Oscar Hertwig:
Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus

Zweiter Teil

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Zweiter Teil.

Der ethische Darwinismus.

Schon DARWIN selbst hat in seinen späteren Lebensjahren in einer Unterhaltung mit WALLACE, wie uns dieser in seinem kleinen Aufsatz: "Menschliche Auslese" (Harden's Zukunft 1894, Bd. 8) erzählt, sich wenig hoffnungsvoll über die Weiterentwicklung der Menschheit ausgesprochen; denn er befürchtete, daß in unserer modernen, auf christlich humanitärer Grundlage aufgebauten Zivilisation eine "natürliche Auslese" nicht zustande kommt und die Tüchtigsten nicht überleben. Es ist dies ein oft geäußerter, aus den Lehren des Darwinismus mit scheinbarer Berechtigung abgeleiteter Gedanke, gleichsam das Leitmotiv, welches bald sanfter, bald in stärkerer Instrumentation uns aus den Schriften der betreffenden Literatur entgegenklingt.

HUXLEY, WALLACE, BALFOUR, NIETZSCHE, TILLE, SCHALLMAVER, PLOETZ, AMMON und noch viele Andere beschäftigen sich mit diesem aus der Selektionstheorie neu entstandenen Problem. Sie finden, daß die menschliche Kultur, in unserem Jahrhundert mehr wie früher, immer neue und zahlreichere Einrichtungen hervorbringt, welche "kontraselektorisch", das heißt, in direktem Gegensatz zu den Forderungen der auf dem unerbittlichen Kampf ums Dasein basierten Selektionstheorie wirken, wenn diese rasseverbessernd sein soll. Wie verträgt sich, so fragen sie, die christliche Moral mit DARWIN's Lehren, ihr Mitleid für die Schwachen und Elenden, ihre Barmherzigkeit für die Verbrecher, wie die immer zahlreicher werdenden Wohlfahrtseinrichtungen, welche das Leben von Kranken und dauernd Siechen erhalten und verlängern, so daß sie noch mehr Schwächlinge erzeugen und eine Quelle von neuem Elend und von weiterer Verschlechterung der Rasse werden können? Von demselben Gesichtspunkt aus erblicken sie in den Fortschritten der ärztlichen Wissenschaft und der Hygiene, insofern sie die Ausscheidung aller minderwertigen, das Gesamtwohl herabdrückenden Elemente verhindert, ebenso in den humanen Bestrebungen einer sozialen Gesetzgebung, in der Kranken-, Invaliden- und Altersversorgung eine Gefahr für die fortschreitende Entwicklung der Menschheit. Denn sie halten eine Steigerung der Tüchtigkeit unserer Rasse nur unter der Herrschaft des unerbittlichen Kampfes ums Dasein für möglich, wie es das DARWIN'sche Naturgesetz gebietet.

Hier tut sich ohne Frage ein schroffer Gegensatz zwischen zwei entgegengesetzten Weltanschauungen auf, hier der christlich-humanen dort der neuerungssüchtigen, auf die angeblichen Gesetze der Natur sich berufenden, modernen materialistischen und mechanistischen Weltanschauung. Fast jeder der oben genannten Schriftsteller hat die Schärfe des Konflikts anerkannt und sie in dieser oder jener Weise zum Ausdruck gebracht. Wie WALLACE sucht HUXLEY zu einer Aussöhnung der Gegensätze zu gelangen. Auch er erkennt an, daß "die Ausübung des ethisch Guten, die wir als Rechthandeln oder als Tugend bezeichnen, eine Lebensführung einschließt, die nach jeder Richtung hin das Gegenteil von dem ist, was in dem Kampf ums Dasein in der Natur zum Sieg führt". Denn "an Stelle der unbarmherzigen Selbstsucht", bemerkt er, "setzt sie Selbstbeherrschung, an Stelle des Niedertretens aller Mitbewerber verlangt sie Rücksichtsnahme und Hilfeleistung für sie. Ihr Arbeiten ist weniger auf das Überleben der Tüchtigsten gerichtet als darauf, so Viele als möglich zum Überleben tüchtig zu machen. Sie weist die Auffassung des Lebens als eines Kampfes überhaupt zurück. Die sittlichen Vorschriften gehen darauf hinaus, dem Walten der Natur Schranken zu ziehen" (l. c. S. 175). Von diesem Widerspruch sucht sich HUXLEY dadurch zu befreien, daß er durch den sozialen Fortschritt das Walten der Naturmächte außer Kraft gesetzt und an ihrer Stelle etwas anderes treten läßt, das er "das Walten ethischer Mächte" benennen will. Das Endergebnis hiervon sei aber nicht "das Überleben derer, die hinsichtlich der Gesamtsumme der gerade vorhandenen Bedingungen die Geeignetesten sind, sondern die sittlich Besten". HUXLEY bezeichnet daher geradezu als eine falsche Voraussetzung der Entwicklungsethik die Ansicht, daß "wie Tiere und Pflanzen durch den Kampf ums Dasein und das Überleben der Tüchtigsten zu vollkommener Organisation aufgestiegen sind, auch die Menschen der sozialen Gemeinschaft, die Menschen als sittliche Wesen, denselben Vorgang als Mittel zur Vervollkommnung für sich betrachten sollen" (HUXLEY, Ethik und Entwicklung. Harden's Zukunft, 1893, Bd. 4, Seite 174). Der Vermittlungsversuch von HUXLEY hat indessen wenig den Beifall der Forscher gefunden, die sich mit Rassenhygiene und Entwicklungsethik beschäftigen. TILLE nennt ihn eine "Karrikierung der menschlichen Auslese" ein ebenso willkürliches wie falsches Zerrbild (1893, l. c. Seite 135, 136) und findet es von einem Naturforscher "tollkühn, den Mikrokosmos so dem Makrokosmos gegenüber zu stellen und den Menschen anzustiften, die Natur seiner Wehleidigkeit dienstbar zu machen" (Seite 130). Er betont die Unmöglichkeit des Unterfangens, das christliche Ideal der absoluten Nächstenmoral vor den ehernen Gesetzen des Darwinismus zu retten (Seite 105). Denn jenes "sichere dem Elenden die Fortpflanzung und steigere somit das Unglück in der Welt mit jedem Geschlecht (Seite 109). Zwischen der alten und der neuen Moral findet TILLE nur unversöhnliche Gegensätze. Für ihn bleibt "das einzig sichere Mittel zur Hebung der Gattung die Aufrechterhaltung der natürlichen Auslese" "das Recht des Starken gegenüber dem Schwachen" (Seite 113). Die "ganze moderne christlich-demokratische Kultur verwirft er als eine Niedergangserscheinung" (Seite 212). Er vermag die Grundlage für unser sittliches Handeln nicht mehr "in einer auf Abbruch verkauften Kirche zu sehen, von der ein Balken nach dem andern niederbricht", sondern einzig und allein in den Lehren der Naturwissenschaft (Seite 7). Hat doch die Entwicklungslehre "an Stelle des Friedensideals der Humanität das nur durch Wettbewerb und Auslese erreichbare Ideal des Rassenfortschritts gesetzt, ein Kampfideal" (Seite 96). Und so wird denn nach dem Urteil und der Hoffnung von TILLE "die geltende Moral bedingungslos fallen, je einfacher sich aus den durch die Naturwissenschaft aufgezeigten Entwicklungszielen der Menschheit neue sittliche Gebote erkennen lassen, die durch ihre eigene Wucht und Erhabenheit binnen kurzem das Eigentum des Gewissens der Gegenwart werden" (Seite 19).

Auch HAECKEL hebt in vielen seiner Schriften den notwendigen und prinzipiellen Konflikt zwischen der durch die fortgeschrittene Naturerkenntnis reformierten Ethik und den veralteten Kirchenreligionen hervor und erklärt ihn daraus, daß "diese sich ja auf mythologische Dichtungen oder angebliche Offenbarungen, jene erstere hingegen im Widerspruch dazu auf die vernünftigen Erkenntnisse der monistischen Wissenschaft gründen" (Ethik und Weltanschauung. Zukunft 1892. Bd. I. S. 310). R. STEINER leugnet aus Anlaß der Gründung einer Gesellschaft für ethische Kultur überhaupt die Existenz einer allgemein menschlichen Ethik, in der er nur ein Geschäft für müßige Köpfe sieht. Nach seiner Ansicht, mit der sich auch HAECKEL einverstanden erklärt (l. c. S. 315)' hat "der Staat nur über die Nützlichkeit oder Schädlichkeit menschlicher Handlungen zu wachen und für das Zweckmäßigste zu sorgen". Vorschriften des sittlichen Handelns gibt es für ihn nicht, nur Vorschriften der Zweckmäßigkeit (STEINER, Zukunft 1892. Bd. I. S.216, 217).

