Oscar Hertwig:
Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus

Dritter Teil. Erster Abschnitt

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Dritter Teil. Erster Abschnitt

Der soziale Darwinismus.

A. Die Lehren und Ziele desselben.

In noch weit höherem Grade als die Ethik ist das soziale Gebiet zum Tummelplatz für allerlei Reformversuche auf der Grundlage der Lehre vom Daseinskampf und von der natürlichen Zuchtwahl geworden. Hier bieten sich medizinische, hygienische und wirtschaftliche Fragen in Hülle und Fülle zu Angriffsobjekten für einen sozialen Darwinismus dar. Unter den in dieser Richtung tätigen Schriftstellern fällt die große Zahl der Ärzte auf. Sie betreiben eine eifrige Propaganda zur Anbahnung einer zielbewußten, systematischen Rassenhygiene. Zeitschriften, welche als eine Stütze und als ein Sammelpunkt für diese Bestrebungen dienen sollen, werden gegründet, z. B. das Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie von PLOETZ; Vereine bilden sich, um die in Entstehung begriffene Bewegung der Volks-Eugenik zu pflegen; sie werden von SCHALLMAYER als die weitaus wertvollste Folge des Darwinismus begrüßt. Wie im 18. Jahrhundert ein Preisausschreiben den Anlaß zu ROUSSEAU's "Discours sur linégalité" (1754) dem Vorläufer seines "Contrat social (1762), bot, so forderten im Jahre 1900 die Professoren CONRAD, FRAAS und HAECKEL die Vertreter der Wissenschaften aus allen Ländern zur Bearbeitung eines Preisausschreibens über die Frage auf: "Was lernen wir aus den Prinzipien der Descendenztheorie für die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?" So empfänglich war die Zeit für dieses Thema, daß nicht weniger als 60 Bearbeitungen einliefen und daß das umfangreiche Buch von SCHALLMAYER, welchem der erste Preis zuerkannt wurde, schon 1910 in einer zweiten Auflage erscheinen konnte. Als Preisrichter fungierten der Nationalökonom CONRAD, der Historiker DITR. SCHÄFER und der Zoologe ZIEGLER. Der Titel von SCHALLMAYER's Buch, das uns noch öfters beschäftigen wird, lautet: "Vererbung und Auslese in ihrer soziologischen und politischen Bedeutung. Preisgekrönte Studie über Volksentartung und Volkseugenik."

Fast in allen Schriften dieser Richtung begegnet man der stets wiederkehrenden, schon von DARWIN geäußerten Befürchtung, daß der Mensch bei Abnahme der züchtenden Wirkung des Kampfes ums Dasein einer rückschreitenden Entwicklung, also "einer Entartung" verfallen müsse. Der englische Physiologe HAYKRAFT (l. c. 1895, S. 17) hält es im Lichte der modernen Naturwissenschaft für ausgemacht, "daß die moderne Zivilisation mit ihren Bemühungen für das individuelle Behagen schließlich verderblich werden muß für die, welche nach uns kommen, es sei denn, daß wir weise vorbeugen durch Maßregeln, die unsere gegenwärtige Erkenntnis uns als notwendig zeigt." "Mit Sorge" blickt PLOETZ als Arzt "auf die Gefahren, mit denen der wachsende Schutz der Schwachen die Tüchtigkeit unserer Rasse bedroht" (l. c. 1895, S. V). Sogar ein Herabsinken einer Kulturrasse "bis unter die Begabung der australischen Rasse" hält SCHALLMAYER (1910, l. c. 179) unter diesen Verhältnissen für nicht ausgeschlossen. Nicht selten werden auch von einzelnen darwinistischen Sozialreformern Wehklagen, wie einst von den Propheten des Alten Testaments, über die Mangelhaftigkeit und Verderbtheit des gegenwärtigen Zustandes der Menschheit erhoben. Es wird unausbleiblicher Niedergang geweissagt, - wenn nicht die allerenergischsten Abwehrmaßregeln ergriffen werden, ehe es überhaupt zu spät ist. Wir werden gelegentlich mit einer solchen Prophezeiung noch bekannt werden.

