Ernst Haeckel

Brussa und der asiatische Olymp

1873

Zum asiatischen Olymp

Wenn man auf dem Seewege nach Konstantinopel den Hellespontos passiert hat und das Marmara-Meer ostwärts durchschneidet, erblickt man am südlichen Gestade in blauer Ferne langgestreckte Bergzüge. In mehrfach unterbrochenen, edelgeformten Linien stufenweise ansteigend, finden dieselben in einer majestätischen, mit ewigem Schnee bedeckten Kuppel ihren malerischen Abschluß. Diese stolze Gebirgskuppel ist der Olympos der asiatischen Griechen, der mystische Olymp des Herodot, der bithynische Olymp anderer klassischer Autoren.

Allerdings erfreut sich dieser asiatische Olymp nicht des hohen Rufes wie sein europäischer Namensbruder, der auf der Grenze von Mazedonien und Thessalien liegt und auf den altgriechischen Sagen den Sitz der Götter verlegen. Aber dennoch wird der abendländische Wanderer durch den Besuch des ersteren weit mehr als durch die Besteigung des letzteren befriedigt werden. Denn der wenig besuchte asiatische Olymp und seine nähere Umgebung ist mit einer Fülle von Naturschönheiten geschmückt, welche dem europäischen Götterberge abgehen, und die historischen Erinnerungen, welche sich an die von ersterem beherrschte Schaubühne weltgeschichtlicher Dramen knüpfen, verleihen ihm einen besonderen Reiz.

Unmittelbar am Fuße des asiatischen Olymp liegt Brussa, die von Hannibal gegründete Hauptstadt Bithyniens, die Wiege des osmanischen Dynastie, eine von türkischen Dichtern vielbesungene Perle des Orients, welche an hohem Reiz der Lage mit Damaskus und mit Granada wetteifert.

Im Abendlande ist Brusse heutzutage ein wenig bekannter und wenig genannter Ort. Für den Geschichtsforscher knüpfen sich freilich an diesen Namen hochwertige Begebenheiten; dem Arzt ist Brussa durch seine heilkräftigen, weitgerühmten heißen Quellen bekantn, das „Baden“ des Orients, und für den Kaufmann ist diese ansehnlichste Handelsstadt Anatoliens durch ihre Seidenwaren und Sammetfabriken von großer Bedeutung. Aber von den hohen Naturschönheiten Brussas, von den malerischen Reizen seiner Lage, von dem üppigen Schmucke seiner südlichen Vegetation, von der Fülle rauschender Quellen in seinen kühlen Felsentälern ist in Europa wenig bekannt; unter Tausenden von Touristen, die jetzt alljährlich nach Konstantinopel reisen, gelangen nur sehr wenige nach dem kaum eine Tagereise davon entfernten Brussa. Und doch ist sicher ein Besuch dieses herrlichen Ortes weit lohnender als viele berühmte „Sehenswürdigkeiten“ des Orients.

Der Besuch, den ich selbst im April 1873 dem asiatischen Olymp und Brussa abstattete, ist mir unter den vielen anmutigen Erinnerungen, die ich von meiner damals unternommenen Orientreise mit nach Hause brachte, eine der wertvollsten geblieben.

Wenige Wochen bevor ich nach Brussa kam, hatte ich in Kairo die Märchen von Tausendundeiner Nacht lebendig an mir vorüberziehen sehen, hatte von der Pyramide des Cheops einen Blick in die Libysche Wüste getan und von Sues auf einem Kriegsschiffe des Khediven einen höchst interessanten Ausflug zu den Korallenbänken des Roten Meeres am Fuße des Sinai unternommen. Von Alexandria war ich darauf nach Smyrna gefahren, von wo in Gesellschaft liebenswürdiger deutscher Landsleute Exkursionen nach den klassischen Trümmerstätten von Magnesia und Ephesus unternahm, in ersterem das uralte, in den Felsen gehauene Riesenbild der Niobe, in letzterem die kürzlich ausgegrabenen Substruktionen des weltberühmten Dianatympels bewundernd. Wenige Tage später genoß ich auf der Akropolis von Athen und auf den Tempelruinen von Eleusis unvergeßlich Stunden lebendiger Erinnerung an die Blüte des klassichen Altertums; und abermals nach wenigen Tagen erfreute ich mich an den Ufern des Bosporus und am Goldenen Horn von Konstantinopel der Fülle von Natur- und Kunstgenüssen, von historischen Reminiszenzen und ethnographischen Bildern, mit denen die gewaltige Hauptstadt des Türkenreiches noch heute geschmückt ist.

Und doch, nachdem alle diese wunderbaren Gemälde des Orients in der raschen Folge weniger Wochen an meinem Auge vorübergegangen waren, nachdem die Phantasie durch das Übermaß der genossenen großartigen und mannigfaltigen Bilder übersättigt erschien, vermochte zuletzt noch das herrliche Brussa einen so tiefen Eindruck zu hinterlassen, daß ich mir keinen schöneren und harmonischeren Abschluß zu der langen Reise der bunten vorhergegangenen Orientbilder wünschen konnte.

Es war ein heiterer, wolkenloser Frühlingsmorgen, als ich in Gesellschaft des bekannten Landschaftsmalers Ernst Körner aus Berlin die Fahrt nach Brussa antrat. Der Kanzler am deutschen Generalkonsulat in Konstantinopel, welcher der türkischen Sprache vollkommen mächtig ist, begleitete uns und hatte die Güte, die Rolle des Dolmetschers zu übernehmen.

Während die aufsteigende Morgensonne mit ihren ersten Strahlen die Fenster von Skutari und von den kleineren Ortschaften am asiatischen Ufer des Bosporus vergoldete, stiegen wir nach der großen Brücke hinunter, welche an der Ausmündung des Goldenen Horns das fränkische Pera mit dem alttürkischen Stambul verbindet. In der Nähe dieser Brücke ankern die kleinen Dampfboote, welche mehrmals wöchentlich von Konstantinopel nach dem Golfe von Mudania fahren. Die kleine Stadt Mudania liegt am südlichen Gestade des Marmara-Meeres, in gerader Linie etwa funtundvierzig Kilometer südwärts nach Stambul entfernt. Sie ist der Hafenort von Brussa und steht durch eine gute, dreißig Kilometer lange Fahrstraße mit ihm in Verbindung.