Einen philosophisch-dichterischen Ausdruck haben die antichristlichen, dem Lager der Naturwissenschaften entsprungenen Ideen durch NIETZSCHE gefunden, der unter der Jugend einen kleinen Kreis begeisterter Jünger um sich gesammelt hat. In seinen Schriften: "Jenseits von Gut und Böse", "Also sprach Zarathustra", verkündet NIETZSCHE' als moderner Moralphilosoph, neue Grundsätze zur Umwertung der durch das Christentum geschaffenen Werte; er will über der Menschheit eine neue Tafel der Werte aufhängen, mit deren Hilfe in Zukunft der starke, lebensüberströmende Mensch - der Übermensch - geschaffen werden soll. In seinen Gedankengängen ist er hierbei von DARWIN's Theorien, die seine Zeit beherrschten, gewiß nicht unbeeinflußt geblieben; er hat sie in das Gebiet des Moralischen übertragen, so daß es zwischen ihm und dem ethischen Darwinismus an Berührungspunkten nicht fehlt. Daher hat A. TILLE mit vollem Recht an das Ende der auf DARWIN sich stützenden Entwicklungsethiker NIETZSCHE gestellt, als denjenigen, welcher der neuen Richtung ihren konsequentesten Ausdruck verliehen hat; aus diesem Grund hat er auch seinem Buch über Entwicklungsethik den Titel "Von DARWIN bis NIETZSCHE" gegeben. Wie nicht zu leugnen ist, führt von jenem zu diesem ein gerader und in gewisser Hinsicht folgerichtiger Weg.

Züchtung des Übermenschen ist NIETZSCHE's neues Losungswort. Der Übermensch ist ihm der eigentliche Sinn der menschlichen Entwicklung; das Volk dagegen besteht "aus den Vielen, Allzuvielen; es ist nur der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben großen Männern zu kommen". Darum muß "die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen, stärkeren Spezies Mensch geopfert werden". "Das Ziel der Menschheit liegt in ihren höchsten Exemplaren."

An Stelle des Kollektivismus, welcher die Grundlage der Moral ist, stellt NIETZSCHE den extremsten Individualismus und die durch keine Fesseln gehemmte Entwicklung der mächtigen Persönlichkeit. Nach seiner Wertungsweise ist eben alles, was aus der Stärke stammt, gut; was aus der Schwäche stammt, schlecht (Zarath. XI, XII). Denn "Leben ist ihm wesentlich Aneignung, Verletzung, Uberwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte,Aufzwingung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung".

NIETZSCHE bezeichnet daher die christliche Sittenlehre als eine Sklavenmoral, die auf die Verschlechterung der menschlichen Rasse hingewirkt hat; er stellt ihr als die Ethik der Zukunft seine Herrenmoral gegenüber, die zur Züchtung der bedeutenden Menschen dienen soll. Wenn aber "der Mensch von heute überwunden werden soll, dann müssen die schlechtesten, die "Niedrigen, die Vielzuvielen geopfert werden". Daher haben "der Krieg und der Mut mehr große Dinge getan als die Nächstenliebe".

So geißelte denn auch NIETZSCHE von seinem Standpunkt aus die Lehre des Christentums und des Rousseauismus von der Gleichheit der Menschen und nennt den modernen demokratischen Staat den "neuen Götzen". Ich führe eine Stelle aus seinem Zarathustra an: "Der Pöbel blinzelt: "wir sind alle gleich". "Ihr höheren Menschen - so blinzelt der Pöbel - es gibt keine höheren Menschen; wir sind alle gleich, Mensch ist Mensch; vor Gott - sind wir alle gleich!" Und Zarathustra bemerkt dazu: "Vor Gott! - Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollen wir nicht gleich sein".

Wie aus schriftlichen Äußerungen hervorgeht, war sich NIETZSCHE klar bewußt, daß mit der von ihm vorgetragenen Lehre sich die seit zweitausend Jahren gültige Moral nicht vereinbaren läßt. Und so hat er sich selbst einmal bei Erläuterung seines Buches: "Also sprach Zarathustra", den ersten Immoralisten genannt. Seine Ideen habe er dem Zarathustra in den Mund gelegt, weil dieser zuerst die Moral als seinen verhängnisvollsten Irrtum geschaffen habe, und daher auch der erste sein sollte, der seinen Irrtum wieder erkenne. Denn Zarathustra's Lehre habe zugleich auch die Wahrhaftigkeit als oberste Tugend gepredigt, "das heißt den Gegensatz zur Feigheit des ´Idealisten´, der vor der Realität die Flucht ergreift". Da nun NIETZSCHE in der ganzen Geschichte der Menschheit nur eine "Experimental-Widerlegung" vom Satz der sogenannten "sittlichen Weltordnung" sieht, erklärt er: "Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz - in mich -: das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra" (l. e. Zarath. S. XXIX).

Wenn ich soeben einige deutsche Schriftsteller als Gegner der christlichen Ethik angeführt habe, so will ich damit keineswegs ausdrücken, daß die Richtung in Deutschland entstanden oder besonders stark vertreten ist. Aus der französischen, englischen, amerikanischen, russischen Literatur würden sich ähnliche Urteile zusammenstellen lassen; denn sie sind der natürliche Ausdruck von Gedankengängen, die durch die moderne, naturwissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung und ganz besonders durch DARWIN's Lehren "vom Kampf ums Dasein, von der natürlichen Auslese und von der hieraus abgeleiteten Fortschrittstendenz der Entwicklung" angeregt worden sind. HUXLEY zum Beispiel, empfing den Anstoß zu seinen oben besprochenen Essays aus gegenteiligen Stimmen der englischen Gelehrtenwelt. TILLE, obwohl ein Deutscher, hat längere Zeit in England gelebt und beruft sich häufig auf englische Schriftsteller, mit deren Ansichten er genau vertraut ist. Ebenso habe ich deutsche Gewährsmänner nur deswegen vorzugsweise genannt, weil mir die deutsche Literatur näher liegt und besser bekannt ist.

Eine Abwehr des ethischen Darwinismus scheint mir mit Erfolg nur dann möglich zu sein, wenn ich ihm auf dem Boden der Naturwissenschaften, auf dem er entstanden ist, auch wieder entgegentrete. Somit führe ich hier nur die Aufgaben weiter fort, die ich mir schon in meinem "Werden der Organismen" gesetzt habe; ich werde als Naturforscher zunächst die sittlichen, sowie in den folgenden Abschnitten die sozialen und die staatlichen Probleme, soweit sie mir von Vertretern des Darwinismus auf falsche Bahnen gelenkt zu sein scheinen, besprechen. Wenn ich hierbei von anderen Gelehrten, von HAECKEL mit seiner monistischen Lehre, von HUXLEY in seinen sozialen Essays, von GALTON, CARNERI, TILLE u. a. wesentlich abweiche, so führe ich dies hauptsächlich auf zwei Punkte zurück: erstens auf meine abweichende Beurteilung der DARWIN'schen Formel und zweitens auf meinen erkenntnistheoretischen Standpunkt, welchen ich gegenüber der mechanischen Betrachtungsweise, wenigstens in der Form, wie sie gegenwärtig meist gelehrt zu werden pflegt, einnehme. Da ich mich über die Selektionstheorie und die mit ihr zusammenhängenden biologischen Fragen schon im vorhergehenden Abschnitt und in meinem Buch vom "Werden der Organismen" näher ausgesprochen habe, gehe ich gleich zum zweiten Punkt, zu meinem erkenntnistheoretischen Standpunkt über.

Bei der Beurteilung der Stellung, welche die belebte und die unbelebte Natur zueinander einnehmen, machen sich in der Geschichte der Biologie drei verschiedene Richtungen geltend: die vitalistische, die mechanistische und eine dritte, welche die Einseitigkeiten dieser beiden zu vermeiden und ihre Gegensätze zu versöhnen sucht. Drei ähnliche Standpunkte lassen sich auch in der Beurteilung des Verhältnisses erkennen, in welchem die menschliche Gesellschaft mit der von ihr erzeugten geistigen und sittlichen Welt zu der ihr untergeordneten Tierwelt steht. Was ich meine, werden einige Erläuterungen an Beispielen klarer machen.

