Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

7. Brief

Würzburg, Sonnabend, 27. 11. 1852.

Liebste Eltern!

Gestern erhielt ich Eure liebevolle Sendung, deren materieller Inhalt mir kaum weniger Freude gemacht hat, als der geistige, obwohl ich mich schon recht sehr nach Nachricht von Euch, und wie Ihr unseres Familienhauptes Geburtstag gefeiert hattet, gesehnt hatte, und für die ich Euch den herzlichsten kindlichen Dank sage. Ich für meine Person habe das Fest meines lieben Alten viel glänzender gefeiert, als ich selbst und Ihr alle gewiß gedacht habt; ratet einmal wie? - Denkt Euch - mit Champagner!! Die Sache verhält sich folgendermaßen: Ich hatte mir anfangs vorgenommen, den 22ten ganz still dadurch zu feiern, daß ich abends in eine beliebige Kneipe ging und dort ein Beefsteak mit einem Schoppen "Steinwein" auf meines Papas Wohl verzehrte. Dabei hatte ich schon im voraus auf eine gute Portion Heimweh gerechnet und wie ich mich so recht vergeblich nach Euch sehnen würde; das letztere kam denn natürlich auch etwas; aber im übrigen kam es doch ganz anders. Als ich nämlich Sonntag nachmittag Euren lieben Brief erhielt, in dem Du liebe Mutter, mich auffordertest, mir ein paar Bekannte zu bitten, faßte ich einen raschen Entschluß und lud gleich den folgenden Morgen Bertheau und Lavalette ein, meine Gäste zu sein. Da ich nicht recht wußte, wo ich den Wein hernehmen sollte, erbot sich B., ihn mir zu besorgen, und brachte dann richtig abends angeschleppt - - - zwei Flaschen Schalksberger ö 24 Kr. und eine Flasche fränkischen Champagner ö 1 Gulden 45 Kr. Daß ich aus verschiedenen Rücksichten ein wenig erschrak, könnte Ihr denken; doch faßte ich Mut, begab mich mit meinen beiden Freunden, die sich's ebenfalls trefflich schmecken ließen, frisch ans Werk, und um 12 1/2 Uhr nachts waren die drei Flaschen geleert bis auf den letzten Tropfen!! - Ich sehe Dich im Geiste vor mir, liebe Mutter, wie Du erschrickst und die Hände über dem Kopf zusammenschlägst; Du siehst gewiß schon da eine Menge Katzenjammer usw. und bedauerst Deinen armen Jungen, den man so schrecklich mit Wein traktiert hat; aber von dem allen erfolgte auch nicht das mindeste; höchst vergnügt und gemütlich saßen wir drei zusammen in meiner Kneipe (NB. eigentlich waren es vier, da B. seinen Hund, einen graulichen, häßlichen, aber sehr possierlichen Pudel mithatte, der auch auf meines Papas Wohl die Wurstschalen fressen und die Neige leeren mußte!) und unterhielten uns und schwatzten nach Herzenslust. Natürlich wurder der Berliner viel gedacht, und mein Alterchen recht lange und hoch leben gelassen. Nachmittag hatte ich mit meiner Frau Wirtin zusammen Würste eingekauft, die mit Butterbrot trefflich zum Wein schmeckten, und zur Vervollständigung der Fete hatte ich noch beim Konditor eine halbe Brottorte für 30 Kr. geholt. Lavalette, der überhaupt sehr besonnen und gemäßigt ist, trank am wenigsten; B. am meisten; ich hielt die edle Mittelstraße, trank aber wenistens eine gute Flasche; und zwar ohne den geringsten Einfluß, zum höchsten Erstaunen meiner Freunde, die nichts weniger als ein solches Talent in mir vermutet hatten; sie glaubten, ich würde nach dem dritten Glas unter den Tisch sinken, und als sie mich ganz unangefochten sitzenbleiben sahen, priesen sie den Vater glücklich, dessen Sohn an seinem Geburtstage eine solche herrliche Waffenprobe, so tüchtige primitiae armorum , so tapfer bestand. Ich selbst war noch viel mehr verwundert, und kann mir mein neuerdings bewiesenes Trinktalent einzig und allein dadurch erklären, daß ich in allen Stücken der echte Sohn einer braven Rheinländerin bin (sit venia verbo, liebste Mama). Ich beobachtete mich dabei selbst ganz genau, und fühlte die ganze Zeit auch nicht die geringste Unpäßlichkeit; erst nach dem dritten Glase "moussierenden Frankenweins" fühlte ich ein klein wenig die arteria temporalis pulsieren, was aber sogleich wieder aufhörte, als ich einen Schluck Wasser dazwischen nahm. Bertheau hat den andern Tag bis 1/2 11 Uhr geschlafen; ich schlief zwar auch prächtig, nachdem ich endlich um 1 1/2 Uhr zu Bett gegangen war; stand aber doch den andern Morgen, wie gewöhnlich, um 7 auf, und war den ganzen Tag sehr froh und munter. Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, daß eine solche Kneiperei so gute Folgen haben könnte, und bin noch jetzt ganz stolz auf meine erste Trinkprobe. Übrigens braucht Ihr nicht die geringste Angst zu haben, daß ich etwa solchen Geschmack daran gefunden hätte, daß ich jetzt öfter Wein kneipen würde; im Gegenteil, ich habe mir vorgenommen, nun zu fasten (schon um den großen Riß in meinem Beutel zu heilen, der außerdem noch durch ein paar Schoppen Eierbier vermehrt worden ist), und werde den Anfang damit machen, daß ich morgen das Fläschchen "Leistenwein", das jeder Mittagsgast der Harmonie Sonntags bekömmt, und mich 6 Kr. kostet, nicht trinken werde. -