Ein leichter Kaik, einer venezianischen Gondel ähnlich, führt uns von der Pera-Brücke zu dem kleinen Dampfer hinüber; wir finden sein Verdeck bereits dicht besetzt mit türkischen Landleuten in buntfarbiger Tracht, mit zerlumpten Fischern und verschleierten Weibern. Um 8 Uhr lichtet unser Schiff die Anker und bahnt sich mühsam seinen Weg durch das dichte Gewühl von Fahrzeugen aller Nationen, welche den größten Hafen des Orients erfüllen.

Rasch durchkreuzen wir das südliche Ende des Bosporus, lassen die malerische, mit Zypressen bedeckte Serai-Spitze von Stambul zu unserer Rechten, den alten Leanderturm und den riesigen Begräbnisplatz von Skutari mit seinem berühmten Zypressenwald zu unserer Linken liegen und ergötzen uns an dem wundervollen Bilde, welches das alte Stambul hier von der Südseite gewährt. Je weiter wir uns von ihm entfernen, desto imposanter tritt die gewaltige Häusermasse der türkischen Hauptstadt auf ihren Hügeln hervor: Die Kuppeln ihrer zahlreichen Moscheen und die schlanken Minarette daneben schimmern golden im Glanze der Morgensonne. Dieses mächtige alte Kastell spielte lange Zeit als Zitadelle der Hauptstadt eine wichtige Rolle bei den Belagerungen und erinnert uns mit seinen mittelalterlichen Mauerkränzen und Turmzinnen an die gewaltigen Ereignisse, die hier im Laufe von zwei Jahrtausenden vorübergezogen sind. Doch werden wir in diesen historischen Betrachtungen bald durch den Pfiff der Lokomotive gestört, die längs der Mauern hindampft; sie befährt den neuen Schienenweg nach Adrianopel, welcher wenige Monate nach unserer Anwesenheit dem Verkehr übergeben wurde; ein wichtiger Fortschritt zur abendländischen Kultur und somit zur Auflösung des altersschwachen Osmanenreiches.

Während wir südwärts steuern, entschwindet das glänzende Bild der Konstantinstadt allmählich unseren Blicken. Wir fahren ziemlich nahe an den Prinzeninseln vorüber, den lieblichen, mit Villen und Gärten bedeckten Eilanden, auf denen im heißen Sommer die vornehmen Bewohner von Pera und Stambul sich vom staubigen Gewühl des Alltagstreibens erholen.

Scharen von Delphinen umspielen unser Schiff und tauchen, mit ihren Rückenflossen sich tummelnd, empor. Unser Kurs geht gerade auf eine steile, links weit vorspringende Landspitze zu, das „Bos burun“ oder das „Vorgebirge des Eises“. Zwischen diesem und den Prinzeninseln öffnet sich zu unserer Linken ein tief einschneidender von bewaldeten Bergen umgebener Meerbusen, der Golf von Nikomedia. Tief im Grunde desselben liegt das unbedeutende Städtchen Isnikmid, der letzte Rest des mächten alten Nikomedia, jener frühere Residenz der bithynischen Könige, die durch zahlreiche Erdbeben verwüstet wurde.

Zu unserer Rechten taucht jetzt aus der blauen Flut das schöne Eiland Kalolimni auf; wir fahren zwischen ihm und dem Eiskap hindurch und werden durch den herrlichen Anblick des Golfes von Mudania überrascht. Rings von langgestreckten, schöngeformten Bergketten umschlossen, deren Füße kulissenartig vorspringen, gleicht dieser Golf einem großen stillen Landsee. An seinen Gestaden landete Jason auf der Argonautenfahrt. Am südlichen Ufer des Golfs, wo er sich in das Marmara-Meer öffnet, liegt das Städtchen Mudania, eine Doppelreihe ärmlicher Holzhäuser, von vielen pyramidenförmigen Lebensbäumen (Thuja) überragt. Ihre Bewohner sind zum größten Teile griechische Gärtner und Weinbauern.

Nachdem wir uns bei den Polizeibeamten mittels unseres türkischen Passes legitimiert haben, besteigen wir einen der bereitstehenden offenen Wagen, der mit zwei schmucken Schimmeln bespannt ist, und in munterem Trab fahren wir auf der Landstraße nach Brussa.

Die Mittagssonne entsendete jetzt glühende Strahlen vom wolkenlosen Aprilhimmel Kleinasiens herab, und zu unserer Linken schlugen die plätschernden Wellen des spiegelklaren Meeres so verführerisch auf den weichen Sand des schmalen Strandes, daß wir der Versuchung nicht widerstehen konnten, unsere Fahrt nach kurzer Dauer zu unterbrechen und ein improvisiertes Bad zu nehmen. Köstlich erfrischt von den kühlen Wellen und von einem frischen Trunk aus einer Felsenquelle, die nach kurzem Lauf sich ins Meer ergießt, gingen wir jetzt eine Strecke neben dem Wagen aufwärts.

Die Straße steigt zwischen Olivengärten und Weinbergen in vielen Windungen bergan. Je höher wir hinaufkommen, desto schöner gestaltet sich der Blick auf den blauen Golf zu unseren Füßen und auf die edelgeformten, teils bebauten, teils bewaldeten Berge, die denselben in stattlichem Kranze umschließen. Besonders werden unsere Blicke durch den hohen, südöstlich gelegenen Berg Usuntschar gefesselt; seine ungemein schöne Form erinnert auffallend an den berühmten Monte Pellegrino bei Palermo.