Einen Standpunkt, welchen man dem vitalistischen vergleichen kann, nimmt der Mitbegründer der Selektionstheorie, ALFRED WALLACE, in seinen schon früher (S.3) kurz besprochenen Äußerungen ein; ebenso der große englische Biologe HUXLEY, der als Meister der Darstellung durch seine zahlreichen Essays zur Verbreitung des Darwinismus in England ebensoviel wie HAECKEL in Deutschland beigetragen hat. HUXLEY erkennt zwar ganz richtig an, daß die menschliche Gesellschaft, wie die Kunst, nur ein Teil der Natur ist, hält es aber trotzdem zur Entwicklung seines Standpunkts für bequem und vorteilhaft, sie als etwas von der Natur Verschiedenes zu betrachten, weil sie ein bestimmtes sittliches Ziel hat. Daher läßt er den Weg, den der sittliche Mensch als Bürger geht, notwendigerweise den Wegen zuwiderlaufen, welchen der ursprünglich Wilde einzuschlagen die Tendenz hat (1897, l. c. S. 193). Auf diese Weise hat er den schon auf S. 27 besprochenen scharfen Gegensatz zwischen der Natur und der sittlichen Welt, in welcher der Mensch lebt, konstruiert und geradezu "ein Außerkraftsetzen des Waltens der Naturmächte und das Dafüreinsetzen von etwas anderem, das man das Walten der ethischen Mächte nennen kann" gelehrt. Er hat dadurch einen Streitfall geschaffen, wie er in ähnlicher Weise seit Jahrzehnten zwischen den Vitalisten strenger Richtung und den Mechanisten besteht, von denen diese den Lebensprozeß aus den gewöhnlichen chemisch-physikalischen Kräften restlos mechanisch erklären wollen, während jene besondere Lebenskräfte hierfür in Anspruch nehmen. HUXLEY sah sich infolge seiner Stellungnahme Angriffen von beiden Seiten ausgesetzt, sowohl von den Anhängern der Kirche wegen seiner Befürwortung des Darwinismus im Bereiche der Biologie, als auch von den Ultradarwinisten wie TILLE, die ihm vorwerfen, daß er aus den Naturgesetzen des Darwinismus und der natürlichen Auslese nicht die unmittelbare Folgerung für die moderne Ethik zu ziehen wage.

Im Gegensatz zu WALLACE, HUXLEY u. a. erklären die Immoralisten des Darwinismus, welche in den Naturwissenschaften zugleich die Vertreter einer ausgesprochen mechanistischen Weltanschauung sind, die in den verschiedenen Religionen gelehrten Grundsätze der Ethik als auf Priestertrug beruhende und von Geschlecht zu Geschlecht aus alter Zeit uns überlieferte menschliche Irrtümer: sie verwerfen die Sittenlehren, weil sie sich mit den Naturgesetzen, die wir durch DARWIN kennen gelernt haben, in Widerspruch befinden. Sie wollen daher die jetzt herrschende christliche humane Moral durch eine naturwissenschaftliche, nach DARWIN'schen Prinzipien zurechtgemachte Entwicklungsethik ersetzen.

Den Predigern dieser, wie sie meinen, freigeistigen und liberal fortschrittlichen Auffassung kann zunächst der Vorwurf nicht erspart werden, daß sie bei ihren tumultuarischen Bestrebungen den Lehren der Geschichte und der Bedeutung des historisch Gewordenen meist nur ein geringes, zuweilen fast gar kein Verständnis entgegenbringen. Denn das ist der Fall, wenn sie in der christlichen Nächstenmoral nur das Werk einer Offenbarungsreligion und ein willkürliches Geistesprodukt sehen, welches in Vorzeiten einzelne fanatische Religionsstifter sich ausgedacht und einem unwissenden Volk als Befehl ihres Gottes, also gleichsam durch eine Täuschung, zur Befolgung aufgedrängt haben, oder wenn sie folgern, daß wenn Gott tot ist, auch die von ihm als Offenbarung abgeleitete, nur auf Mythologie beruhende Ethik mit ihm sterben muß (NIETZSCHE, Zarathustra). Sie sehen nicht ein, daß in den frühesten Zeiten der Geschichte die wahren Propheten, Priester und Religionsstifter die Erforscher und Ergründer menschlicher Eigenart und die großen Erzieher der Menschheit zur Kultur gewesen sind. Wenn ihre Lehren und Verkündigungen nicht moralischen Gefühlen und Sitten entsprochen hätten, die bereits schon in ihren Zeitgenossen als mehr oder minder weit entwickelte Keime geschlummert haben und nur durch sie zum bewußten Ausdruck gebracht worden sind, dann hätten sie gewiß auch keine Anhänger um sich scharen und dauernde Wirkungen hervorbringen können, sondern würden tauben Ohren gepredigt haben.

Durch die Verständnislosigkeit, mit welcher einzelne unserer modernen Entwicklungsethiker das historisch Gewordene behandeln, ist auf dem Boden der Naturwissenschaften ein ihrem Wesen doch sonst ganz fremdartiger Fanatismus großgezüchtet worden. Derselbe geht soweit, daß z. B. TILLE im Vergleich zur Herrenmoral der Griechen und der alten Germanen vor ihrer Verchristlichung "die ganze moderne christlich-demokratische Kultur als eine Niedergangserscheinung" bezeichnet (1895, l. c. S. 212) oder daß er die - natürlich in seinem Sinne zu bejahende - Frage aufwirft: "Wie, wenn die Nächstenmoral der beiden letzten Jahrtausende mit ihrem Gefolge von vermehrter Krankheit, vermehrtem Leiden, mit ihrer Tendenz zur Aufhebung der natürlichen Auslese nur eine trübe, unheilvolle Episode in der Geschichte der menschlichen Aufwärtsentwicklung gewesen wäre, nur ein Mißgriff, das humane Ideal ein falsches Ideal, das notwendig zum Niedergang der Gattung führen müßte?" (1897, l. c. LXXIV). Man vergleiche mit diesem unbegreiflichen, durch falschen naturwissenschaftlichen Fanatismus erzeugten Urteil die Wertschätzung, mit welcher unsere größten Geschichtsforscher, z. B. ein LEOPOLD VON RANKE, sich über die Bedeutung der Lehren des Christentums für die Entwicklung der menschlichen Kultur ausgesprochen haben.

Zwischen den beiden entgegengesetzten Richtungen, die ich der vitalistischen und der mechanistischen in der Biologie verglichen und am Beispiel von HUXLEY und von TILLE erläutert habe, bildet mein Standpunkt eine verbindende Brücke. Weder kann ich den von HUXLEY geschaffenen Gegensatz zwischen dem Walten der Naturmächte und der sittlichen Mächte anerkennen, da er nur ein künstlich zurechtgelegter ist, noch kann ich zugeben, daß die in der Menschheit entwickelten, sittlichen Normen sich irgendwie in einem Widerspruch zu den Naturgesetzen befinden. Meinen Standpunkt, der erkenntniskritische Betrachtungen zu seiner Grundlage hat, habe ich als den biologischen bezeichnet und schon in verschiedenen Schriften, besonders eingehend aber im zweiten Kapitel meines Buches vom "Werden der Organismen" erörtert unter der Überschrift: "Die Stellung der Biologie zur vitalistischen und mechanistischen Lehre vom Leben" (l. c. S. 19-50).

Zur Kennzeichnung desselben und zum besseren Verständnis des Folgenden stelle ich nur die Hauptgesichtspunkte in einem kleinen Exkurs und in knapper Fassung zusammen.

Für den Naturforscher und Philosophen des Entwicklungsgedankens erscheint die Natur als eine lange Stufenfolge von Organisationen des Stoffes, von denen die höhere sich aus der vorausgegangenen niederen entwickelt. Aus Atomen bauen sich die chemischen Moleküle auf und erzeugen, je nach ihrer vielgestaltigen Zusammensetzung aus verschiedenartigen Atomen den Reichtum der leblosen Welt mit ihren zahllosen chemischen Substanzen. Durch Vereinigung chemischer Moleküle entwickeln sich als eine höhere Stufe der Organisation biologische Verbindungen, die sich wegen des höheren Grades ihrer Komplikation den jetzt gebräuchlichen, analytischen und synthetischen Methoden des Chemikers entziehen; sie bilden die Grundlage für die lebende Zelle, deren Ursprung aus der unbelebten Natur für die Naturforscher nach wie vor in Dunkel gehüllt ist. Die Zelle wird dann wieder in ihrer Vereinigung der Baustein für die vielzelligen Pflanzen und Tiere. Über diesen aber erheben sich als noch höhere Formen der Organisation die sozialen Verbände, die sich in besonders vollkommener Weise historisch im Menschengeschlecht ausgebildet haben. In dem sozialen Verband nimmt der einzelne Mensch eine entsprechende Stellung ein, wie das Atom im Molekül oder die Zelle im Zellenstaate. Dementsprechend kann er auch in bildlicher Redeweise als das soziale Molekül oder als die soziale Zelle des staatlichen Organismus bezeichnet werden, wie es schon von einzelnen Schriftstellern (HUXLEY, VIRCHOW u. a.) geschehen ist.

In der Reihe der verschiedenen Organisationsstufen des Stoffes ist eine jede mit den ihr eigenen Wirkungsweisen ausgestattet. Diese sind einfacher beim chemischen Atom und Molekül, entsprechend ihrer Stellung in der Stufenreihe, und lassen sich daher mit den Methoden der Naturforschung genauer bestimmen und in feste Regeln und Gesetze einordnen. Auf jeder höheren Stufe aber gewinnen sie zusehends an Komplikation, bis sie endlich in ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit kaum noch zu übersehen, geschweige denn in irgendeiner festen Formel auszudrücken sind. Kaum läßt sich dann vorausberechnen, mit welcher Wirkungsweise der Mensch oder gar die menschliche Gesellschaft auf irgendeine Veränderung ihrer Umgebung, auf einen Eingriff von außen, reagieren werden.

