Ernst Haeckel
Briefe 1852-1856

Text entered by Kurt Stüber 1998

1. Würzburg, 27. Oktober 1852 abends.

Liebste Eltern!

Soeben habe ich das erste Menschenblut von meinen Händen, in die ich mich merkwürdigerweise nicht geschnitten habe, abgewaschen, und beeile mich nun, Euch die erste Nachricht von hier zu geben. Meine Reise ging glücklich vonstatten. Von Berlin bis Jüterbogk, wo die Wagen gewechselt wurden, saß ich allein im Coupé und hatte Zeit, den mächtigen moralischen Katzenjammer, der mich bei der Abreise überfallen hatte, durch verschiedene verzweiflungsvolle Reflexionen zu unterdrücken. In Cöthen mußten wir 1 1/2 Stunde warten. Von dort bis Halle fuhr ich mit zwei jungen Ehepaaren, von denen das eine eben von der Hochzeit kam, sich von den schönen Polterabendgeschenken unterhielt und sehr zärtlich und glücklich schien. Das andre hatte ein kleines Kind bei sich, das viel schrie, und die Mutter weinte sehr betrübt. Ich mußte viel an unser Pärchen denken, und wie Freud' und Leid aneinandergrenzen. In Halle empfingen mich Weber, Hetzer und Weiß (der, um mich zu sehen, aus Merseburg herübergelaufen war!!!) am Bahnhof. Ich ließ die Sachen auf dem Bahnhof und ging mit ihnen auf ihr Dachstübchen, wo ich erst mit ihnen Deine Schlackwurst verzehrte. Dann lud ich sie noch in eine Konditorei auf eine Tasse Schokolade. Um 11 Uhr gingen wir wieder auf ihre Kneipe, die Weber mit komischen Wandgemälden, deren Refrain "Willkomm!" war, verziert hatte. Dort plauderten wir nach Herzenslust sehr vergnügt und schütteten namentlich unser botanisches Herz für den ganzen Sommer aus. Um 3 1/2 Uhr gingen wir, trotz Weißens Widerstreben, der mich durchaus mit nach Merseburg nehmen wollte, nach dem Bahnhof, von wo ich nach Leipzig absegelte. Dort war nur eine einzige Droschke, mit der ich nach dem Bayrischen Bahnhof fuhr. Die Fahrt von dort war ziemlich langweilig, nur später, nach dem Fichtel- und Erzgebirge zu, wurde sie interessanter; namentlich die beiden kolossalen Viadukte, deren einer über den Plauenschen Grund führt, sind höchst merkwürdig. Sie bestehen aus drei übereinandergelegten Stockwerken, jedes etwa 30 Fuß hoch, mit einigen 50 Bogen. In Hof hielten wir von 12 bis 1 1/2 Uhr Mittag. Leider regnete es, so daß ich mich nicht umsehen konnte.

Je weiter wir nun in das Maintal hereinkamen, desto schöner wurde die Gegend. Namentlich Kulmbach und die es beherrschende Plassenburg liegt sehr schön. Das herrliche Kloster Banz, wo ich Pfingsten vorm Jahr mit Karl war, erblickten wir nur noch im letzten Schimmer der Abendsonne. Um 6 1/2 Uhr kamen wir in Bamberg an; da die Post hierher erst um 10 Uhr abgeht, machte ich mich mit einem jüdischen Mediziner, der auch hierherging, auf, um währenddessen noch etwas von der Stadt zu sehen. Die Luft war sehr kalt und klar; dabei herrlicher Vollmondschein. Die Stadt schien sehr interessant, altertümlich und hügelig gebaut, besitzt sehr viele Brücken (über die Regnitz) und eine Masse Kirchen (wie auch Würzburg). Von diesen ist der Dom die schönste und größte, auf einem erhabenen freien Platze. Sie ist im reinsten byzantinischen Stil gebaut und von wahrhaft riesigen Verhältnissen. Das prachtvolle Portal besitzt elf herrliche, einander nach außen überragende, höchst kunstvoll und mannigfaltig geschnitzte Bogen. Auch außerdem waren viele herrliche und große Gebäude da; aber alle Straßen waren, trotzdem Messe war, wie ausgestorben, und wir liefen aufs Geratewohl herum, weil niemand da war, den wir fragen konnten. Plötzlich, als wir an einer sehr großen, hellerleuchteten Kirche vorbeikamen, stürzte aus dieser ein ungeheurer Menschenstrom, vermischt mit einer Menge Mönche, Nonnen und Geistliche, die sich zu einer Prozession ordneten, die singend und tobend die Straßen durchzog. Von einem Bürger, bei dem wir uns nach dem Weg erkundigten, erfuhren wir, daß soeben hier wieder die Jesuiten gepredigt hätten, wie sie dies täglich viermal täten. Er räsonierte schrecklich über diesen Unsinn, und behauptete, daß die Jesuiten nur das Volk verführen und verdummen wollten. Mein israelitischer Reisegefährte schien damit gar nicht einverstanden zu sein. Er bedauerte, nicht eher gekommen zu sein, um sie predigen zu hören. Ich saß nachher auch mit ihm auf der Post in einem Kabriolett, wo wir es uns sehr bequem machten und fast die ganze Nacht herrlich schliefen. Übrigens bestehen hier die Postwagen nur aus zwei hintereinander liegenden Kabrioletts, und werden schlecht genug gefahren. Heute früh kamen wir hier an. Bertheau empfing mich auf der Post und nahm mich mit in seine Wohnung, wo ich mit ihm frühstücken mußte. Dann gingen wir in die meinige, die höchstens 30 Schritt davon und ebenso weit von der neuen und der alten Anatomie liegt. Die Wirtsleute empfingen mich sehr freundlich. Hier ist aber auch alles freundlich und dabei schrecklich geschwätzig und neugierig, wodurch die Leute meist unendlich lästig werden.