Nachdem wir anderthalb Stunden gestiegen, haben wir den Sattel des langgestreckten Bergrückens erreicht, welcher den Golf von Mudania und die Ebene von Brussa trennt, und wir fahren nun, nach einem letzten Ausblick auf das Marmara-Meer, durch eine felsige Schlucht bergab. Am Ausgange der letzteren überrascht uns plötzlich die großartige Aussicht auf den weiten grünen Talkessel von Brussa, überragt von der gewaltigen, den ganzen südlichen Hintergrund ausfüllenden Granitpyramide des schneegekrönten Olympos. Das frischeste Frühlingsgrün schmückt die lachende Ebene zu unseren Füßen, mitten hindurch windet sich in weitem S-förmigem Doppelbogen der anmutige Fluß Nilufér. Er umgürtet den Fuß des Olymp und nimmt in sein Bett die zahllosen Bergbäche und Quellen auf, die den westlichen und nördlichen Abhängen des Berges entströmen. Den schönen Namen Nilufér – das heißt Lotosblume (Lotos nenufar) – verdankt der Fluß einer griechischen Prinzessin, die durch ihre Schönheit und Anmut weit berühmt war. Diese unglückliche Fürstin wurde während ihres Hochzeitsfestes auf dem festen Schlosse Biledschik von dem Sultan Osman, dem Gründer der Osmanendynastie, überfallen, räuberisch entführt und in den Harem seines Sohnes Urchan eingesperrt. Hier wurde sie später die Mutter des kriegerischen Sultans Murad I.

Nach halbstündiger heißer Fahrt durch die Ebene, deren Wiesen stellenweise ganz blau von Irisblüten waren, hatten wir das Gestade des Nilufér erreicht und hielten Rast im Schatten eines anmutigen Eichenhaines; ein türkisches Kaffeehaus erquickte uns mit köstlichem Mokkatrank. Hier zog auf der Straße eine lange Karawane von scheren anatolischen Lastkamelen an uns vorüber, wie man sie in den Straßen von Smyrna so oft sieht. Mit Ballen von kost< ! Seite 162>barer Brussaseide belastet, gingen die schwerfälligen Tiere gravitätisch hintereinander her, durch Stricke zu einer langen Kette verbunden. Den Kopf der langen Kolonne bildete ein kleiner kluger Esel, wie er hier gewöhnlich als Führer der Kamelzüge auftritt. Denn das Langohr vertritt hier im Morgenlande die leitende Intelligenz der Huftiere, im Gegensatz zu den im Abendland herrschenden Anschauungen.

Die Sonne neigte sich schon stark gen Westen, als wir in die Stadt einfuhren. Unsere Ankunft gestaltete sich dadurch besonders festlich, daß gerade ein griechischer Feiertag war. Die ganze griechische Bevölkerung, in die buntesten Festgewänder gekleidet, lustwandelte vor der Stadt und erfreute sich des schönen warmen Frühlingsabends. In heiteren Gruppen lagerten viele Familien auf den blumigen Hügeln vor den Mauern und ergötzte sich mit Musik, Spiel und Tanz. Keine schönere Staffage hätte den Vordergrund des herrlichen Bildes zieren können, das die prächtige Stadt mit ihren zahllosen Minaretten und Kuppeln, im Glanze der Abendsonne funkelnd, unseren entzückten Augen darbot.

In dem schön gelegenen „Hôtel du Mont Olymp“, dem einzigen europäischen Gasthofe von Brussa, fanden wir freundlichste Aufnahme und beste Verpflegung. Die köstlichen Orangen und Feigen, die vorzüglichen Maccaroni con pomi d´oro und die leckeren Forellen aus den Olymposbächen, gewürzt durch den edlen, rosenroten, am Fuße des Götterberges gewachsenen Wein, mundeten uns so vortrefflich, als ob es Nektar und Ambrosia von der olympischen Göttertafel selbst gewesen wäre. Dabei ergötzten sich unsere Geruchsnerven an den aromatischen Blumendüften der zahlreichen benachbarten Gärten, in denen Rosen und Lilien, Daphne und Balsamine in üppigster Fülle blühten; und als ob Vater Zeus am Tore seiner Götterwohnung alle Sinne gleichmäßig entzücken wolle, wurden wir noch am späten Abend durch ein unerwartetes Konzert überrascht. Denn als wir das Verlangen nach Speise und Trank gesättigt hatten, unsere Schlafzimmer aufsuchten und auf deren Balkon hinaustraten, um die würzige Abendluft zu atmen, tönte uns aus der benachbarten Waldschlucht der melodische Gesang zahlreicher Nachtigallen entgegen. Während diese liebliche Sängerin bei uns meistens die Einsamkeit aufsucht, wohnt sie in Kleinasien scharenweise in den Gärten und scheint im Wettgesang besondere Kunst zu entfalten. Jeden Abend, wenn wir in Brussa unser Lager aufgesucht hatten, lauschten wir noch lange ihren entzückenden Liedern und wurden erst spät dadurch in den süßesten Schlaf gesungen.

Waren schon die ersten Eindrücke, die wir am Abend unserer Ankunft in Brussa empfingen, höchst angenehm, so überzeugten uns unsere Wanderungen in der Stadt und in der näheren Umgebung bald, daß eine lieblichere Sommerfrische im Orient wohl nicht gefunden werden kann. Fürwahr, die türkischen Dichter haben recht, wenn sie diese Stadt als ein irdisches Paradies besingen. Reizend schön, lieblich und großartig zugleich ist die ganze Lage und Umgebung der Stadt, in vieler Beziehung derjenigen von Granada ähnlich. Als ich auf der alten Schloßruine von Brussa, auf steilem Felsen hoch über der Stadt, stand und als mein Blick über die Häusermassen, Kuppeln und Gärten zu meinen Füßen schweifte und weiter hinaus über die ausgedehnte, üppig grüne Ebene und in blauer Ferne über den umschließenden Kranz von malerischen Höhenzügen, da tauchte lebendig die Erinnerung an das herrliche Panorama in mir auf, das ich vor Jahren auf der Alhambra und über der berühmten Vega von Granada genossen hatte. Wie die andalusische Hauptstadt von den schneegekrönten Höhen der Sierra Nevada, so wird Brussa von dem gewaltigen Schneehaupte des Olymp überragt.