Im gewöhnlichen Leben sowohl wie in der Wissenschaft nennt man das, was in den Gegenständen der einzelnen von uns unterschiedenen Organisationsstufen die ihnen eigentümlichen Wirkungsweisen hervorbringt, die ihnen innewohnende Kraft. Was diese aber eigentlich ist, entzieht sich überall unserer Wahrnehmung und kann nicht zum unmittelbaren Gegenstand unseres Forschens gemacht werden; sie ist, wie man in der Philosophie sich ausdrückt, eine Qualitas occulta oder nach einem Ausspruch von LOTZE (1842, S. XVIII) nur "ein Supplement des Gedankens, da keine Erfahrung uns Kräfte zeigt". Das ist im Auge zu behalten, wenn man auch in den Wissenschaften von Kräften spricht, die den Atomen, den Molekülen, den Zellen, den Pflanzen und Tieren, der sozialen Gesellschaft, dem Staat gleichsam innewohnen und mit den allerverschiedensten Namen belegt werden, wenn man von Atom-, von Molekular- und Zellkräften, von chemischer und vegetativer Affinität, von den Kräften der Pflanzen und Tiere, von geistigen und sittlichen Kräften des Menschen, von der Kraft eines Staates, vom Staatsgedanken, Menschheitsidealen usw. spricht. In dem einen wie in dem anderen Fall wissen wir von ihnen nicht mehr, als was uns aus den Wirkungsweisen der Atome, der Moleküle, der Zellen, der Pflanzen und Tiere in irgendeiner Weise objektiv wahrnehmbar wird. Es hat daher gar keinen Sinn, wenn sich die Naturwissenschaft die Aufgabe stellen wollte, das was wir mit irgendeinem Namen als die Kräfte von einer höheren Organisationsstufe zu bezeichnen pflegen, aus den mit anderen Namen belegten Kräften einer niederen Stufe herzuleiten, also die geistigen und sittlichen Mächte des vernunftbegabten Menschen aus den Kräften der lebenden Zelle, diese wieder aus Molekular- und zuletzt aus Atomkräften. Es hieße nur ein Unbekanntes durch ein nicht minder Unbekanntes und Unerforschbares erklären zu wollen, es ist also für die Wissenschaft von vornherein ein aussichtsloses Beginnen. Überall erhebt sich dieselbe Schwierigkeit, welche den Vitalismus zu einer scharfen Abgrenzung zwischen belebter und unbelebter Natur veranlaßt hat. In dieser Hinsicht bemerkt SCHOPENHAUER in Übereinstimmung mit LOTZE und anderen Philosophen sehr klar und zutreffend: "Die Kraft, vermöge welcher ein Stein zur Erde fällt oder ein Körper den anderen fortstößt, ist ihrem inneren Wesen nach nicht minder fremd und geheimnisvoll als die, welche die Bewegungen und das Wachstum eines Tieres hervorbringt" (Bd. II, S. 116). Es handelt sich demnach bei der Frage, wie höhere aus niederen Kräften entstehen um eine falsche Fragestellung um eine Frage, welche als solche weder in der Weise des Vitalismus noch in der des Mechanismus beantwortet werden kann. Denn wir können, wie schon früher nachgewiesen wurde, nur nach den Wirkungen forschen, die den verschiedenen Organisationsstufen eigen sind; wir können versuchen, dieselben unter allgemeine Regeln zu bringen und ihre Entstehung uns aus der Organisation des Stoffes und seinen Beziehungen zur Umwelt, also aus den gegebenen Systembedingungen, verständlich zu machen. Von diesem Standpunkt aus ordnet sich der Mensch mit seiner Geschichte und Kultur, mit seinen in ihr sich offenbarenden sittlichen und geistigen Kräften in das System der Natur ebenso vollständig und restlos ein, wie jedes andere Naturobjekt und kann. zum Gegenstand der Naturforschung gemacht werden.

Wenn ich nach diesen Zwischenbemerkungen wieder auf unser Thema zurückkomme, dann läßt sich ohne mißverstanden zu werden, sagen, daß Handlungen, in denen wir den Ausdruck sittlicher Mächte erblicken, ihren Ursprung in dem Gemeinschaftsleben von Tieren finden, die auch in geistiger Hinsicht schon höher ausgebildet sind. Sie entstehen allmählich und in demselben Maße, als zwischen den ursprünglich vereinzelten und nur für sich bedachten Individuen ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verwandtschaft lebendig wird. Ihr sittlicher Charakter wird gesteigert, wenn dazu noch eine mehr oder minder instinktive Erkenntnis tritt, daß die einzelnen Glieder der Gemeinschaft auf die Hilfe der anderen, zumal in Zeiten der Not, angewiesen sind und aus ihrem Zusammenleben Vorteile ziehen. Vor allen Dingen aber ist im Liebesleben im Tierreich und in den weiter aus ihm sich ergebenden Beziehungen der Eltern zu ihrer Nachkommenschaft der natürliche Ausgangspunkt sowohl für den Beginn eines sozialen Zusammenlebens, als auch für die Entstehung der sittlichen Mächte gegeben. Überall wo im Tierreich die Geschlechter getrennt sind, führt schon der Trieb zur Fortpflanzung die Angehörigen derselben Art zusammen, da sie schon auf niederen Stufen des Tierreichs ihre Zusammengehörigkeit zu Individuen der gleichen Art instinktiv wahrzunehmen befähigt sind. Auf dieser Grundlage entwickeln sich in der Klasse der Insekten bereits Tierstaaten in verschiedenen Formen der Ausbildung. Auch läßt ihr Studium bei den sozialen Insekten, bei Bienen, Ameisen, Termiten mancherlei Vergleichspunkte mit menschlichen Verhältnissen gewinnen.

Nach dieser Auffassung sind selbst die ungeheuren Unterschiede, die zwischen der Menschheit mit ihrer geistigen und sittlichen Welt auf der einen Seite und dem Tierreich auf der anderen Seite bestehen, keine prinzipiellen, sondern nur solche des Grades. Es ist ein Unterschied wie zwischen der unbelebten und der belebten Natur, welche der moderne Naturforscher, der sich auf den Boden der Entwicklungstheorie stellt, durch die Hypothese der Urzeugung miteinander verbindet. Im menschlichen Geschlecht sind die schon im Tierreich vorhandenen Instinkte nur verstärkt und zur Gatten-, Eltern-, Kindes-, Geschwisterliebe verfeinert und veredelt worden. Diese aber haben sich vom Familienleben aus in abgeschwächter Form auf immer weitere Kreise entfernterer Zusammengehörigkeit, auf die Angehörigen der erweiterten Familie, des Stammes, des Volkes und schließlich der ganzen Menschheit ausgedehnt. Hieraus ist auf natürlichem Wege die Liebe zur Gemeinschaft, in welcher sich der einzelne als zugehöriges Mitglied fühlt, zum Vaterland und Volk und schließlich zur Menschheit erwachsen. Durch Religion, Philosophie und Kunst sind von den ältesten Zeiten an diese Triebkräfte, die für die Fortentwicklung des Menschengeschlechts in Kultur und Gesittung das Fundament bilden, durch Priester, Propheten und Religionsgründer, durch Philosophen und Dichter gepflegt, gesteigert und weiter ausgebildet worden. So ist eine Tafel von sittlichen und rechtlichen Werten als Norm für den Menschen errichtet worden, welche dann ihrerseits wieder ihre Rückwirkung auf die Einzelhandlungen des Menschen, gleichsam als kategorischer Imperativ von KANT ausgeübt hat. Mag sich der Religionslehrer, der Philosoph und Naturforscher mit dieser Tafel der Werte beschäftigen, ihre Ergebnisse müssen in bezug auf die großen Wahrheiten, auf denen die Kulturentwicklung und die Zukunft der Menschheit beruht, zu einer Übereinstimmung führen. Denn auch dem Naturforscher können die bleibenden sittlichen Werte, welche die Religion als göttliche Gebote zu verehren gelehrt hat, nicht als etwas Willkürliches und Zufälliges erscheinen. Sind sie doch durch einen notwendigen Entwicklungsprozeß im Leben der menschlichen Gesellschaft, gleichsam als sittliche und geistige Naturprodukte, oder in religiöser Sprechweise als Offenbarungen Gottes, entstanden.