Als das Heilmittel für alle Schäden des sozialen Körpers wird die natürliche Auslese in ihrer Anwendung auf die menschliche Gesellschaft gepriesen. In seiner preisgekrönten Schrift will SCHALLMAYER (1910, l. c. S. 346) alle menschlichen Einrichtungen unter dem Gesichtspunkt des auslesenden Daseinskampfs bei der Gesetzgebung usw. beurteilt wissen. "Alle kulturellen Errungenschaften," erklärt er, "alle gesellschaftlichen Einrichtungen, besonders die durch Sitte und Recht geschaffene sexuelle Ordnung einschließlich der Familienordnung, die Eigentums- und Wirtschaftsordnung, die politische Organisation, die religiösen Einrichtungen, die geltenden Anschauungen über gut und böse oder gut und schlecht, die Verbreitung und Tiefe der sittlichen Bildung, der Stand der Wissenschaften und das Maß ihrer Popularität, die Entwicklung der Technik, die Rechtspflege usw. müssen unter den Gesichtspunkt für die Daseinskonkurrenz der Stämme, Völker und Staaten gestellt werden."

Zur vorläufigen, allgemeinen Charakteristik der sozialen, vom Darwinismus aus entstandenen Bewegung mögen jetzt noch zwei Bemerkungen dienen. Einmal gehören ihre Vertreter fast ohne Ausnahme dem Ultradarwinismus oder der extremeren Richtung an, welche von GALTON und WEISMANN ausgebildet worden ist - Sie lassen auch bei der Beurteilung menschlicher Verhältnisse nur die bis zum Extrem durchgeführte Zufalls - und Selektionstheorie oder die "Allmacht der Naturzüchtung" gelten. Indem sie die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften unter Berufung auf WEISMANN, ebenso entschieden wie dieser, ganz in Abrede stellen, oder wenigstens als sehr unwahrscheinlich bezweifeln, messen sie dem Einfluß äußerer Lebensbedingungen, der günstigen Wirkung von körperlicher und geistiger Übung, von Erziehung und Unterricht für die Entwicklung der menschlichen Rasse entweder keine oder nur eine sehr geringe Bedeutung bei. Denn nach WEISMANN's Lehre sind ja die durch sie erzielten Veränderungen der einzelnen Menschen nicht vererbbar und daher auch ohne Einfluß für die völkische Weiterentwicklung.

WALLACE, HAYKRAFT, AMMON, SCHALLMAYER, von EHRENFELS, um nur einige zu nennen, bekennen sich zu diesem Standpunkt. WALLACE sieht in der Lehre von GALTON und WEISMANN eine nicht unbedeutende Vereinfachung, da "sie die Auslese, in welcher Form sie auch auftreten mag, zu dem einzig möglichen Mittel zur Hebung der Rasse mache". (WALLACE, Menschliche Auslese, 1894, Harden's Zukunft, Bd. 8. S. 11.)

HAYKRAFT (1895, l. c. S. 19-20) betont die seltene Einmütigkeit der Forscher, welche sie zu dem Ergebnis geführt habe, daß erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden, daß die Nachkommen vielmehr ganz an derselben Stelle wieder anfangen müssen, wie ihre Erzeuger, daß daher eine Rassenverbesserung einzig und allein durch Auslese möglich sei. Unter dem gleichen Gesichtspunkt begrüßt SCHALLMAYER 1910, l. c. S. 166) die Lehre WEISMANN's als "eine biologische Frage von größter soziologischer Bedeutung" und da er sie für richtig hält, bezeichnet er es als einen "naiven Optimismus" oder mit MARTIUS als "einen naiven Lamarckismus", wenn man vielfach "von Verbesserungen in der wirtschaftlichen Lage der besitzarmen Klassen, von Verkürzung ihrer Arbeitszeit und sonstigem Arbeiterschutz, von leiblicher, intellektueller und sittlicher Gymnastik der Jugend, sowie von den günstigen Beeinflussungen der individuellen Entwicklung junger Männer durch die militärischen Übungen usw. auch günstige Wirkungen für unsere künftigen Generationen erwartet". Auch "aus der Sackgasse der beliebten Milieutheorie helfe nur die reuige Zuflucht zu der befehdeten Selektionstheorie" (l. c. S. 171).

Meine zweite Bemerkung betrifft die Stellung des sozialen Darwinismus zu anderen kulturgeschichtlichen Bewegungen der Gegenwart. Hier kann kein Zweifel bestehen, - und weitere Betrachtungen werden es noch besser zeigen, - daß derselbe seinem inneren Wesen nach ohne Zweifel in schroffem Gegensatz zu allen christlich humanen und allen sozialpolitischen Systemen der Vergangenheit und Gegenwart steht. PLOETZ und HAECKEL haben daraus kein Hehl gemacht.

