Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

57. Brief

Würzburg, 3. 6. 1855.

Meine lieben Eltern!

Gestern abend erhielt ich Euern lieben Brief nebst dem Nekrolog vom Großvater, der mir sehr gefallen hat. Nur hätte ich gewünscht, lieber Vater, daß Du etwas ausführlicher gewesen wärst und außer seinen Verdiensten um den Staat und seinem herrlichen Charakter auch namentlich seine liebenswürdige Einfachheit als Privatmann sowie den bewundernswerten Reichtum an Kenntnissen aller Art etwas mehr hervorgehoben und dies vielleicht durch eingehende, so zahlreiche und interessante Einzelheiten seines reichen Lebens belegt hättest. Freilich war der gesteckte Raum für eine so ausführliche Charakteristik viel zu eng. Aber hoffentlich gibst Du den Gedanken nicht auf, später ein ausführliches Charakterbild, eine ordentliche Biographie des einzigen Mannes zusammenzustellen. Grade in unserer schwachen und entarteten Zeit, bei der allgemeinen Flauheit und Charakterlosigkeit, der Kleinlichkeit und dem Eigennutz, der überall herrscht, ist es doppelt notwendig, daß der kommenden Generation solche hehre und erhabene Vorbilder aus der jüngsten Vergangenheit anschaulich und lebendig vor Augen geführt werden, daß sie daran lernen und sich erbauen können. Wie wenig solcher trefflichen Charaktere, wie Großvater war, gibt es jetzt, und wie nötig brauchen wir sie doch grade jetzt! -