Was ich in diesen Worten als Biologe und Gegner der Zufallstheorie von DARWIN ausdrücke, ist in anderer Form und in anderen Zusammenhängen wohl schon häufiger von Philosophen und von Psychologen geäußert worden. Eine solche Übereinstimmung finde ich in dem Lehrbuch der Ethik von WUNDT an einer Stelle (III. Aufl. 1892 S. 501) wo er "die humanen, sittlichen Zwecke als objektive, geistige Werte bezeichnet, welche aus dem gemeinsamen Geistesleben der Menschheit hervorgehen, um dann wieder auf das Einzelleben veredelnd zurückzuwirken, nicht damit sie sich hier in eine objektiv wertlose Summe von Einzelglück verlieren, sondern damit aus der schöpferischen Kraft individuellen Geisteslebens neue objektive Werte von noch reicherem Inhalt entstehen"

Gegenüber den sich widersprechenden Betrachtungsweisen, die hier von HUXLEY, dort von den Ethikern des Darwinismus versucht worden sind, erklärt sich jetzt mein abweichender Standpunkt von selbst. Es erscheint als selbstverständlich, daß man von Recht und Sitte in der Natur nur in der Sphäre sprechen kann, wo ihr Bestehen und ihre Herrschaft möglich ist, also in erster Linie nur in der menschlichen Gemeinschaft und dann noch überall da, wo sich soziale Tierverbände auszubilden beginnen. Der Sachverhalt liegt hier genau ebenso wie zwischen der belebten und leblosen Natur. Die Eigenschaften und Kräfte, welche der lebenden Zelle eigen sind und ihr Wesen ausmachen, können wir nicht bei einfachen chemischen Verbindungen erwarten, ebensowenig wie Moleküle und Atome in ihren Wirkungen einander entsprechen. Vom moralischen Standpunkt der Menschen aus die außermenschlichen Naturvorgänge beurteilen zu wollen, ist nicht nur zwecklos, sondern kann wohl kaum zu etwa anderem als zu lauter Ungereimtheit führen.

Wenn ich an eine von HUXLEY (soziale Essays) angestellte Betrachtung anknüpfe, so handeln Raubtiere, die in Blutgier ihre unschuldigen Opfer zerreißen, weder sittlich noch unsittlich, weder nach Recht noch Unrecht, sondern nur naturgemäß. Sie stehen ja in gar keinem ethischen und rechtlichen Verhältnis, das sie durch ihre Handlungen verletzen könnten, weder zueinander noch zu den Beutetieren, auf die sie zur Nahrung angewiesen sind. Deswegen läßt sich überhaupt nicht, wie es von HUXLEY geschehen ist, im Hinblick auf derartige Naturvorgänge von einer "unergründlichen Ungerechtigkeit im Walten der Natur" sprechen oder das Urteil fällen: "Vor das Tribunal der Ethik gezogen, würde die Natur wohl ihrer Verurteilung sicher sein" (1893, Hardens Zukunft S. 110). Ebensowenig kann man den Satz aufstellen: "Die Natur an sich ist nicht nur keine Tugendschule, sondern sogar das Hauptquartier des Feindes der sittlichen Natur des Menschen" (1893, l. c. S. 171).

Noch entschiedener aber ist gegen die in ihren Folgen weniger harmlose, mechanistische Richtung jener Entwicklungsethiker Einspruch zu erheben, die wie TILLE lehren, daß Ethik angewandte Naturgeschichte sei, und die aus diesem Grund und im Hinblick auf das zum allgemeinen Naturgesetz erhobene DARWIN'sche Prinzip die jetzt herrschende christlich-humane Moral durch eine naturwissenschaftliche Ethik ersetzen wollen. Denn da außerhalb der menschlichen Gemeinschaft Naturvorgänge, wie gesagt, weder zur Ethik noch zum Recht in einer Beziehung stehen, so können wir aus ihrem Studium auch keine neuen Gesichtspunkte für eine Reform oder gar für eine Begründung einer neuen Ethik als Ersatz der alten gewinnen.

Damit ist keineswegs gesagt, daß Recht und Sitte in Gegenwart und Zukunft nicht einer weiteren Entwicklung und durch sie einer Verbesserung und Vervollkommnung fähig wären. Aber dies kann nur erfolgen durch eine Hebung der Menschennatur als des Trägers sittlicher und rechtlicher Vorstellungen, durch eine tiefere und was das Wichtigste ist, durch eine allgemeiner verbreitete Einsicht in das vielgestaltige Wesen sozialer Gemeinschaft und schließlich auch durch ein tieferes Verständnis von der Stellung des Menschen zu seiner ganzen Umwelt, so daß hierbei auch die Naturforschung zu ihrem Rechte kommt. Auch nach unserer Ansicht haben sich sittliche und rechtliche Begriffe, wie ich noch einmal betone, auf natürlichem Wege im Menschen entwickelt und sind in diesem Sinne ebensogut wie die Lebenseigenschaften der Zelle Naturprodukte, hervorgegangen aus dem Entwicklungsprozeß der Natur, der sich innerhalb des Menschengeschlechtes bei seiner Vergesellschaftung vollzogen hat und weiter vollzieht. Sie sind der Ausdruck der jeweiligen Verhältnisse, die im Leben der Gesellschaft in den verschiedenen Geschichtsperioden bestehen, und sind insofern auch, wie alle Vorgänge in der Natur, der Veränderung unterworfen und einer Vervollkommnung fähig, doch nur in der Weise, daß das Neue an das Alte anknüpft und aus ihm hervorgeht, wie es im Wesen einer jeden Entwicklung liegt.

Unser Ergebnis läßt sich daher jetzt in folgenden Worten zusammenfassen: Die soziale Organisation, die mit einem gesellschaftlichen und staatlichen Leben verbunden ist, hat überhaupt erst die Bedingungen geschaffen, unter denen sich die in der Menschennatur schlummernden Anlagen, alle seine sittlichen und geistigen Kräfte nach allen Richtungen haben entfalten können. Ebenso hat ja auch die Assoziation einzelliger Lebewesen der gleichen Art zu Zellenstaaten erst die Leistungsfähigkeiten der Zellen zu ihren höchsten Graden, wie in den Muskel-, Ganglien- und Sinneszellen gesteigert und hat erst dadurch die ungeheure Fülle pflanzlicher und tierischer Organismen möglich gemacht.

Zugleich sei auch noch auf einen besonderen Vorzug hingewiesen, durch welchen die soziale, in der Entwicklung des Menschengeschlechts eingetretene Organisation gegenüber der Vereinigung gleichgearteter Zellen zu pflanzlichen und tierischen Zellenstaaten überlegen ist. Der Vorzug besteht darin, daß die soziale Organisation von räumlichen und zeitlichen Verhältnissen in einem höheren Maße als es sonst der Fall ist, unabhängig geworden ist. Denn obwohl die einzelnen Menschen als integrierte Glieder einer staatlichen Gemeinschaft durch sittliche, rechtliche, geistige, ökonomische Beziehungen verbunden sind, haben sie doch als körperliche Wesen ihre Selbständigkeit bewahrt und können Ortsveränderungen ohne Schaden der Gemeinschaft ausführen, wie sie in einem Verband von Zellen unmöglich sind. Sie bewahren daher auch der Außenwelt gegenüber ein dementsprechend höheres Maß von Autonomie als die Elementarteile eines vielzelligen Organismus; denn diese sind je nach ihrer Lage im Verband auch in feste räumliche Beziehungen sowohl zu seinen anderen Elementarteilen als auch zur Umwelt gebracht. Infolge dieser freien Beweglichkeit seiner einzelnen Glieder kann der staatliche Verband der Menschen eine fast unbegrenzte räumliche Ausdehnung gewinnen; er kann sich über weite Landstrecken ausbreiten, entsprechend dem Zuwachs, welchen die Zahl der Volksgenossen im Laufe von Jahrhunderten erfährt. Und ebenso ist die soziale Organisation auch von der Zeit viel unabhängiger geworden. Denn während der einzelne Mensch, wie jedes vielzellige Lebewesen, dem physiologischen Tod unabänderlich unterliegt, ist sie selbst an keine festbegrenzte Lebensdauer gebunden. Wenn auch die Glieder sterben und durch neue ersetzt werden, bleibt doch der soziale Verband als solcher in seiner Form erhalten, kann sich auch unter Veränderungen weiter entwickeln und fährt fort, in ungestörter Weise zu funktionieren. Auf diese Weise wird er in den Stand gesetzt, Aufgaben zu übernehmen und auszuführen die sich über die Lebensdauer von vielen menschlichen Generationen erstrecken. Und zugleich gewinnt so auch der sterbliche Mensch die Möglichkeit, noch über seine Lebenszeit durch seiner Hände und durch seines Geistes Kraft hinaus zu wirken und in seinen Werken fortzuleben. Durch die soziale und staatliche Verbindung der Menschen zu einer neuen, höheren Stufe der Organisation ist eine geistige, sittliche Welt entstanden und hat sich ein Reich von Sitte und Recht über dem übrigen Walten der leblosen und der belebten Natur ausgebreitet, aber keineswegs im Gegensatz zu ihm, sondern als eine höhere Entwicklungsstufe, gleichsam als eine neue Offenbarung der Natur.