PLOETZ unterscheidet in seinen Grundlinien einer Rassenhygiene (1895, l. c. S. 196-207) in einem eigenen Kapitel, indem er die Zuchtwahllehre zum Prinzip der Einteilung macht, teils nichtselektorische, teils selektorische, sozialpolitische Systeme. Zu den nicht selektorischen rechnet er die malthusianischen und alle sozialistischen Systeme, "seien sie staatssozialistisch, christlich-sozial oder sozialdemokratisch", zu den selektorischen dagegen die Systeme des reinen Manchestertums und teilweise die mehr oder weniger verwandten Systeme der Konkurrenzwirtschaftler. Während er in den ersten wegen der von ihnen angestrebten Einschränkung des Kampfes ums Dasein eine Gefahr für die Tüchtigkeit unserer Rasse erblickt, läßt er die zweiten sich mit dem Prinzip der natürlichen Zuchtwahl mehr oder minder in Übereinstimmung befinden. Und das kann ja auch kaum anders sein. Denn wie ich schon in meinem Werden der Organismen hervorgehoben habe, ist die Lehre DARWIN's aus der geistigen Atmosphäre des damaligen England geboren worden, aus einer Atmosphäre, welche in hohem Grade von HOBBES Philosophie des "Bellum omnium contra omnes", von der Verherrlichung der ungebundenen wirtschaftlichen Konkurrenz, von den Lehren und der Praxis des Manchestertums beherrscht wurde. Als Kind dieser Zeit trägt sie daher auch wieder den manchesterlichen Charakter, wenn man sie sozialpolitisch zu verwerten sucht.

Von PLOETZ wird Ernst HAECKEL als Gewährsmann für seine Einschätzung der Stellung, welche der Darwinismus zur Sozialpolitik einnimmt, aufgeführt, In seiner Streitschrift: "Freie Wissenschaft und freie Lehre" erklärt uns HAECKEL auch mit aller Deutlichkeit: "Der Darwinismus ist alles andere eher als sozialistisch. Will man dieser englischen Theorie eine bestimmte Tendenz beimessen, so kann diese Tendenz nur eine aristokratische sein, durchaus keine demokratische und am wenigsten eine sozialistische. Die Selektionstheorie lehrt, daß im Menschenleben wie im Tier- und Pflanzenleben überall und jederzeit nur eine kleine bevorzugte Minderzahl existieren und blühen kann; während die übergroße Mehrzahl darbt und mehr oder minder frühzeitig elend zugrunde geht ... Der grausame und schonungslose "Kampf ums Dasein", der überall in der lebendigen Natur wüte und naturgemäß wüten muß, diese unaufhörliche und unerbittliche Konkurrenz alles Lebendigen ist eine unleugbare Tatsache; nur die auserlesene Minderzahl der bevorzugten Tüchtigen ist imstande, diese Konkurrenz glücklich zu bestehen, während die große Mehrzahl der Konkurrenten notwendig elend verderben muß Man kann diese Tatsache tief beklagen, aber man kann sie weder wegleugnen noch ändern. Alle sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt Die Selektion, die Auslese dieser "Auserwählten", ist ebenso notwendig mit dem Verkümmern und Untergang der übrigbleibenden Mehrzahl verknüpft" (HAECKEL 1878, l. c. S. 73).

Nachdem wir uns so über das allgemeine Ziel orientiert haben, können wir zur Betrachtung der einzelnen Wege übergehen, auf denen es erreicht werden soll. Die in Vorschlag gebrachten Wege aber sind sehr zahlreich und fallen sehr verschieden aus. Sie entsprechen hierin der großen Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens und den äußerst verwickelten Beziehungen, unter denen sich die Menschen zueinander und zu der sie umgebenden Umwelt befinden. Sie lassen sich jedoch zweckmäßigerweise in zwei Gruppen sondern, deren Wegweiser nach entgegengesetzten Richtungen zeigen. Bietet uns doch auch die Selektion selbst ein doppeltes Gesicht dar, wenn es sich bei ihr nur um eine Entscheidung zwischen "nein" und "ja" handelt, wenn von den Gegenständen der Wahl die einen verworfen, die andern bevorzugt werden. Es wird daher zur weiteren Sichtung des Materials gut sein, je nachdem das Zünglein an der Wage der natürlichen Auslese nach der Minus- oder nach der Plusseite ausschlägt, zwischen den Wegen der negativen und der positiven Selektion zu unterscheiden; auf dem ersten Weg sammeln sich die Scharen der im Daseinskampf Unterlegenen, die bei der natürlichen Auslese Verworfenen, auf dem zweiten die Auserwählten.


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Erstellt am 6. August 2001 von Kurt Stüber.