Über die Wohnung und die Wirtsleute das nächste Mal ausführlicher. Heute will ich einmal ordentlich schlafen, und morgen früh muß der Brief gleich fort, damit ich zu rechter Zeit meinen Paß bekomme. Als ich nämlich die Sachen ausgepackt und mich etwas geruht, ging ich mit B., der überaus freundlich und gefällig ist, sogleich aus, um mich immatrikulieren zu lassen. Dort erfuhr ich, daß ich hierzu einen Reisepaß vom Berliner Polizeipräsidio unbedingt nötig habe. Vater ist also wohl so gut, mich baldmöglichst auf der Polizei abzumelden, mir einen Paß zu verschaffen und diesen sogleich herzuschicken, da ich ihn in 12 Tagen (von heute an) haben muß. - Dann bummelten wir noch etwas in der Stadt umher, gingen auf die schöne Mainbrücke, und dann mit B. zu Tisch, wo ich für 21 Kreuzer recht gut aß. Hierauf führte mich B. in ein Kaffeehaus (man trinkt hier den Kaffee übrigens aus Gläsern) und stellte mich seinen Mannheimer Bekannten vor, die recht nette Leute zu sein scheinen. Um 3 Uhr gingen wir auf die Anatomie; daß ich bei den verschiedenen Anblicken daselbst ein etwas heftiges Kanonenfieber bekam, könnt ihr euch denken. Indes nahm ich mich zusammen, hütete mich, viel umherzugucken und ging frisch dran. Für vier Gulden mußte ich mir eine Sezierkutte kaufen. Es wäre doch gut gewesen, wenn ich einen alten Rock mitgenommen hätte. Um 5 Uhr war ich mit der Präparation des musculus cucullaris fertig, wobei mir auch B. wieder wesentlich geholfen hatte. Ich kann wirklich recht froh sein, daß ich an B. gleich einen Freund gefunden, der mir in allem so behilflich ist und so tüchtigen Beistand in allem leistet. Wenn es morgen wieder schönes Wetter ist, wollen wir zusammen einen Spaziergang machen; die Umgebung scheint zwar bergig, aber ganz waldlos zu sein. Es sind meist Weinberge. Die Zitadelle liegt sehr schön und fast uneinnehmbar fest an an einer sehr steilen, hohen Stelle des Mainufers. Übrigens ist die Stadt wenig befestigt, besitzt aber eine Masse Kirchen und Klöster.

Wenn Ihr den Paß schickt, kannst Du, liebe Mutter, auch wohl etwas Zwirn und Nähnadeln beipacken. Die Konfussion des Briefes rechnet meiner gewaltigen Reisemüdigkeit, die schlechte Handschrift der ganz schauderhaft blassen und klecksigen Tinte zugute.

Herzliche Grüße in Nr. 6 und an unser junges Ehepaar, das Gott ferner schützen und segnen möge. In alter treuer Liebe Euer Ernst H.

B. läßt schön grüßen und auch versichern, daß er mich schon gehörig bemuttern werde.

2. Würzburg, den 31. Oktober 1852.

Meine lieben Eltern!