Im übrigen habe ich diese Woche wieder manche schöne Stunde gehabt; Schenk hat nämlich ein andres Kolleg: über Kryptogamen (das sind die niedern Pflanzen ohne Blüten: "Farnkräuter, Moose, Flechten, Pilze usw.") angefangen, und da es zwei Stunden sind (Dienstags und Donnerstags von 4-5), habe ich es noch angenommen; außer mir und la Valette sind nur drei noch da. Welche Freude mir das macht, brauche ich Euch nicht erst auseinanderzusetzen? Unter anderm führt er uns in die Gewächshäuser und demonstriert uns dort die schönsten tropischen Farnkräuter usw. Ich habe nun aber auch genug Kollegien: 30 Stunden, und dazu noch mindestens 18 Stunden Präparierübungen. Letzere frequentiere ich jedoch nicht sehr fleißig. Diese Woche konnte ich schon nicht, weil ich mich wieder einmal ein bißchen in den Finger geschnitten habe. Übrigens war auch in dieser Woche völliger Mangel an Kadavern; infolgedessen großer Unwille der Studenten (die sich nur dadurch beruhigen ließen, daß man um zu sezieren, doch nicht geradezu die Leute vergiften könne!) und große Verlegenheit der Professoren; selbst Kölliker konnte uns bei den Vorlesungen über die Kopf und Halsmuskeln nur Spirituspräparate zeigen. Nächst diesem und dem botanischen Kollegium macht mir noch besondere Freude die mikroskopische Anatomie des Menschen, welche im höchsten Grade interessant ist, und von dem jungen Privatdozenten Leydig sehr schön vorgetragen wird. Auch sehr schöne mikroskopische Präparate zeigt er vor. Ich habe mir dazu noch Köllikers "Gewebelehre" angeschafft, ein herrliches und höchst wichtiges Buch. (Außerdem habe ich mir noch ein Handbuch der Anatomie für 8 fl. kaufen müssen!) -