Auch bieten die beiden Städte viele Vergleichspunkte in den zahlreichen und prächtigen Denkmälern islamitischer Kunst und Geschichte, mit denen sie noch heute geschmückt sind. Aber die Verhältnisse sind in Brussa großartiger und gewaltiger als in Granada. Die anatolische Osmanenresidenz mit ihren vielen hundert glänzenden Kuppeln, weißen Minaretten und schwarzen Zypressen daneben ist weit malerischer als die berühmte andalusische Kalifenresidenz, und auch in bezug auf die sprudelnde Wasserfülle und Üppigkeit der südlichen Vegetation ist die erstere der letzteren weit überlegen. Im übrigen hat aber doch der landschaftliche Charakter beider Gegenden sehr viel Ähnlichkeit, und es legt ein gutes Zeugnis für den Schönheitssinn und das feine Naturgefühl der mahammedanischen Fürsten ab, daß sie ebenso in Kleinasien wie in Spanien die mit den höchsten Naturreizen geschmückte Stadt zum bleibenden Herrschersitz wählten. Das Gegenteil gilt von den christlichen Königen Spaniens, den Gönnern der heiligen Inquisistion; denn diese erwählten zu ihrer Residenz das traurige Madrid, mitten auf der öden Hochebene von Kastilien, ohne Wald und ohne Wasser.

Die üppige Ebene von Brussa, die südlich vom Olympgebirge, nordlich von den Höhenzügen des Arganthonios (jetzt Catirli) umschlossen wird, ist ungefähr dreißig Kilometer lang, siebeneinhalb Kilometer breit und fast in ihrer ganzen Ausdehnung teils mit fruchtbaren Wiesen, teils mit Maulbeerpflanzungen bedeckt. Diese Maulbeerwald ist das große Proviantmagazin für die Seidenraupen, welche Brussas wichtigsten Handelsartikel, die kostbare Brussaseide, spinnen.

Während die Hauptmasse des Olymp nach Süden steil abfällt, strahlen nach Norden von seinem Fuße zwölf gewaltige Bergrücken aus, zwischen denen ebenso viele Schluchten liegen. In jeder Schlucht rauscht ein Bergstrom, der aus tausend Quellen das schmelzende Schneewasser des Olympgipfels sammelt. Diese Bergströme führten auch im heißesten Sommer eine nie versiegende Wasserfülle in das Tal, und darin liegt bei dem köstlichen Klima die Hauptursache der herrlichen Gegend. Überall rieseln kalte und warme Quellen aus den Schluchten des Götterberges, Wasserfälle stürzen von seinen jähen Felswänden, plätschernde Brunnen versorgen alle Teile der Stadt, und hier wird der Koranspruch zur Wahrheit: „Das Wasser hat Leben allen Dingen gegeben“.

Eine von den erwähnten Schluchten, wegen ihrer himmelhohen Felswände das Himmelstal (Gökdereh) genannt, geht durch den östlichen Teil der Stadt mitten hindurch und ist von einer kühnen Brücke überspannt. Im Grunde rauscht der wilde Bergstrom über Felsentrümmer, während die Felsenmauern zu beiden Seiten, unterhalb der Häuser, mit Buschwerk und Schlingpflanzen behangen sind. Eine andere, kleinere aber ebenfalls sehr malerische Schlucht (Kodocha Neib) durchschneidet den westlichen Teil der Stadt.

Zwischen diesen beiden Schluchten erheben sich, mitten über Brussa, auf einer gewaltigen, fast senkrechten Felsenterrasse, die Ruinen der Zitadelle und der ältesten osmanischen Herrscherpaläste, derjenigen von Mohammed I. und Murad I., daneben die Moschee Sultan Urchans und der Grabkappellen von Urchan und Osman. Auch vom Marmorbade des Harems sind noch bedeutende Reste vorhanden. Von der alten Festung, der ältesten des osmanischen Reiches, sind nur noch ein paar Mauern und Turmruinen übrig, und im Grase versteckt liegen vier uralte, vorrostete, eiserne Kanonenläufe. Wilder Wein und Efeu überzieht wuchernd das zerfallene Trümmerwerk.

Gleich hinter der Zitadelle liegt Bunarbaschi, der „Quellenhaupt“, einer der beliebtesten öfffentlichen Spaziergänge Brussas. Hier trifft man jederzeit, besonders aber gegen Abend, lustwandelnde oder auf den Rasenplätzen gelagerte Gruppen, die im Schatten alter Platanen rauchen, Kaffee schlürfen und dem Gemurmel der vorübereilenden Bergbäche lauschen.

Unmittelbar an diese reizende Promenade stößt ein Friedhof mit mächtigen alten Zypressen, und wenn wir diesen durchschreiten und dann auf einem anmutigen Felsenpfade den Berg eine Viertelstunde hinansteigen, so kommen wir zu den berühmten Wallfahrtsorten zweiter mohammedanischer Heiliger, Murad Abdal und Seid Nassir. Von hier genießen wir bei der Abendbeleuchtung eine der schönsten Aussichten über die ganze zu unseren Füßen liegende Stadt, über die weite grüne Ebene und über die fernen Arganthonios-Berge, die im Glanze der Abendsonne sich in das zarteste rosige Gewand hüllen.

Nicht weniger als 365 malerische Aussichtspunkte und anmutige Spaziergänge zählen die Bewohner von Brussa mit Stolz in ihrer herrlichen Umgebung auf, und ebenso groß soll auch die Zahl der glänzenden Kuppeln der Moscheen und Gruftkirchen sein, die aus dem butnen Häusermeer der Stadt und aus den überall eingestreuten grünen Gärten hervorragen. Doch ist wohl die Mehrzahl jetzt halb verfallen oder ganz zerstört. Immerhin dürften noch gegen zweihundert Kuppeln vorhanden sein, und diese gehören nebst den schlanken Minaretten und den uralten Zypressen zu den charakteristischen Zierden der Stadt. Die weißen Minarette, die gleich hohen Marmorsäulen über die metallglänzenden Kuppeln der Moscheen emporstreben, stehen in lichtvollem Kontrast zu den düsteren schwarzgrünen Zypressen, welche überall einzeln und gruppenweise in der Stadt und ihrer nächsten Umgebung zerstreut sind. Nie habe ich gewaltigere und ehrwürdigere Zypressen gesehen als hier in Brussa. Verglichen mit diesen mächtigen, uralten Riesen erschienen mir die berühmten Zypressen der Villa d`Este in Tivoli bei Rom als schlanke Jünglinge. Überaus wirkungsvoll heben sich ihre dichten schwarzen Nadelpyramiden auf der lichtvollen und farbenprächtigen Landschaft von Brussa ab, besonders wenn die untergehende Sonne diese mit einem zauberhaften roten Glanz überzieht.

