Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

28. Brief

Würzbung, 27. 6. 1853.

Innigst geliebtes Geburtstagskind!

So kann ich denn auch bei Deinem Geburtstage, meine teuerste Mutter, nicht gegenwärtig sein und muß ihn, wie schon öfters Vaters und meinen eigenen Geburtstag, einsam und still für mich feiern. Nicht kann ich diesmal, wie sonst, mich froh und freudig an Deinen Hals hängen und in einem Kusse alles das Dir sagen und mitteilen, was mein innerstes Herz bewegt. Es ist mir jetzt oft recht weh geworden, wenn ich denke, wie Du sonst an diesem Deinem Festtage Deine beiden Jungens (oder gar alle drei Kinder) bei Dir hattest und mit ihnen Gott für alle seine Güte und Gnade danktest, und wie Du dagegen diesmal keins von allen dreien herzen und küssen kannst. Aber wenn wir auch äußerlich diesmal weit von Dir getrennt sind, und ich noch dazu zum erstenmal, so sind wir innerlich im Geiste nur um so inniger und trauter beisammen und bei Dir und bitten Gott recht herzinniglich, daß er uns Dich noch recht, recht lange und gesund als unsern teuersten Schatz erhalten möge. Ja, meine liebe Herzensmutter, es ist dies wohl eine der größten und bedeutendsten Wohltaten Gottes, die er mir erwiesen, und wofür ich ihm täglich nicht genug danken kann, daß er mir eine so gute, fromme Mutter geschenkt hat, die mich von kleinauf in der Gottesfurcht erhalten, die ersten und die festesten Grundlagen zu meiner geistigen und sittlichen Bildung gelegt, die edle Zeit zu nützen und das Böse, in welcher Gestalt es auch entgegentreten mag, zu meiden gelehrt hat. Es wird mir dies erst jetzt recht klar und ist mir erst in der letzten Zeit recht offenbar geworden, wo ich doch mehr selbstständig in die Welt hinausgetreten, vielfachen und neuen Versuchungen ausgesetzt worden bin, wo ich das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens aus eigner Anschauung tiefer habe kennenlernen, von welchem ungeheuren Einfluß die erste mütterliche Erziehung gewesen ist und wie ihre Wirkung im ganzen Leben fortdauert; und dann habe ich Gott recht innig gedankt und ihn gebeten, mir meine einzige Mutter noch recht lange zu meinem Troste und zu meiner Freude zu erhalten . . .

Die Blumen durften nie an Deinem Geburtstag fehlen; also mußte auch diesmal die Flora von Würzburg ihre Repräsentanten schicken, die freilich weniger schön als auserlesen sind. Die meisten werden freilich für Dich kein Interesse und die Standorte, da Du sie nicht kennst, keine Bedeutung haben; aber ich denke, Du kannst so doch Deinen Jungen bei seinen botanischen Wanderungen begleiten. Auch bei den beiden Zeichnungen mußt Du den Willen für die Tat nehmen und die innige kindliche Liebe, mit der ich bei jedem Strich Deiner gedacht habe, als das Beste ansehen. Die Skizze von der Festung Marienberg, welche ich oberhalb meines Lieblingsortes "Sibirien" in dem einsamen Tale am Nikolausberg von der Südseite her aufgenommen habe, ist der Repräsentant eines Albums von Skizzen aus der Umgegend Würzburgs, welches bis zu Deinem Geburtstag fertig werden sollte, bis jetzt aber nur aus angefangenen Schattenrissen besteht, deren Ausführung teils durch Zeitmangel, teils durch Regenwetter verhindert wurde. Auch diese einzige fertig gewordene ist im schönsten Landregen unter einer Weinbergshütte als Regenschirm fertig geworden. Beim ersten Anblick der Zeichnung geht es Dir vielleicht wie meiner Wirtin, welche, als ich sie ihr zeigte, verwundert ausrief; "Jesses Maria, Herr Doktor, sein Sie nit e gschickter Harr! Ihre Frau Mutter muß Sie lieb hae, auch wenn s' nit wollt! Ne, ist der Main natürlich getroffen und die Dampfschiffe darauf, als wenn's lebte!!" Den runden Turm unten hielt sie für den Kran und die beiden Weinbergsmauern für dessen Arme. Wahrscheinlich hielt sie die Weinberge selbst für den Main, was natürlich meinem künstlerischen Selbstbewußtsein sehr angenehm war! Aber wie soll man auch die verwünschten unförmigen Weinberge anders zeichnen als immer einen Strich neben dem andern. Höchstens könnte man statt der parallelen Striche lauter Reihen von grünen Punkten hinklecksen. - Der Mutter mit den beiden Knaben wirst Du es kaum ansehen, daß es eine Madonna von Raffael ist! Ich habe auch in der Tat beim Zeichnen weniger an die Jungfrau Maria als an meine liebe Mutter gedacht und so kannst Du es nicht als ein Madonnenstück, sondern als ein Familienstück mütterlicher Liebe ansehen, was es auch wirklich ist. -

Die beiden echten alten Würzburger "Bocksbeutel" wird Dein rheinischer Weinmund hoffentlich nicht verschmähen. Wahrscheinlich sind sie grad' an der Seite des Festungsberges gewachsen, die ich gezeichnet habe. Laßt sie Euch recht munden; hoffentlich sind sie gut! -

Im übrigen habe ich nichts hinzuzufügen als den Wunsch, daß Du Deinen speziellen Festtag recht, recht freudig und heiter feiern mögst und dabei in Liebe Deines treuen, alten Ernst's gedenkst, der auch in Gedanken ganz bei Dir sein wird . . .




Inhaltsverzeichnis


Brief 27................................Brief 29




Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library
Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999