Um meinen auf biologischer Basis fundierten Standpunkt noch weiter zu vervollständigen und besser zu kennzeichnen, mögen jetzt noch einige kurze, speziellere Ausführungen dienen.

Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit ist eine wesentliche Bedingung für die Entstehung und den gedeihlichen Verlauf des sozialen Prozesses. Daher wird es verständlich, daß in der Geschichte der Ethik von Christus bis zu ROUSSEAU und TOLSTOI die Lehre von der Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen als einer ihrer Fundamentalsätze immer wiederkehrt. Nichts hat wohl stärker zur Ausbreitung des Christentums bei allen Völkern und zu seiner Erhaltung seit bald zweitausend Jahren beigetragen als die Heilsbotschaft, daß alle Menschen vom niedersten bis zum höchsten einander gleich sind als Kinder Gottes, der ihnen allen ein gerechter Vater ist.

Auch im Römertum hat die Lehre von der Gleichheit der Menschen schon frühzeitig Fuß gefaßt, wie ich nach Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift einem Buch über Rußland und Europa von WLADIMIR SOLOVJEFF entnehme. So erklärte schon CICERO in seinen Schriften "de officiis" und "de legibus": "Die Natur befiehlt, daß der Mensch dem Menschen helfe, wer auch immer der andere sein möge, eben nur aus dem Grunde, weil er ein Mensch ist" und an anderer Stelle: "Es ist unsere Pflicht, uns in gemeinsamer Liebe mit den unsrigen zu vereinen; zu den unsrigen aber müssen wir alle diejenigen zählen, die durch ihre Natur als menschliche Wesen zusammengehören." In gleicher Weise schrieb der Philosoph SENECA:

"Wir alle sind die Glieder eines ungeheuer großen Leibes. Die Natur wollte, daß wir alle verwandt miteinander seien, darum erzeugte sie uns aus denselben Grundelementen und für dasselbe Ziel. Hieraus ergibt sich unser Mitgefühl und unsere Teilnahme füreinander; Gerechtigkeit und Recht haben keinen anderen Ursprung." Abweichend von der Philosophie der Hellenen (ARISTOTELES), die an einem Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren, die zur Sklaverei bestimmt sind, festhielt, stellten römische Juristen ein Jus naturale auf, mit dem Grundsatz, daß alle Menschen mit dem gleichen, natürlichen Rechte auf Freiheit geboren würden und daß die Sklaverei nur ein viel später entstandener Mißbrauch sei.

In der Neuzeit hat dann J. J. ROUSSEAU wieder in seinem Contrat social die Gleichheit der Vertragschließenden in den Vordergrund seiner weiteren Betrachtungen und Schlußfolgerungen gestellt. Seitdem ist die Lehre von der Gleichheit der Menschen ein treibendes Motiv in den demokratischen Bewegungen zahlreicher Völker geblieben, bei der Unabhängigkeitserklärung Amerikas von dem englischen Joch, in der französischen Revolution mit ihrer Losung: "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" und ebenso in unseren Tagen bei den zahlreichen revolutionären Bewegungen in den verschiedensten Ländern und besonders bei der großen russischen Umwälzung, bei der viele Vorgänge wieder an 1794 erinnern.

Es ist leicht und billig, gegen die Lehre von der Gleichheit der Menschen mehr oder minder zutreffende Einwände zu machen, wie dies schon häufig von vielen Seiten geschehen ist. So zieht HUXLEY als Naturforscher in einer Streitschrift über "die natürliche Ungleichheit der Menschen" gegen den Rousseauismus als ein Trugbild, das in den tiefsten, anarchischen Sumpf hineinführen müsse, in beredten Worten zu Felde und zwar aus Gründen, die beim ersten Lesen auch den meisten beweiskräftig erscheinen werden. Er bezeichnet die Verkündung von der Gleichheit der Menschen als eine tatsächliche Unwahrheit und als eine törichte Redensart, die vom wissenschaftlichen Standpunkt aus so offenbar falsch sei, daß sie einfach lächerlich wäre, hätte sie nicht die erwarteten praktischen Folgen. Um nun aber die Botschaft des Christentums nicht in das gegen ROUSSEAU gerichtete Urteil mit hineinzuziehen, macht HUXLEY zwischen beiden den Unterschied, daß Christus nur die Gleichheit der Menschen vor Gott behaupte, daß dies aber nur heiße, "die Menschen seien gleich an Bedeutungslosigkeit und Mangelhaftigkeit".

Die Stellungnahme HUXLEY's mag für alle, die sich in ihrem Urteil nur durch die Aufzählung der natürlichen Ungleichheiten der Menschen in körperlicher, geistiger und sittlicher Hinsicht und durch die Betonung der Verschiedenheiten ihrer sozialen, ökonomischen und politischen Fähigkeiten bestimmen lassen, als eine unanfechtbare erscheinen. Und so könnte wohl manchem die ganze Angelegenheit schon für so gründlich erledigt gelten, daß er es überhaupt, wie HUXLEY als Bemerkung von einem Rezensenten anführt, für überflüssig hält, das schon öfters "Totgeschlagene noch einmal totzuschlagen". Aber trotzdem will das Totgeschlagene nicht sterben, sondern lebt weiter und wird weiter leben, solange es eine soziale Gemeinschaft der Menschen mit der auf ihr beruhenden Kultur gibt. Der christlichen Botschaft von der Gleichheit der Menschen und auch seiner durch ROUSSEAU mehr verweltlichten Form muß demnach doch wohl noch ein tieferer Sinn innewohnen, der von den Einwendungen HUXLEY's und aller, die seiner Ansicht sind, gar nicht berührt wird.

Der von HUXLEY ganz übersehene Kardinalpunkt liegt in dem Wesen des Gesellschaftsprozesses begründet. Denn ein sozialer Organismus, wie ihn die vom Staat geordnete menschliche Gesellschaft als Produkt einer natürlichen Entwicklung darstellt, kann nur entstehen und auf die Dauer erhalten bleiben, solange ihren Mitgliedern das Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit und der Wille, sie zu erhalten, innewohnt. Einander widerstreitende Teile können nirgends in der Natur allein durch äußere Kräfte zusammengehalten werden. Chemische Verbindungen bilden sich auf Grund von Affinitäten der sie aufbauenden Elemente, Zellenstaaten durch dauernden Verband von Zellen, die Affinitäten aufeinander ausüben, weil sie durch ihre gleiche Abstammung von einer Mutterzelle oder durch Artgleichheit zusammengehören. Etwas Ähnliches liegt in der menschlichen Gesellschaft wie in jedem Tierstaat vor. Denn wenn wir von besonderen Verhältnissen, wie der Symbiose absehen, so bilden sich soziale Gemeinschaften doch nur zwischen Geschöpfen aus, die einer Art angehören. Was aber von einer Art ist, pflegt in der Biologie als systematisch gleich bezeichnet zu werden. Mit Recht gilt dies auch für die Spezies Homo. Denn die Gesamtheit der Eigenschaften, in denen die Menschen miteinander übereinstimmen, ist tausendmal größer und wichtiger als die Zahl der Eigenschaften, durch die sie sich sozial, politisch und ökonomisch unterscheiden.

Der Systematiker, der bei seinen Einteilungsprinzipien, als Naturforscher, wie jeder zugeben wird, gewiß einen streng objektiven Maßstab anlegt und die begreifliche Neigung hat, eine möglichst weit fortgesetzte Spezialisierung zu erreichen, wird die von HUXLEY aufgezählten Ungleichheiten der Menschen doch ihrer Gleichheit gegenüber für so gering halten, daß er sie systematisch ganz unberücksichtigt läßt und für seine Zwecke nicht verwertet. Daher wird auch die Naturwissenschaft die Lehre von der Gleichheit der Menschen, zu welcher sich die Vertreter der christlichen Religion bekennen, nicht nur aufrecht erhalten, sondern gleichzeitig auch geltend machen können, daß ihre Gleichheit im System um so deutlicher hervortritt, als das Genus Homo von anderen nächstverwandten Tierarten durch körperliche und geistige Eigenschaften in einem weiten Abstand getrennt ist. Nur die Menschen gleichen sich im Besitz der Sprache als eines Mittels zu gegenseitiger Verständigung und zur Erleichterung der Geselligkeit. Gerade dieses Mittel aber hat ihn zum Animal sociale, zum Schöpfer einer geistigen und sittlichen Welt und in vieler Hinsicht zum Herrn der Erde gemacht. Wer daher die Anschauungen, die sich ROUSSEAU von einem idealen Naturzustand des Menschen gebildet hat, auch nicht teilt, kann trotzdem seiner Behauptung von einer natürlichen Gleichheit der Menschen wohl zustimmen, selbst wenn sie nicht weiter reicht, als die Systematik lehrt.