Gleich allen anderen Städten des Orients ist auch Brussa im Innern viel weniger anziehend als von außen. Doch zeichnen sich die engen Straßen durch verhältnismäßige Reinlichkeit aus, und die blumenreichen Gärten hinter den Häusern geben ihnen einen freundlichen Charakter. Die Stadt zieht sich über eine Stunde lang am Olympabhange hin, ist aber kaum eine Viertelstunde breit. Die Einwohnerzahl, früher weit über 100000, beträgt jetzt kaum 70000.

Unter den öffentlichen Gebäuden von Brussa sind vor allem die von den ältesten Osamanensultanen gegründeten Moscheen und Graddenkmäler von Interesse, sowohl durch ihren architektonischen Schmuck als durch den daran geknüpften historischen Erinnerungen. Alle die älteren Herrscher der Osmanendynastie haben sich hier durch schöne Kuppeldome verewigt; voran Osman, Erthogruls Sohn, der als Gründer des Osmanenreichs sich welthistorische Bedeutung erwarb; dann Urchan, der nach langer hartnäckiger Belagerung im Jahre 1326 Brussa eroberte, kurz vor dem Tode seines Vaters Osman; darauf Murad I., welcher den Schrecken der türkischen Waffen nach Europa trug und 1389 in der siegreichen Schlacht auf dem Amselfeld in Serbien fiel. Murads Sohn war Childrim Bajasid, der „Blitzstrahl“, der gewaltige Krieger, der bis in das westliche Ungarn vordrang, 1396 bei Nikopolis den deutschen Kaiser Sigismund schlug, selbst aber 1402 in der furchtbaren Schlacht bei Angora von dem Mongolen Timur geschlagen und gefangengenommen wirde. Auf Bajasid folgte sein Sohn Mohammed I., auf diesen Murad II. und dann Murad Mohammed II., der 1453 Konstantinopel eroberte. Alle diese mächtigen Sultane des Osmanenreiches, die das ganze Abendland mit ihrer furchtbar wachsenden Macht in Schrecken setzten, haben in Brussa eine Zeitlang residiert und Moscheen gestiftet; die meisten sind auch dort begraben.

Auf der Ostseite der Stadt hat Childrim Bajasid seine Moschee erbaut, durch edle Einfachheit ausgezeichnet. Daneben steht sein Grabmal im ältesten und einfachsten Stil der osmanischen Baukunst. Nicht weit davon erhebt sich auf einem Hügel mit herrlicher Aussicht die prachtvolle Moschee Mohammeds I., die für die schönste des ganzen osmanischen Reiches gilt. Polierte Platten von buntfarbigem Marmor schmücken die Außenwände, so daß der Dom schon von fern wie ein Edelstein glänzt. Ein wundervolles Tor mit den zierlichsten Marmorarabesten führt in das Innere, das mit blauen und grünen Porzellanplättchen getäfelt ist; darauf prangen Koraninschriften in weißem Schmelz. Der Mirab (die Nische, worin der Koran liegt) ist von rotem Marmor, mit Gold verziert. Auch die Kuppeln und Minaretts dieser wundervollen Moschee waren ehedem ganz mit grünem persischen Porzellan bekleidet, weshalb die den Namen der „Grünen Moschee“ erhielt.

Am anderen Ende von Brussa, nahe dem westlichen Eingang, liegt an einem höchst malerischen Platze, von hohen Platanen und Zypressen umgeben, die „Muradieh“, die Moschee und Gruftkirche Murads II., daran stoßend ein Dutzend Mausoleen, Kapellen und Schulen. In den Gruftkurchen hängen noch Kleider und Waffen der Sultane und ihrer Familien. Auf den Sarkophagen liegen schwarze Sammetdecken, mit Silber und Gold gestickt, davor der Koran und Gebetbücher in prächtigen alten Pergamentbänden mit feiner Malerei. Reizend ist der Garten vor dieser Moschee, in welchem jetzt eben Rosen, Lilien und Jasmin ihre Wohlgerüche ausströmten.

Die größte Moschee von Brussa, auf dem höchsten Punkte der Stadt gelegen, ist vom Sultan Murad I. angefangen, von seinem Sohn Bajasid I. fortgeführt und erst von seinem Enkel Mohammed I. vollendet. Sie bildet ein Quadrat von sechzig Meter Seitenlänge, und ihr Dach ist aus neunzehn Kuppeln zusammengesetzt. An Stelle der zwanzigsten befindet sich ein mächtiges kreisrundes Fenster und darunter ein großes viereckiges Wasserbecken, in dem Forellen spielen; eine Eigentümlichkeit dieser Moschee. Mirab und Estrade sind mit Marmorarabesken, Pfeiler und Wände mit seltsamen Schriftzügen, Sprüchen aus dem Koran, geschmückt. Früher wurde diese Moschee in den Ramadannächten mit siebenhundert Lampen erleuchtet.