Was nun mein Tun und Treiben in den letzten Wochen betrifft, so habe ich Euch zunächst von meiner Pfingstreise zu erzählen, die wirklich glücklich zustande gekommen ist, wenn auch in bedeutend anderer Art und Weise, als ich gedacht hatte. Es wurde nämlich daraus nicht die zoologisch botanische Naturforscher-Fußreise, wie ich sie von jeher gewohnt war mit dem größtmöglichen Naturgenuß zu machen, sondern eine echte, sogenannte "Studentenspritze", wie ich sie noch nie gemacht hatte und hoffentlich auch nicht wieder machen werde. Denn wenn ich dies eine Mal auch recht munter und fidel dabei gewesen bin und in der Tat einmal die wahren Bummelwanderungen der Studenten kennengelernt und selbst mitgemacht habe, so bin ich doch durch diese Tour ein für allemal befriedigt und wünsche nie wieder in den Fall zu kommen, eine solche mit durchmachen zu müssen (wozu übrigens auch gar keine Aussicht ist). Dem Sinn und der Anschauungsweise der andern Studenten mag eine solche Art zu reisen wohl entsprechen; aber mit meiner Art, die Natur zu genießen und auszudeuten, ist diese Manier vollkommen unvereinbar, und ich mußte diesmal gleich von vornherein alle meine Wünsche und Pläne aufstecken, um nur in die Möglichkeit mich zu versetzen, eine solche Bummelei vier Tage lang aushalten zu können. Während ich bei meinen Fußreisen immer gewohnt war, die ganze Natur der durchwanderten Landstriche möglichst genau von innen und außen kennenzulernen, selbst ganz abgesehen von den speziellen botanischen und zoologischen Liebhabereien, wenigstens die schönsten Gegenden vor allem aufsuchte, hier mich möglichst überall umsah, nach der Natur zeichnete usw., war von alledem hier nicht die mindeste Rede. Nicht einmal die Aufsuchung der interessantesten Aussichtspunkte oder der anmutigsten Wälder und Berge usw. war hier erstes Prinzip, sondern lediglich das beste Bier und der beste Wein, und wenn sie diesen nur vollauf hatten, waren die Leute vollkommen zufrieden, und wenn diese höheren Genüsse nur reichlich zu Gebote standen, dann sah man sich in zweiter Reihe auch beiläufig nach der schönen Gegend um; aber auch diese wurde nur dann aufgesucht, wenn der Weg nicht zu weit und zu beschwerlich war. Während mir auf meinen Fußreisen es immer eine Hauptsache war, mich recht müde und kaput zu laufen, womöglich den ganzen Tag recht einfach und wenig zu essen und noch weniger zu trinken, so wurde hier immer fein eben und glatt Schritt für Schritt auf der Chaussee fortgehaspelt - in jedem Wirtshaus, wo am Wege "der liebe Gott seinen Arm herausgestreckt hatte", mußte eingekehrt und gekneipt werden. Dabei wurde immer doppelt so lange ausgeruht wie gegangen. Daß man bei einer solchen Manier zu reisen nicht weit kommt, könnt Ihr leicht denken, und daß sie nicht die billigste ist, ist ebenso klar. Wäre ich allein gereist, so hätte ich die ganze Strecke, die wir in diesen vier Tagen zustande brachten, in einem, höchstens zwei Tagen ganz bequem, und zwar mit dem vierten Teil des Geldes gemacht. Dazu hätte ich noch nach Herzenslust in Heu und Bestien geschwelgt, nach der Natur gezeichnet usw., was ich hier alles nur ganz verstohlen unter der Hand tun durfte. Natürlich kam mir diese Art zu reisen, die meine Bekannten als die einzig wahre und gemütliche bezeichneten, höchst ungemütlich und unsinnig vor. Auch werde ich mich nie wieder einem solchen Zwang unterwerfen. Diesmal habe ich mich aber trotz alledem möglichst gut dabei amüsiert, indem ich, schon im voraus ahnend, daß die Dinge ähnlich kommen würden, gleich von vornherein meine ganze Individualität mit ihren speziellen Neigungen und Ansichten aufgegeben und fest bei mir beschlossen hatte, mich einmal ganz der Majorität (gegen die ich als einziger Vertreter der Minorität doch nicht aufgekommen wäre) zu fügen und was die andern tun würden, mitzutun. So ist denn auch diese Bummeltour, wenngleich nicht in der gewöhnlichsten Art, von großem Nutzen für mich gewesen, und ich habe dabei manche scharfe Kante meines eckigen Charakters etwas abschleifen und mich in den Sinn und die Wünsche ganz anders denkender Leute fügen lernen, was ich wohl noch öfter müssen werde. Auch abgesehen davon, daß ich so etwas mich andern Köpfen anpassen und meinen Eigenwillen aufgeben lernte, habe ich viel dabei profitiert, indem ich einmal eine ganz andere, mir freilich durchaus nicht zusagende Art, sich seines Lebens zu freuen, mit ansah, überhaupt einmal eine total verschiedene Art, das ganze Leben anzusehen, kennenlernte. Jedenfalls habe ich daduch meinen alten Wunsch, einmal eine ordentliche "Studentenspritze" zu machen, vollständig befriedigt . . . Übrigens muß ich meinen Bekannten doch auch nicht Unrecht tun und ihre Verdienste gehörig ins Licht setzen. Denn was sie (mir wenigstens) durch das ewige Kneipen verdarben, das ersetzten sie zum Teil reichlich durch eine Fülle sprudelnden Witzes und einen unerschöpflichen Reichtum an lustigen Streichen und fidelen Einfällen, daß wir gewöhnlich den ganzen Tag über nicht aus dem Lachen und Necken herauskamen und einer den andern immer zu überbieten suchte, wodurch der Witz wirklich nicht wenig geschärft wurde. Mir fielen dabei immer Mephistos Worte ein: "Ich muß dich nun vor allen Dingen in lustige Gesellschaft bringen, damit du siehst, wie leicht sich's lebt und leben läßt. - " . . . [ Große Lücke ]

Im ganzen habe ich auf dieser Pfingstreise, wie unvollkommen in meinem Sinne sie auch war und wieviel mehr Nutzen und Genuß ich, wenn ich allein gereist wäre, auch davon hätte haben können, doch ziemlich viel gesehen und mich auch nach Möglichkeit recht gut amüsiert, bin einmal "fidel" im studentischen Sinne gewesen. Dafür schmeckten auch die Kollegia nachher um so besser, und ich bin jetzt schon wieder ganz im alten Zug . . .

Ehe Ihr nach Ziegenrück geht, möchte ich Euch bitten, mir noch mehreres zu besorgen, was Du, lieber Vater, ja wohl mit herbringen kannst. Bei Dietrich Reimer bitte ich, den ersten, dritten und vierten Band von A. Schaubach, "Die deutschen Alpen", Jena 1846, zu bestellen, wenn diese einzeln zu haben sind, sonst auch das ganze Werk, das aus fünf Bänden besteht, wovon jeder (herabgesetzt) 1 Gulden kostet. Es ist ein ganz ausgezeichnetes Werk und zu einer wissenschaftlichen Alpenreise durchaus notwendig, wie Euch Richthofen nötigenfalls bezeugen kann. Ich möchte Dich aber bitten, es gleich zu bestellen, damit Du es noch mitbringen kannst . . .




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999