Vorigen Sonntag war ich wieder in der Kirche; allein es predigte diesmal ein älterer, ziemlich salbungsvoller Mann, der mir viel zu viel Worte und Redensarten machte. Noch dazu war es eine spezielle Erntefestpredigt. Morgen hoffe ich wieder den ersten anzutreffen. Sonntagnachmittag war trüb; erst war ich mit B.s Freunden in "Smolensk", einem Kaffeehaus am Fuß der Weinberge; dann ging ich noch auf die Turnanstalt, die ich nah hinter meiner Wohnung entdeckt habe, und wo jetzt zuweilen meine schwachen Armmuskeln übe (namentlich mein Triceps brachii ist sehr schwach und der Biceps flexor nicht viel stärker). Dienstag ging ich abends mit la Valette ein großes Stück den Main hinauf am rechten Ufer; es war schon ziemlich dunkel, der Main sehr hoch vom vielen Regen angeschwollen, und die Höhen ringsum recht kahl und herbstlich öde; am Himmel nur eine zusammenhängende Wolkenmasse; das ganze sehr anziehend, wild und düster, namentlich, da kein lebendes Wesen die Ruhe der Natur störte. Vorgestern abend war gänzlich verschieden; rein wolkenloser Himmel, der schönste Vollmond, wahrhaft ätherische Luft, und ein zarter Nebelschleier über Berg und Tal gebreitet. Erst um 8 Uhr kam ich aus dem Kolleg, und um 9 wollte ich mit la Valette einen Spaziergang auf das schön gelegene Kloster, das Käppele, machen; allein, als wir glücklich am Ende der Stadt waren, und eben durch das Tor heraus den Berg besteigen wollten, hielt uns die Festungswache an, und wir mußten nolens volens umkehren. Wir kletterten nun noch auf Geratewohl an dem Zitadellenberg über 1 Stunde herum, und kamen auch glücklich bis an die höchste Stelle, auf die man, ohne von den Festungswachen zurückgewiesen zu werden, gelangen kann, von wo wir eine prächtige Aussicht über die in Nebelduft zu unseren Füßen totenstill liegende, dunkle, nur durch einzelne Lichter erhellte Stadt, den rauschenden Strom steil unter uns und die mondbeschienene Höhe ringsum, in vollen Zügen genossen. Ich kann Euch gar nicht sagen, welche Freude mir ein solcher Naturgenuß, mag er nun lachend schön oder trübe und düster sein, gewährt. Ich fühle mich dann mit einmal all der Sorgen enthoben, mit denen ich mich oft den ganzen Tag quäle; es ist, als kehrte der Friede Gottes und der Natur mit einemmal in meine Brust ein, den ich sonst oft vergeblich in mir suche. Was Dir, lieber Vater, die Betrachtung der Weltgeschichte und des allgemeinen Menschenschicksals im großen und ganzen ist, das gewährt mir in noch höherm Grade sowohl die allgemeine als spezielle Naturbetrachtung. Ich glaube, ich bin schon viel zu egoistisch, um an politischen Betrachtungen Interesse haben zu können. Dagegen finde ich wieder eien andern hohen Genuß und Trost in der Poesie. Diese habe ich erst in der letzten Zeit so recht schätzen lernen, seitdem ich so in die Welt hinausgetreten bin. Sie ist es, die dem Menschen über den Staub und die Sorgen des Alltagslebens hinweg hebt und ihm die bösen Gedanken verscheucht . . .

Jetzt hätte ich sehr gute Gelegenheit gehabt, mit Kölliker genau bekannt zu werden. Er suchte nämlich einen Kommilitonen, "der im Falle wäre, einige anatomische Zeichnungen für ihn anfertigen zu wollen". Ich hatte anfangs Lust, mich zu melden. Nun hat er einen ziemlich ungeschickten bekommen, mit dem er aber doch zufrieden ist. -

Das Zeichnen macht mir übrigens einmal wieder sehr viel Freude, und in Ermangelung eines bessern Gegenstandes zeichne ich flott Knochen nach der Natur . . .

Euer alter treuer Junge

E. H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999