Viele von den Moscheen und den andern merkwürdigen Gebäuden Brussas sind gelegentlich der wiederholten Verheerungen der schönen Stadt durch Krieg, Feuersbrünste und Erdbeben, insbesondere durch das letzte große Erdbeben von 1855, zerstört worden. Unter den wohlerhaltenen Gebäuden sind besonders noch die warmen Bäder zu erwähnen, schöne gewölbte Kuppeldome, in denen mächtige warme Quellen sprudeln. Diese Thermalquellen, sieben an der Zahl, brechen aus den Tiefen des Olymp hervor; sie waren schon im Altertum wegen ihrer Heilkraft berühmt und wurden vielleicht für Hannibal die Veranlassung, hier die Stadt zu gründen, die er seinem Gastfreunde und Gönner, dem Könige Prusias von Bithynien, zu Ehren „Prusa“ nannte. Noch jetzt werden die Heilquellen Brussas alljährlich von mehreren tausend Patienten aus allen Teilen des Orients besucht. In manche Bäder werden heiße und kalte Quellen nebeneinander geleitet und nach Bedürfnis in den Marmorbassins gemischt. Die Temperatur ist teilweise ausnehmend hoch und beträgt bei den vier mächtigen Hauptquellen 82 Grad.

Unter den Ausflügen, die wir von Brussa aus unternahmen, war der weiteste und interessanteste die Ersteigung des Olymp. Um 5 Uhr morgens bestiegen wir die starken türkischen Bergpferde, welche uns auf den ungefähr 2400 Meter hohen Götterberg hinauftragen sollten. Zwei berittene und bewaffnete Türken dienten uns als Führer und Eskorte. Der klare wolkenlose Himmel und die empfindlich kalte Morgenluft versprachen uns einen schönen Tag, und sie hielten Wort.

Nachdem wir die Stadt am östlichen Ende verlassen und eine kurze Strecke durch Weingärten geritten waren, führte uns ein steiler, steiniger Pfad in dem Walde aufwärts, der als dichter grüner Mantel den ganzen unteren Teil des gewaltigen Berges einhüllt. Der nördliche Abhang des Olymp gliedert sich in drei verschiedene Terrassen, von denen die unterste 600, jede der beiden oberen ungefähr 900 Meter hoch ist. Die oberste Terrasse ist fast ohne Baumwuchs, die mittlere mit Nadelholz, die untere mit Laubholz bedeckt; hier unten bestand der Laubwald größtenteils aus edlen Kastanien und Nußbäumen, weiter oben gesellten sich dazu viele Buchen und Eichen. Wilder Wein, Waldreben, Brombeeren und andere Schlingpflanzen winden sich in zierlichen Girlanden von Baum zu Baum, und dichtes Efeugewand umschließt die altersgrauen Stämme. Der Boden zwischen den Baumwurzeln ist mit einem lachenden Teppich bunter Frühlingsblumen geziert: roten Anemonen, violetten Hyazinthen, blauen Veilchen, gelben Ranunkeln und weißen Narzissen. Der gelbe Jasminstrauch verbreitet mit seinen zierlichen Blütentrauben ringsum balsamischen Duft.

Der Weg führt eine lange Strecke an dem steilen östlichen Rande des Gökdereh oder Himmelstals empor, dessen gewaltiger Felsenkessel mit senkrecht abfallenden Wänden in schwindelnder Tiefe zu unseren Füßen liegt. Die gigantische Felsmasse des Olymp ist auf dieser Terrasse zum größten Teile von einem Gürtel von schiefrigem Gneis umgeben, jedoch ist derselben an vielen Stellen von weißem Marmor durchsetzt. Auf der dritten Terrasse ist der rote Granit wieder vielfach von grauem und weißem Marmor bedeckt, der auch den Gipfel bildet.

Nachdem wir etwa eine Stunde lang an der oberen Kante der Himmelsschlucht emporgestiegen waren, erreichten wir an der Grenze der ersten und zweiten Terrasse einen sehr anmutigen Platz. Der Wald ist hier auf eine ausgedehnte Strecke gelichtet und der quellenreiche Felsboden mit üppigem Rasen bedeckt. Das Gebell großer zottiger Wolfshunde, die uns entgegensprangen, lenkte unsere Blicke auf eine Ziegenherde, die in einiger Entfernung am Felsenhang weidete, und daneben wurden wir einige sonderbare Zelte von halbtonnenförmiger Gestalt gewahr. Es waren die Sennhütten turkomanischer Hirten, die den Sommer über auf den Abhängen des Olymp Alpenwirtschaft treiben. Im Winter ziehen sie als unstete, halbwilde Nomaden in der Ebene umher. Ihre Schafe und Ziegen sollen von den Herden Sultan Osmans abstammen, der an vierzigtausend Lämmer auf dem Olymp weiden ließ.

Auf dieser Turkmenenplatte genossen wir einen herrlichen Rundblick über die ganze grüne Ebene von Brussa, tief unten im Grunde der blaue See von Jenischehr, rechts im Hintergrunde die schöne Bergkette des Arganthonios, links jäh zu unserer Seite das großartige Gökdereh.

Von der Turkmenenplatte aufwärts führte uns der Weg fast drei Stunden lang über die Granitgehänge der zweiten Terrasse, deren Walddecke meist aus Nadelholz, größtenteils Edeltannen und Lärchenfichten, besteht. Namentlich unter ersteren finden sich prachtvolle alte Stämme von gewaltiger Höhe und Stärke, mit langen grauen Bartflechten behangen. Große Strecken des Forstes waren durch Waldbrände zerstört, und wie riesige Gespenster ragten die nackten, gebleichten Stämme der hohen Edeltannen mit ihren halbverkohlten Zweigen aus den üppigen Farnkrautbüschen hervor, die sich auf der Brandstätte angesiedelt hatten. Zwischen den Aschenhaufen und den umherliegenden verkohlten Baumtrümmern sproßte neues reiches Pflanzenleben aus den Ruinen der vorhergegangenen Generation empor. Hunderte von kleinen Bächen, von dem schmelzenden Olymposschnee gespeist, rieselten zwischen den Felstrümmern, und mehrmals mußten unsere Pferde durch reißende Bergwässer schreiten, deren schäumende Wellen bis zu unserem Sattel emporreichten.