Nicht minder scheint es mir gerechtfertigt auch für die Entstehung und Entwicklung der sozialen Gemeinschaft die Lehre von der Gleichheit der Menschen zum Ausgangspunkt und zur Grundlage zu nehmen. Hier liegt ja auch ihre eigentliche prinzipielle Bedeutung und das Wertvolle ihrer Anerkennung.

Wie wohl von keiner Seite in Abrede gestellt werden kann, ist für das Zustandekommen einer sozialen Gemeinschaft, abgesehen von den Annehmlichkeiten, die die Geselligkeit an sich in vielen Beziehungen bietet, das treibende Motiv, das Bedürfnis nach gegenseitiger Hilfe, hauptsächlich in Zeiten der Not. Unter diesem Gesichtspunkt aber lassen sich die noch auf primitiver Stufe stehenden und allmählich zu einem sozialen Verband sich aneinander schließenden Menschen auch als Kontrahenten in einem Vertrag auf Gegenseitigkeit betrachten. Sie sind gleichsam Gesellschafter, die in ihrem Bedürfnis auf gegenseitige Hilfe einander gleich sind, von denen ein jeder sowohl gibt als empfängt und bei diesem Verhältnis seinen Vorteil findet. Die Vergesellschaftung beruht daher nach ihrem Ursprung weder auf einem Sklavenverhältnis noch wird sie als solches in der Geschichte der Völker und am allerwenigsten im Volksbewußtsein der Gegenwart aufgefaßt; und so kann man auch mit ROUSSEAU wohl von einem "Contrat social" sprechen. In diesem Punkt stimme ich ganz mit HUXLEY überein, wenn er sagt: "So oft die Annahme eines ´sozialen Vertrags´ auch lächerlich gemacht worden ist, so ist es doch wohl genügend klar, daß sich alle soziale Organisation auf etwas gründet, was in seinem Kerne ein Vertrag zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft ist, mag er nun ausgesprochen oder stillschweigend sein. Niemals ist eine Gesellschaft noch durch Gewalt zusammengehalten worden, nie kann sie es werden".

Wie alle Naturprozesse, so vollziehen sich auch die sozialen Vorgänge in der menschlichen Gesellschaft unter der Schwelle des Bewußtseins und werden erst, wenn sie zum Objekt des verstandesmäßigen Urteils gemacht werden, in ihrer Bedeutung und in ihren Zusammenhängen klarer erkannt und zum Bewußtsein des Einzelnen gebracht. In diesem Sinne, kann man sagen, vollzieht sich in der menschlichen Geschichte die Gesellschaftsbildung als eine Art "unbewußten oder stillschweigenden Vertrags"; sie beruht auf einem instinktiven Fühlen und Wollen und daraus entspringendem Handeln der vertragschließenden, sich vergesellschaftenden Menschen. In ähnlicher Weise pflegt ja die Naturforschung auch die Entstehung der Bienen- und anderer Tierstaaten auf Instinkthandlungen zurückzuführen.

Es ist schon oft von Schriftstellern und Dichtern empfunden und ausgesprochen worden, daß viel wichtiger als eine in Vorschriften zusammengefaßte Sittenlehre und ein kodifiziertes Recht das Sitten- und Rechtsbewußtsein ist, welches als lebendige Macht in der Seele eines Volkes lebt. Denn nur solange sich dieses mit den in Worten gefaßten Vorschriften in Übereinstimmung befindet, wird es ihnen zur Stütze dienen und in allen Fällen Geltung verschaffen; wenn es aber mit ihnen unter veränderten Verhältnissen in Widerspruch gerät, wird es in erregten Zeiten völkischer Erneuerung, auf Reformen dringen und sie in dieser oder jener Weise auch durchsetzen.

Die Lehre von der Gleichheit der Menschen, richtig erfaßt, beruht weder auf einer leeren Wahnvorstellung weltfremder Religionsstifter, noch auf einer irreführenden, leidenschaftlichen Philosophie von ROUSSEAU, der das Evangelium des Christentums auch in den Einrichtungen der irdischen Welt verwirklichen wollte; sie läßt sich wie ich versucht habe, auch naturwissenschaftlich begründen. Denn bei voller Anerkennung der zahllosen Ungleichheiten, die zwischen den Menschen bestehen, sind sie doch als Objekte der systematisierenden Naturgeschichte dem Kern ihres Wesens nach gleich, gleich im Besitz der Sprache zu gegenseitiger Verständigung, gleich als Gesellschafter, die sich zu sozialen Gemeinschaften in weit zurückliegenden Zeiten allmählich zusammengefunden haben und von da an immer wieder, wenn sich hierfür Gelegenheit bietet, den Schein ihrer Gleichheit präsentieren. Sie sind gleich in genau derselben Weise, wie die Zellen in einem Zellenstaat, die obgleich sie bei ihrer höheren Ausbildung wie im Wirbeltierkörper in zahlreiche, mitunter sehr verschiedene Gewebsformen differenziert sind, doch als Zellen ein und desselben Organismus und als Deszendenten einer gemeinsamen Mutterzelle untereinander gleich sind. Ungleichheit und Gleichheit sind in beiden Fällen nur scheinbare Widersprüche: sie vertragen sich wie viele Widersprüche, mit denen uns die Philosophie bekannt macht, bei tieferer Erkenntnis recht wohl miteinander, weil sie sich auflösen lassen.

Dem Worte Gleichheit hat die französische Revolution noch die Worte Brüderlichkeit und Freiheit als Ergänzung hinzugefügt und so die Parole geschaffen, welche bei allen demokratischen Bewegungen stets wieder von neuem ertönt und seitdem an Wirkung nichts verloren hat. Die Betonung der Brüderlichkeit dient hierbei noch zu näherer Erläuterung, wie sich die Menschen im Bewußtsein ihrer Gleichheit und ihrer Bedürftigkeit auf gegenseitige Hilfe zueinander stellen sollen, als Vorbild wird ihnen die Gesinnung vorgehalten, welche sich zwischen Brüdern, die als Kinder derselben Eltern in nächster Verwandtschaft zueinander stehen und zugleich in einer Familie zusammen aufgewachsen sind, am naturgemäßesten auszubilden pflegt.

Die Lehre von der Freiheit schließlich ergibt sich auch als eine weitere Folgerung aus diesem zusammengehörigen Vorstellungskreis. Denn wenn in einer sozialen, sittlich und rechtlich geordneten Gemeinschaft die einzelnen ihre individuelle Lebensführung instinktiv oder gleichsam automatisch mit der geltenden Sitte und dem allgemein anerkannten Recht in Übereinstimmung bringen, dann befinden sie sich auch in ihrem Fühlen, Denken und Handeln unter keinem als lästig empfundenen, sondern höchstens als naturnotwendig anerkannten und selbstgewollten Zwang. Ihr Tun und Handeln wird ihnen aus ihrem freien Willen hervorgegangen erscheinen. An Stelle einer nur durch die unabänderlichen Gewalten der Umwelt beschränkten, sonst aber zügellosen Naturfreiheit des Wilden am Beginn jeder sozialen Entwicklung ist allmählich die selbstgewollte, durch Sitte und Recht geordnete Freiheit des sozialen Kulturmenschen getreten.

Unsere Stellung zum ethischen Darwinismus ist jetzt völlig klargelegt. Sie führt zu einer entschiedenen Abwehr desselben in bezug auf seine Auffassung von Sitte und Recht.

Was die Sittenfrage betrifft, so kann es in einer sozialen Gemeinschaft keine doppelte Ethik (TILLE 1893, l. c. 250) geben. Die christlich-humane Ethik, welche sich aus dem Wesen der sozialen Gemeinschaft der Menschen seit Jahrtausenden entwickelt hat, steht in einem unversöhnlichen Gegensatz zu der sich auf DARWIN´s Lehren berufenden Entwicklungsethik und NIETZSCHE's Herrenmoral. Die Darwinianer als Moralisten begehen im Anschluß an die Manchesterleute von allem Anfang an den Irrtum, daß sie nicht von der eigentlichen Quelle aller Ethik ausgehen, nämlich von den lebendigen Kräften, die sich in einer auf sozialer Hilfe beruhenden menschlichen Gemeinschaft bilden. Sie glauben objektiv naturwissenschaftlich zu verfahren, wenn sie als Ausgangspunkt ihrer ethischen Betrachtungen Naturgesetze wählen, für die der Beweis ihrer Richtigkeit von der Wissenschaft noch nicht erbracht ist und nach meiner Meinung nie erbracht werden wird, da sie in ihrer ursprünglichen Fassung falsch sind. Indem sie DARWIN's Selektionstheorie und das Überleben des Passenden im Kampf ums Dasein als bewiesen annehmen, sehen sie im Kampf aller gegen alle den wahren Fortschrittshebel und suchen so auf den Erhaltungstrieben des auf sich gestellten, in seinem Egoismus der Bindung widerstrebenden Einzelmenschen ihre neue Moral zu begründen. Wenn ich mich früher (S.37) mit der Methode der Beweisführung von HUXLEY in diesen Fragen nicht habe einverstanden erklären können, so stimme ich doch in jeder Beziehung seinem Endurteil über die Entwicklungsethik zu. HUXLEY hält eine Nachahmung des in der Natur herrschenden Kampfes ums Dasein durch den Menschen mit den wichtigsten Grundlagen aller Sittlichkeit für unvereinbar (1897, Ethik u. Entw. l. c. S. 286). "Nur wenn der fanatische Individualismus unserer Tage die von ihm gemachten, einfachen Erwägungen übersehe, habe er den Versuch machen können, die am Walten der Natur gemachten Erfahrungen auch auf die Gesellschaft anzuwenden."

