Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

22. Brief

Würzburg, 4. 5. 1853.

Liebe Eltern!

Seit dem Anfang dieser Woche befinde ich mich wieder in meinem alten esse und mir ist dabei schon bedeutend wohler. Die vorige Woche habe ich noch recht traurig verlebt, da außer einer Stunde früh bei Schenk noch kein Kolleg angegangen und auch keiner meiner Bekannten da war. Ich wußte so, besonders da es so schönes Wetter war, eigentlich nicht, was ich anfangen sollte, obwohl ich den ganzen Tag fast mit dem festen Vorsatz, mir die Anatomie der Nerven (von der ich noch keine Idee habe) einzuprägen, an meinem Schreibtisch vor den Lehrbüchern der Anatomie saß und mit meinen Augen darin las, auch wirklich das Ding so duchmachte. Als ich mich aber schließlich besann, was ich denn eigentlich dabei gelernt, so fand sich's, daß dies gar nichts war. Denn trotz der größten Mühe, die ich mir gab, recht aufzumerken und die Gedanken nicht wie gewöhnlich durchgehen zu lassen, taten sie dies doch und saßen bald im traulichen Verwandten- und Freundeskreis, bald machten sie in Merseburg Visiten, bald thronten sie auf dem herrlichen Ziegenrücker Schloß und schwärmten im romantischen Sornitzgrund, bald botanisierten sie das sonnige Maintal hinab und fanden die schönsten Kalkpflanzen, die mir mein unglückliches Knie zu holen verbietet, bald liefen sie gar in das Land davon, wo der Pfeffer wächst, nach Indien, oder sonst wohin, wohin sich die Gedanken eines abstrusen Mediziners nie verirren sollten. Das ist aber eben das schlimme, daß ich zu gewissen Zeiten (und zwar leider sehr oft) mein bißchen dumme Gedanken trotz der ernstlichsten Bemühung nicht recht zusammenhalten kann. Übrigens verging mir so die Woche noch rasch genug, obwohl ich mich schmählich geärgert habe und auch noch ärgere, daß ich sie nicht bei Euch zugebracht habe. Wieviel habe ich dadurch verloren. Ich hätte das herrliche große Familienfest miterlebt, hätte Tante Bleek und Mariechen noch gesehen, hätte beim Zweckessen in der Geographischen Gesellschaft Humbold gesehen (was längst mein sehnlichster Wunsch war), hätte mein Schwesterchen noch gesehen, hätte in Halle und Merseburg schon manches Schöne blühend gefunden, hätte mich hier nicht eine ganze Woche mit melancholischen Gedanken und Grillen gefüttert, und was dergleichen "hätt' ich" mehr sind. Aber es muß einmal alles, was ich anfange, verfehlt sein! Der größte dumme Streich, den ich jetzt wieder gemacht habe, ist, daß ich nicht diesen Sommer in Berlin geblieben bin. Grade die Kollegien, die ich jetzt höre, hätte ich nirgends besser hören können, als in Berlin, und da es grade die wichtigsten und interessantesten sind, da ich sie dort bei einem der größten und erhabendsten Männer, bei Johannes Müller, der auf mich einen ganz besonders fesselnden Eindruck gemacht hat, gehört hätte, ist mir dies doppelt und dreifach leid. Grade Physiologie und vergleichende Anatomie (die beiden interessantesten Gegenstände, die es gibt) liest er unvergleichlich besser als Kölliker, obwohl er diesem in der Anatomie selbst nachsteht (Müller wird mit Aristoteles verglichen). Übrigens gefallen mir diese beiden Kollegien trotzdem außerordentlich; Näheres kann ich Euch erst später berichten, da ich erst 6 Stunden gehabt habe. Heute erzählte uns z. B. Kölliker von Infusionsthierchen Sachen, daß wir Maul und Nase aufsperrten, und uns ins Reich der Märchen versetzt glaubten, als z. B. daß bei gewissen Tierchen (Actinophrys ) zwei Individuen vollständig zu einem einzelnen verschmelzen, und daß dann in der Mitte dieses Doppeltiers ein Ei entsteht, aus dem viele neue hervorkommen usw.! In der Physiologie hielt er eine sehr anziehende philosophische Einleitung, worin er sehr klar und scharf den Standpunkt des Naturforschers feststellte und ihn vollständig von dem des Menschen trennte. Der Naturforscher muß rein empirisch-kritisch verfahren; er darf nur objektive Forschungen, Beobachtungen und Versuche anstellen und höchstens aus den gefundenen Resultaten allgmeine Gesetze aufstellen und ableiten. Nie darf er teleologisch, nie idealistisch oder dynamisch, nie, mit einem Wort, naturphilosophisch werden. Obgleich ich diese real-empirische Forschungsweise in ihrer absoluten Objektivität wohl auch als richtig anerkennen muß, so will sie mir doch nicht recht gefallen, und eine allgemeine naturphilosophische Ansicht und Überblick des Ganzen nach Erforschung des Einzelnen sagt mir ganz besonders zu und ist mir Bedürfnis. -

Heute hat er mit der Lehre von der Verdauung angefangen. Physiologie ist überhaupt die Lehre vom Leben, von allen einzelnen Tätigkeiten und Verrichtungen des Organismus! Was kann es wohl Anziehenderes geben . . .

Diesen Sommer will ich nun noch recht in diesen alleranziehendsten Materien, auf deren genaues Studium ich mich schon längst gefreut hatte, schwelgen. Dann aber, wehe! ist es vorbei mit der Naturwissenschaft und es kommt die schreckliche praxis , für alle anderen die ersehnte aurea, für mich die gefürchtete cinerea ! Dann kommt die unnatürliche Krankheitslehre, die Pathologie und Therapie usw.

Das Kolleg bei Schenk, die medizinische Botanik, welches ich vorige Woche hörte, habe ich zu meinem großen Nutzen und zu seinem großen Ärger wieder aufgegeben. Ich für meine Person hatte darin wirklich nicht zu Spur zu profitieren, obwohl die anderen, die auch wirklich nicht eine Klette von einer Orchidee, höchstens ein Veilchen von einem Apfelbaum unterscheiden können, es sehr rühmen. Das einzige, was ich dabei gewonnen hätte, wären ein paar seltene Pflanzen gewesen, die mir noch fehlen. Aber auf ein bißchen Heu mehr oder weniger darf es einem Mediziner nicht ankommen . . .

Da fällt mir ein, daß ich fast eine Hauptsache vergessen hätte, die vielleicht Dir, lieber Vater, zum Trost gereichen wird. Eins der ersten einleitenden Worte Köllikers war nämlich das, daß die Physiologie, diese Wissenschaft der Wissenschaften, ihre Erfahrungen, Kenntnisse und Erfolge größtenteils der Pathologie verdankt, und daß nur durch genaue Kenntnis der kranken, abnormen Zustände das normale, gesunde Leben erkannt werden könne. Dies hat mich wirklich sehr getröstet und mit der Medizin in etwas ausgesöhnt, so daß ich doch wenigstens etwas Hoffnung und Mut fasse, medico-botanicus oder botanico-medicus werden können glauben zu dürfen, als welcher jedoch immer mehr Pflanzenmensch als Menschenmensch, ich zu verbleiben geruhe

Euer alter treuer Junge

E. H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999