Der gewaltige Bergspalt des Himmelstales, auf dessen östlichem Rande sich unser Pfad bisher meistens hielt, findet jetzt seinen Abschluß durch eine kolossale Mauer von himmelhohen Felswänden, die von dem untern Rande der dritten Olymposterrasse fast senkrecht abstürzen. Prächtige Wasserfälle schäumen donnernd zwischen den zerklüfteten Granitpfeilern in die furchtbare Tiefe hinab und lösen sich unten in feinen Wasserstaub auf. Üppige weiche Moospolster bekleiden die hervorragenden Köpfe des triefenden Gesteins.

Unser beschwerlicher Pfad weicht der unersteiglichen Felsenmauer, die südwärts vor uns liegt, aus und wendet sich mehr gegen Osten, über einen zerklüfteten Abhang hinweg, der über und über mit den großartigsten Felstrümmern bedeckt ist. Die riesigen Granitblöcke, die hier chaotisch durcheinander und übereinander liegen, sind von früheren Reisenden treffend mit den Wurfgeschossen verglichen, denen sich die Giganten bei ihrem mißlungenen Sturme auf die Götterburg bedienten; oder auch mit den zerrissenen Gliedern der Giganten selbst, die Jupiter mit seinem Blitzstrahl zerschmetterte und in Stein verwandelte.

Mühsam zwischen diesem Granitgetrümmer uns hindurchwindend, gelangen wir zu einer steilen Felsentreppe, über welche unsere wackeren Rosse mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit und Vorsicht hinanklettern. Nur an wenigen Stellen müssen wir absteigen und den guten Tieren selbst mit heraufhelfen.

Nachdem wir die steilen, zum Teil in eine senkrechte Felswand gehauenen Stufen glücklich erklommen haben, stehen wir plötzlich vor einem neuen überraschenden Bilde. Vor uns liegt die dritte Terrasse, eine ausgedehnte Hochebene, mit Tausenden von riesigen Granitblöcken bedeckt, hie und da auch mit einigen niederen, ganz verkümmerten Tannen. Über denselben aber steigt in erhabener Majestät der gewaltige Dom des Olympgipfels auf, eine schön gewölbte Kuppe, von oben bis unten in einen schimmernden Schneemantel gehüllt. Zu unserer Rechten liegt am oberen Waldrande vorn ein kleiner, von Gebüsch umgebener, Forellen enthaltender Alpensee.

In munterem Galopp reiten wir nun auf dem weichen Moosboden gerade auf unser Ziel los. Doch nimmt der Wasserreichtum des von tausend Quellen getränkten Hochmoores bald so sehr zu, daß unsere Rosse bei jedem Schritt tief in den Schlamm sinken. Wir müssen absteigen und sie vorsichtig hinter uns herziehen, bis wir wieder festen Granitboden unter den Füßen haben. Wir begegnen hier einer langen Karawane von Eseln, die in Zwerchsäcken Olymposschnee herabholen, in Brussa und Konstantinopel die Hauptquelle für das schöne Fruchteis, das die Bewohner im heißen Sommer erquickt.

Langsam über eine sanft geneigte, teilweise mit Schnee bedeckte Berglehne aufsteigend, haben wir endlich um 10 Uhr den nördlichen Fuß des kegelförmigen Gipfels erreicht. Hier liegt eine halb verfallene steinerne Hütte, die im Sommer von turkmenischen Hirten bewohnt wird. Sie erinnert mich an die Casa inglese am Fuße des obersten Aschenkegels das Ätna, in der ich im Oktober 1859 übernachtete, und an die ähnliche Steinhütte, in der ich im November 1866 oben auf dem Pik von Teneriffa rastete, bevor ich die Besteigung des obersten, damals ebenfalls mit Schnee bedeckten Gipfels begann. Obgleich die elende Turkmenenhütten uns wenig mehr als ein trockenes Plätzchen inmitten der umgebenden Schneelandschaft gewährte, so war uns doch eine halbstündige Rast nach dem ununterbrochenen, anstrengenden fünfstündigen Reiten und Klettern sehr willkommen.

Wir zäumten unsere Pferde ab, breitete die Satteldecken auf dem verfallenen Gemäuer aus und zündeten aus umherliegenden Wurzelwerk und mitgebrachten Kohlen ein wohltuendes Feuer an. Bald kochte über demselben ein kräftgier Kaffee, und mit ausgezeichnetem Appetit verzehrten wir den Inhalt unserer Satteltaschen: olympischen Käse und anatolische Hühnereier, Smyrnafeigen und zyprische Orangen. Der treffliche rosenrote Feuerwein aus dem Olymposhotel goß neue Kraft in unsere ermüdeten Glieder. Während dieses herzerfreuenden Mahles bewunderten wir den großartigen Ernst der Alpenlandschaft, die uns umgab, und beratschlagten, ob und wie wir die Ersteigung des unmittelbar vor uns liegenden Schneekegels bewerkstelligen könnten.

Unsere Freunde in Brussa hatten uns zwar vorher schon versichert, daß in dieser Jahreszeit an eine Besteigung des Gipfels nicht zu denken sei und daß wir des Schnees wegen höchstens bis zur dritten Terrasse kommen würden. Auch wollten unsere Führer davon nichts wissen und verweigerten jeden Versuch zur Mitwirkung; ja, sie prophezeiten uns sogar sicheren Untergang im Schnee, wenn wir unbegreiflicherweise auf den Gipfel klettern wollten. Indessen lag der schneeblinkende Doppelgipfel so verlockend vor uns, daß wir wenigstens den Versuch einer Ersteigung beschlossen, zumal ein glücklicher Erfolg ähnlicher früherer Wagnisse uns ermutigte. War in den höheren und steileren Schneekegel des Pik von Teneriffa vor sieben Jahren allein und gegen den Willen der Führer glücklich hinaufgekommen, so mußte auch dieses, offenbar viel weniger schwierige Unternehmen glücken; und so traten wir denn wohlgemut nach halbstündiger Rast unsere Wanderung an.