Indem ich so den Sonntagabend hier ganz allein sitze (Bertheau und meine andern Bekannten sind trotz des schauderhaften Regenwetters ausgegangen, um den Festlichkeiten zum Empfang des Königs von Bayern beizuwohnen) und daran denke, wie froh ich sonst, und in specie vor acht Tagen, den Sonntagabend mit Euch zubrachte, fällt mir meine plötzliche Entfernung von Euch wieder einmal recht schwer, und ich denke, das Heimweh wird wohl am ersten vergehen, wenn ich mich mit Euch, wenn auch nur in Gedanken und brieflich, unterhalte. Ich habe mich nun hier schon etwas orientiert und eine vorläufige Tagesordnung festgesetzt. Doch erst will ich Euch erzählen, was ich hier bis jetzt angefangen. Von Donnerstag bis Sonnabend habe ich die Muskeln des Arms präpariert sowie die der Schulter und des Nackens. Die erste Scheu beim Sezieren war bald überwunden; aber einen rechten Geschmack kann ich der Sache doch nicht abgewinnen. Donnerstag früh ließ ich mich immatrikulieren, was hier, wie alles, mit unendlicher Pomade und Langsamkeit vor sich geht. Übrigens geschah es bloß "vorbehaltlich der Beibringung einer polizeilichen Legitimation innerhalb zwölf Tagen", die Ihr mir also, wie ich schon in meinem ersten Brief schrieb, bald von der Polizei besorgen müßt. -

Donnerstag nachmittag führte mich Bertheau auf das "Käppele", ein herrlich auf einem steieln Weinberg am linken Mainufer gelegenes Kapuzinerkloster, von dem man einer sehr schöne Aussicht auf die ganze umliegende Gegend, namentlich auf das massenhafte Häuserlabyrinth der jenseitigen (auf dem rechten Ufer gelegenen) Stadt selbst mit ihren ringförmig sie umgebenden Promenaden und der Unmasse von Türmen und Kuppeln genießt. Noch schöner und großartiger nimmt sich die diesseitige sehr feste Zitadelle der Festung aus, die man von hier aus ihrer ganzen Länge und Breite nach übersieht. Im übrigen ist die Gegend sehr einförmig, nichts als Weinberge, kein Kartoffel- kein Roggenfeld und kaum auf den entferntesten Anhöhen eine Spur von Wald. Der schönste Punkt bleibt noch die Mainbrücke, wo man wenig von den kahlen Bergen, dagegen die Feste von der schönsten Seite erblickt. - Freitag war Festtag, und ich ging deshalb abends mit B.und seinen Freunden in eine kleine Kneipe, um gebackenen Karpfen zu essen, der übrigens ziemlich groß, schlecht und billig war. B.s Bekannte, denen er mich auch vorstellte, und die ich gegen meine Erwartung sehr solid und anständig (hier zu Land eine große Seltenheit) fand, sind drei Mannheimer: 1) ein Jude (für seine Nation sehr angenehm und vernünftig) mit Namen Weyl, 2) ein Wallone, Dyckerhoff (ein sehr hübscher und netter Mensch), 3) Zerroni, aus einer italienischen Familie, gescheut und amüsant. Mit diesen beiden letzteren rühmt sich Bertheau (als französisches Blut) die drei in Mannheim herrschenden Volksstämme (Elsässer, Wallonen und Lombarden) zu repräsentieren. - . . .

Mein Zimmer ist nun vollständig eingerichtet. Es ist ungefähr 16 Fuß lang, ebenso viele breit und 8 Fuß hoch, unregelmäßig viereckig und besitzt als Eckzimmer 4 Fenster, je zwei nach den beiden aneinanderstoßenden Straßen. Da diese sehr eng und finster sind, überdies 2 Fenster nach Norden, 2 nach Osten, wo hohe Gebäude sind, liegen, so kommt den ganzen Tag kein Sonnenstrahl herein. Auch ist es ziemlich kalt; der Ofen ist klein, ganz eisern und erhitzt als guter Wärmeleiter das Zimmer sehr schnell und eine Viertelstunde lang sehr heiß, worauf es wieder kalt wird. Das Mobiliar besteht aus Bett, Kleiderschrank, Sofa, 3 Stühlen, 1 Spiegel und einer Kommode mit einer kleineren offenen und zwei verschließbaren Laden. Um Euch einen rechten Begriff von der Höhle Eures Jungen zu geben, mache ich hier einen Grundriß. Der Waschtisch hat einen Quadratfuß Oberfläche. Ein Sekretär fehlt mir eigentlich sehr, da ich zum Verschließen bloß die beiden Laden habe. Es kommt mir deshalb sehr die Bettkiste mit dem Schloß zustatten, in die ich alle Pflanzen, Sommersachen usw. gepackt habe. Auch in den Koffer habe ich noch vieles packen müssen. Die Bücher stehen in einer Reihe auf der Kommode. Übrigens liegt die Stube sechs Stufen über dem Boden. Die Wirtsleute sind, wie ich Euch schon das vorige Mal schrieb, äußerst zuvorkommend und sorgsam, oft bis zum Übermaß höflich. Der Herr Dr. (den ich, beiläufig, auch nicht zum praktischen Arzt haben möchte) ist ein dicker, sehr gutmütiger Bayer, mit unten breitem, oben spitzem Kopf, der fast ebensoviel schwatzt wie seine wohl 15 Jahre jüngere (etwa 35jährige) breitschultrige, aber auch sehr gutmütige Frau; man sich ordentlich hüten, mit diesem guten Ehepaar zu sprechen anzufangen; denn der Strom Ihrer Rede und ihres Wohlwollens ist, einmal durchbrochen, nicht zu hemmen.

