschichten. Einen ruhmvollen Anfang in dieser Richtung hat schon im Deutschen Reiche bald nach seiner Begründung die zum Schutze der Schwachen und Hilfsbedürftigen begonnene soziale Gesetzgebung gemacht durch Einführung der Alters-, Invaliditäts- und Unfallsversicherungsgesetze.

Ganz im Gegensatz zu dem Programm des sozialen Darwinismus bezeichnet BISMARCK die von ihm als Staatsnotwendigkeit erkannte Reform in der von Kaiser WILHELM erlassenen Botschaft als "eine Weiterentwicklung der aus der christlichen Gesittung erwachsenen, modernen Staatsidee, nach welcher dem Staate neben der defensiven, auf den Schutz bestehender Rechte abzielenden Aufgabe auch obliegt, durch zweckmäßige Einrichtungen und durch Verwendung der zu seiner Verfügung stehenden Mittel der Gesamtheit das Wohlergehen aller seiner Mitbürger und namentlich der Schwachen und Hilfsbedürftigen zu fördern

Damit hat Deutschland unter den Völkern des Erdkreises zuerst eine Bahn beschritten, auf der es durch praktische Maßnahmen, durch Taten, welche mehr wiegen als Worte, für das Wohl der arbeitenden Klassen und der wirtschaftlich Schwachen mehr Wertvolles und wirklich Förderliches geleistet hat als alle anderen Staatswesen, die sich zum Teil nur dem Namen nach als Demokratien bezeichnen. Unsere großen Städte und Industriezentren, so verbesserungsbedürftig auch noch die Wohnungs- und Arbeiterverhältnisse in manchen Dingen sein mögen, haben keine "slums" und kein "East London" aufzuweisen.

Durch den Krieg und durch die in seinen weiteren Folgen ausgebrochenen mehr oder minder revolutionären Arbeiterbewegungen ist in den besiegten und siegreichen Staaten die soziale Frage noch mehr wie früher in den Vordergrund getreten. Alle Daseinsbedingungen sind in Fluß und Aufruhr geraten. Ein Chaos der verschiedensten Meinungen und Weltbeglückungsideen, ein Zerfall sowohl von veralteten wie von bewährten Einrichtungen macht sich überall bemerkbar, so daß man wohl besorgt um die Zukunft fragen kann, was wird aus alledem noch werden. Täusche ich mich nicht, so macht sich schon der Bankrott der auf die Lehren von Marx und Engels gestützten, internationalen Sozialdemokratie bemerkbar. Sie hat zur Verelendung Rußlands geführt, sie hat das Wirtschaftsleben der Mittelstaaten Europas schwer gestört und jedenfalls nicht besser und vollkommener gemacht; an Stelle der alten Ordnung, wenn sie in vielen Dingen auch unvollkommen war, hat sie jedenfalls bisher kein besseres und wohnlicheres Haus gesetzt. Allmählich werden besonnene und intelligente Elemente in den Arbeiterkreisen zur Erkenntnis kommen, daß das ihnen im Zukunftsstaat verheißene Wohlleben eine Utopie ist und daß die weitere soziale Entwicklung sich nicht nach dem Programm des kommunistischen Manifestes vollziehen wird, daß sie also getäuscht worden sind.

Trotzdem hat die soziale Idee einen sehr berechtigten Kern und wird, wie die Gegenwart auch noch die nächsten Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte beschäftigen, ehe die wirtschaftliche Weltrevolution, in der wir stehen, wieder zu einem Zustand längerer Ruhe in der Menschheitsentwicklung führen wird.

Hierbei wird der Staat Sieger bleiben, dem es gelingt, anstatt der Diktatur des Proletariats eine Versöhnung der verschiedenen Klassen und Berufe der Bevölkerung in der zeitgemäßen Durchführung des sozialen Gedankens herbeizuführen. In diesem Sinne scheint mir die Zukunft, wenn auch nicht der internationalen Sozialdemokratie von Marx, Engels und Genossen, so doch dem Sozialismus anzugehören.

Ein derartiges Programm wird Deutschlands wichtigste Aufgabe nach dem traurigen und schmachvollen Zusammenbruch am Kriegsende bei seinem Aufbau sein müssen. Die Not wird hierbei zu seinem Lehrmeister werden und es hoffentlich zur Einsicht bringen, daß nur bei gegenseitiger Hilfe durch Arbeitsamkeit, Genügsamkeit in materiellen Genüssen, durch geduldige Ausdauer und Verzicht in vielen Dingen die uns bevorstehende Leidenszeit zu einer besseren Zukunft führen wird.

Wie ich schon in der ersten Auflage unter anderen Verhältnissen an einem Beispiel hervorhob, hat die Not des Krieges uns als Ergänzung zu der allgemeinen Wehrpflicht ein Gesetz der zivilen Dienstpflicht gebracht. Wem aber Pflichten vom Staat auferlegt werden, der kann nach dem Grundsatz der gegenseitigen Hilfe auch eine entsprechende Gegenleistung für sich fordern. Daher wird in der Zeit des Friedens dem Zivildienstpflichtgesetz zum weiteren Ausbau unserer sozialen Gesetzgebung sich ein Gesetz über "das Recht auf Arbeit" folgerichtig anschließen müssen. Durch ein solches soll in wirtschaftlichen Notstandsjahren, in denen Industrien unter Mangel an Beschäftigung leiden, von Staats- und Gemeindewegen für Arbeitsgelegenheit gesorgt werden, wenn im freien Spiel der Kräfte die Privatarbeitgeber versagen. Auch dies ist eine Forderung "der aus christlicher Gesinnung erwachsenen, modernen Staatsidee", wenn man überlegt, wie länger dauernde Arbeitslosigkeit auf viele Arbeiterfamilien demoralisierend wirkt, sie aus geordneten Verhältnissen herausreißt und dauernd in Not und Elend stößt. Und diese Forderung läßt sich auf dem Stadium der gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklung um so besser erfüllen, je mehr der Staat mit seinen Gemeinden der größte Arbeitgeber wird und außerdem sogar auch noch die Möglichkeit hat, die erforderlichen Mittel in Zeiten der Not durch Staats- und Stadtanleihen aufzubringen. Denn wo könnte es in einem gesunden Staatswesen je an sozial notwendiger, nutzbringender Arbeit fehlen, in der Kultivierung des Bodens, in der Verbesserung des Wohnungswesens für Arbeiter, in dem Ausbau von Verkehrswegen zu Lande und von Schiffahrtskanälen, in der Erschließung der Bodenschätze und in der Ausnutzung aller Arten von Naturkräften!


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Erstellt am 6. August 2001 von Kurt Stüber.