Das glückliche Gelingen mußte davon abhängen, ob die vor uns liegende steile Schneewand, die in ununterbrochener Flucht von der Turkmenenhütte bis zum Doppelgipfel aufstieg, zugänglich war; ob der Schnee weich genug war, um darin festen Fuß zu fassen, hart genug, um nicht zu tief einzusinken. In der Tat war dies der Fall, und wir konnten ohne Gefahr, wenn auch nur langsam und beschwerlich, im Zickzack über die glänzende Lehne emporsteigen. Unsere kleine Gesellschaft kam jedoch bald auseinander, da sich jeder seinen eigenen Weg suchte. Ich hielt mich am weitesten östlich, zog die kürzeste und steilste Richtung vor und hatte nach anderhalbstündigem anstrengenden Klettern glücklich den höchsten Gipfel erreicht; es war gerade 12 Uhr mittags. Eine halbe Stunde später traf auch der Maler Körner oben ein, der sich seinen Pfad auf einer etwas flacher geneigten Schneelehne gesucht und dadurch einen Umweg gemacht hatte. Unsere anderen Reisegefährten, die eine ungünstigere, zu sehr von der Sonne aufgeweichte Schneehalde betreten hatten, erreichten die Höhe nicht und kehrten nach vergeblichen Versuchen zur Turkmenenhütte zurück, wo unsere Führer bei den Pferden geblieben waren.

Eigentümlich erhebend und großartig war die gewaltige Rundsicht, die wir nun auf dem Gipfel des asiatischen Olymp genossen und die durch das herrlichste, klarste Sonnenlicht begünstigt wurde. Wir standen auf einem anatolischen „Dreiherrenspitz“; denn der Gipfel des Olympos bezeichnet die Grenze dreier Provinzen des alten römischen Weltreiches: Bithynien im Norden und Osten, Phrygien im Süden, Mysien im Westen. Vor allem großartig und prächtig ist der Blick nach Norden, wo unser Auge über die grüne Ebene von Brussa und den blauen Golf von Mudania hinüber auf das Marmara-Meer schweift, auf die Prinzeninseln und weiter bis zum Bosporus, ja bis zu dem Häusermeer und dem Kuppelwald von Konstantinopel, das wir eben noch erkennen können. Westwärts erfreut sich das Auge an den herrlichen grünen Gefilden des fruchtbaren und früher reich bevölkerten mysischen Küstenlandes, aus denen die beiden großen Landseen von Apollonia und Manija wie zwei blinkende Augen hervorschauen. Im Süden hingegen erblicken wir weit und breit nur dunkles Waldgebirge, Kuppen über Kuppen gehäuft, die Gipfel noch mit Schnee bedeckt, ohne eine Spur von menschlichen Wohnsitzen. Ostwärts ist die Rundsicht größtenteils durch die benachbarten niederen Höhen des Olymposrücken verdeckt.

Welche Ereignisse vollzogen sich auf der welthistorischen Schaubühne, welche unser Auge hier mit einem Blicke meilenweit überfliegt! Welche Fülle der größten historischen Erinnerungen knüpft sich allein an die Wasserstraße zu unseren Füßen, die gleich einem Zauberbande zwei Weltteile trennt und verbindet! Hier führten Xerxes und Darius ihre persischen Heeresmassen nach Griechenland hinüber; hier traten die römischen Legionen von Europa nach Asien über, um die Königreiche von Bithynien und Mysien der Universalherrschaft Roms zu unterwerfen; auf demselben Boden sammelten die ersten Osamanensultane, deren Wiege in Brussa stand, ihre Türkenheere, die in kurzer Zeit der Schrecken Europas wurden; und ebenda strömten wiederum die bunten Scharen der Kreuzfahrer aus allen Landen Europas nach dem „Heiligen Lande“, um das leere Phantom der Grabeskirche zu erobern!

Nachdem wir uns an dem wunderbaren Panorama gesättigt und die daran sich knüpfenden Erinnerungen in raschem Phantasiefluge an uns hatten vorüberziehen lassen, warfen wir noch einen Blick auf die nächste Umgebung, auf die weißen Marmorblöcke, die den Gipfel des Olymp bedecken, und auf die winzige Alpenflora, die zwischen denselben den Boden bekleidet. Da erkannten wir, unter der Schneedecke versteckt, zierliche kleine Saxifragen und Gentianen, niedliche Kruziferen und Primeln, Alpenpflanzen, deren schöne farbenreiche Blüten im Hochsommer den Gipfel des Götterberges mit buntem Schmucke zieren. Gegenwärtig waren nur das im Winterschlaf versunkene Kraut der Zwergflora sichtbar und trockene Früchte aus dem vorigen Jahre. Aber ein Schwarm von niedlichen roten, schwarz getüpfelten Marienkäferchen (Coccinella) tummelte sich im Sonnenschein auf dem schneebedeckten Rasen. Auch eine der beliebtesten und am meisten charakteristischen Pflanzen unserer Hochalpen fehlte nicht: das Edelweiß, oder doch eine diesem nahe verwandte, mit weißem Filz bedeckte Gnaphalium-Art.

Als bleibendes Andenken an die gelungene Olympbesteigung schlug ich mir die Spitze des am höchsten vorragenden Marmorblockes ab und steckte sie zu den Alpenpflanzen in die Wandertasche; vertrauend, daß Vater Zeus darüber nicht zürnen werde, wenn sein Götterberg um einen halben Fuß niedriger ist. Dann trat ich mit meinem Gefährten Körner wohlgemut den Rückweg an. Über die glatte Schneewand herabrutschend, waren wir in kurzer Zeit wieder bei der Turkmenenhütte und banden uns hier noch einen schönen Strauß von den bunten Blumen, die unmittelbar am Rande des schmelzenden Schnees blühten: gelber und violetter Safran (Crocus), blaue Meerzwiebel (Scilla) und rote Aurikeln (Primula). Dann setzten wir uns wieder zu Pferde, genossen auf dem Rückwege, der mit mehr Mußte zurückgelegt wurde, noch eine prachtvolle Abendbeleuchtung und waren um 8 Uhr abends wieder in Brussa.


Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library.
Die Datei wurde erstellt am 25. Juni 2002 von Kurt Stueber.