Bei den nahen Beziehungen, in denen Moral und Recht zueinander stehen, erhebt sich die Frage, wie stellt sich der Entwicklungsethiker zum Rechtsbegriff. Denn unser Bewußtsein vom Recht wird sowohl durch die Leugnung einer allgemein gültigen Moral als auch durch die Unterscheidung einer Sklaven- und einer Herrenmoral sehr wesentlich getroffen. Auch bei dieser Frage ist davon auszugehen, daß sich die rechtlichen Begriffe des Menschen ebenso wie seine sittlichen einzig und allein aus den Beziehungen der Menschen zueinander in einer sozialen Gemeinschaft entwickelt haben. Insofern sind beide Geschwister von Geburt, die zusammen aufwachsen und sich gegenseitig bestimmen. Wie man außerhalb der Sphäre der Menschheit von keiner Sittlichkeit, so kann man auch von keinem Recht in der Natur sprechen. Wie die Raubkatze, die ihre Beutetiere zerreißt, dabei vielleicht auch martert und bei ihren Qualen Befriedigung empfindet, weder sittlich noch unsittlich ist, so handelt sie hierbei auch weder nach Recht noch nach Unrecht; sie handelt einzig und allein nach der ihr angeborenen Natur, also naturgemäß.

Als Robinson Krusoe auf ein einsames Eiland verschlagen als einziges menschliches Wesen auf ihm lebte, befand er sich in einem rechtslosen Zustand oder, richtiger ausgedrückt, in einem Zustand außerhalb des Rechts, da kein Ebenbürtiger da war, mit dem er sich zu einem Contrat social hätte zusammenfinden können. Wenn er nach jahrelanger Vereinsamung zum Menschenfeind geworden wäre, hätte er unter diesen Umständen formal kein Unrecht begangen, wenn er einen an die Insel angespülten Schiffbrüchigen beraubt und getötet hätte. Bei Abwesenheit eines irdischen Richters hätte sich der Totschlag ja auch von selbst erledigt. Nur sein Gewissen als Vermächtnis oder in physiologischer Ausdrucksweise als Nachwirkung der Einwirkungen aus früherer Zeit, in der er unter der Herrschaft der in der Menschheit gültigen Rechts- und Sittengesetze geboren und aufgewachsen war, hätte ihn als Kläger der Sünde zeihen und vor den Stuhl des himmlischen Richters zur Verantwortung und Strafe ziehen können.

Die weiteren Folgerungen ergeben sich hieraus von selbst. Wie DARWIN's Lehre vom unerbittlichen Kampf ums Dasein und von der so bedingten natürlichen Auslese zur Aufhebung der auf Gegenseitigkeit beruhenden Moral, so führt sie auch zur Aufhebung des in der sozialen Gemeinschaft entwickelten Rechts. Denn wo unerbittlicher Kampf in der Natur herrscht, entscheidet die Macht und die Stärke; da gibt es kein Recht. In der menschlichen Gesellschaft aber bedeutet der Gedankengang "Macht geht vor Recht" in seinen Folgen nichts weiteres als Aufhebung des Rechts und führt verallgemeinert zu einer rechtlosen Gesellschaft oder zu dem asozialen Zustand allgemeiner Anarchie. Daher kann es in einer auf Gegenseitigkeit fest aufgebauten Gemeinschaft nur heißen: "Recht geht vor Macht". Als Glied einer solchen kann auch die machtvolle Persönlichkeit, - selbst der Übermensch von NIETZSCHE - ihre Macht nur innerhalb der ihr vom allgemeinen Rechtsbewußtsein und vom formalen Recht gezogenen Grenzen frei betätigen.

So kommt auch in dieser Beziehung der Grundsatz von der Gleichheit des Menschen in einer sozialen Gemeinschaft zum Ausdruck in dem Satz: "Vor dem Recht sind alle gleich" und in der Forderung: "Gleiches Recht für alle". Als historisches Denkmal für diesen Grundsatz in der Geschichte der Hohenzollern erhebt sich in der Nähe von Potsdam die berühmte Mühle von Sanssouci.

Nach demselben Maßstab, der für die einzelnen Menschen in der sozialen Gemeinschaft gilt, ist ebenso auch das sittlich-rechtliche Verhältnis zwischen den Staaten in einer auf den Grundsätzen christlicher Humanität beruhenden Kulturgemeinschaft zu beurteilen. Wenn ein Kriegszustand zwischen ihnen ausgebrochen ist, dann ist zwar vorübergehend das im Frieden gehütete Recht erloschen und an seine Stelle ist die rohe Macht getreten, soweit sie nicht auch dann noch durch internationale, für den Kriegsfall getroffene Abmachungen, nicht minder aber durch das bei christlichen und gesitteten Völkern niemals ganz auszuschaltende Gewissen und durch das, nur bei den Unmenschen ganz erloschene sittliche Solidaritätsgefühl der Menschheit eingeschränkt ist. Durch den Friedensschluß aber soll nach dem Ende des Kriegs wieder ein sittlicher Rechtszustand zwischen den Feinden neu geschlossen werden auf Grundlagen, die den Anschauungen der Kulturgemeinschaft der Völker und der veränderten Macht- und Rechtslage entsprechen. Nur durch Verhandlungen, die vom redlichen Willen zu einer gerechten Verständigung beherrscht werden, kann ein derartiger Dauer versprechender Frieden zwischen den feindlichen Parteien geschlossen werden. Nie läßt sich dies Ziel durch einen aufgezwungenen Diktatfrieden der siegreichen Gewalten erreichen. Ein solcher ist - um ein Beispiel aus jüngster Zeit zu nennen - der Karthago-Frieden von Versailles. Um denselben endlich zustande zu bringen, ließen die Sieger die Besiegten, nachdem diese der übergewaltigen Übermacht endlich erlegen waren, überhaupt nicht zu den Friedensverhandlungen und zu gerechter Verständigung zu in der Absicht, durch ein verwickeltes System sorgfältig erwogener Bestimmungen das deutsche Volk in der Welt rechtlos zu machen und auf Menschengenerationen unter ein unerträgliches, politisches und wirtschaftliches Sklavenjoch zu bringen. Bei Errichtung ihres Völkerbundes zur Sicherung des Weltfriedens und eines Zustandes der Gerechtigkeit schlossen sie die besiegten Völker, wie Barbaren im vorchristlichen Altertum, aus der Gemeinschaft der Kulturvölker aus, unter dem Vorwand, daß sie erst im Laufe der Zukunft durch Zeichen der Reue, der Bußfertigkeit und der Besserung sich der Aufnahme würdig erweisen müßten. Und noch mehr als das, sie machten zu einer der Friedensbedingungen, um eine Grundlage und Entschuldigung für ihre Härte zu haben, daß Deutschland durch Selbstbeschuldigung die Schuld am Kriege allein auf seine Schultern nähme und daß es außerdem noch durch einseitige Aburteilung der sogenannten Kriegsverbrecher aus seiner Mitte sich treulos und ehrlos mache.

Der angesehene, jetzt oft genannte englische Professor der Nationalökonomie, KEVNES, der selbst als Sachverständiger an den Friedensverhandlungen in Paris teilgenommen hat, spricht das härteste Urteil über ihren Verlauf und ihr Ergebnis aus und erklärt: "Die Politik der Versklavung Deutschlands für ein Menschenalter, der Erniedrigung von Millionen von lebenden Menschen und der Beraubung eines ganzen Volkes sollte abschreckend und verwerflich sein, selbst wenn sie möglich wäre, selbst wenn sie uns reicher machte, selbst wenn sie nicht den Verfall der ganzen europäischen Kultur zur Folge hätte." "Europa nach dem Friedensvertrag ist ein Kapitel des Pessimismus" (S. 184). "Wer ihn unterzeichnet, spricht damit das Todesurteil über viele Millionen deutscher Männer, Frauen und Kinder aus" (S. 188).


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Erstellt am 6. August 2001 von Kurt Stüber.