Was meine materiell-physische Existenz anbetrifft, so friste ich diese 1) früh durch eine riesige Tasse leidlichen Kaffee mit zwei kleinen Milchbrötchen, 2) und hauptsächlich durch das Mittageissen auf der "Harmonie", wo außer B. und mir noch vier Offiziere und sechs Studenten speisen. Wir bekommen dort für 18 Kr. (7 Kr. sind 2 Silbergroschen) 5 Gerichte, nämlich: 1) Suppe, 2) Rindfleisch mit Soße, 3) ein andres gekochtes Fleisch mit Gemüse (Kohl meistens), 4) eine Art Mehlspeise, Nudel oder so etwas, und 5) Weintrauben. Hierauf folgt ein Glas Kaffee für 4 Kr. im Cafe Oben (wo sich sehr viel Studenten meist zum Billard oder Kartenspiel versammeln). Zum Abendessen hatte ich mir anfangs "vernünftigerweise" (?) ein Suppe zu Haus bestellt. Da mir diese aber sehr gewürzhaft, fett und schwer, auch nicht grade wohlschmeckend erschien, so habe ich es vorgezogen, so lange es noch frische Weintrauben gibt, diese zum Abendbrot zu verzehren. Sie sind hier ganz vortrefflich und sehr billig; jede Traube kostet durchschnittlich einen Pfennig; wenn sie mir so recht munden, möchte ich immer gar zu gern auch Euch davon abgeben; schade, daß ich Euch keine schicken kann. Auch der Wein selbst soll hier zugleich äußerst billig und gut sein. Von der besten Sorte (Steinwein und Bocksbeutel), die dem Rhein- und Moselwein vorgezogen wird, kostet ein Schoppen, der größer als Großvaters gewöhnliches Weinglas ist, nur 6 Kr. Heute nachmittag habe ich zum erstenmal mit B. und seinen Kameraden süßen Most gekneipt, der sehr delikat süßsäuerlich schmeckte. Auch von ihm kostet ein niedriges Wasserglas nur 6 Kr. Sonst will mir die hiesige Kost nicht besonders behagen; namentlich die Kartoffeln, die hier gar nicht gegessen werden, fehlen mir sehr. Es werden hier überhaupt keine Kartoffeln gebaut; fast die ganze Bevölkerung nährt sich vom Weinbau. Es gibt deshalb auch, da dieser einträglich ist, kein eigentliches Proletariat, wie andrerseits großer Reichtum selten sein soll; die Hauptklasse ist ein wohlhabender Mittelstand, der indessen in moralischer Beziehung sehr auf dem Hund sein soll; wie behauptet wird, durch die Überzahl von Offizieren und studiosis medicinae.Diese beiden Klassen haben übrigens eine sonderbare Stellung zueinander; es ist nämlich vor nicht gar langer Zeit ein Dekretum des vorigen Königs Ludwig erneuert worden, worin mit trocknen Worten gesagt wird, daß jeder Student bei Strafe der Relegation weder einen Offizier mit Wort und Tat beleidigen dürfe, noch auch, von einem solchen beleidigt, diesen zum Duell herausfordern dürfe. Von den Einwohnern (deren Hauptrenten nebst dem Weinbau die Studenten sind) werden diese übrigens samt und sonders überall Doctores tituliert und als solche traktiert; sogar in offiziellen Sachen, auf den Matrikeln usw. heißt es nie: stud. med., sondern immer cand. med. (Kandidat! sehr richtig -). Auch ich werde nicht nur von der Wirtin, sondern von wirklichen Dr. med. stets "Herr Doktor" tituliert! -

Am Montag früh: "Fest aller Heiligen".

Ja! armer Dr. med.! ärmerer cand. med.! ärmster stud. med. Wenn Ihr wüßtet, wie es mit diesem aussieht. Ich will Euch gleich ganz offen und rundheraus sagen, daß mir der stud. med. noch niemals so leid gewesen ist, wie jetzt. Ich habe jetzt die feste Überzeugung, die auch schon andere, klügere vorher hatten, daß ich nie praktischer Arzt werden, nicht einmal Medizin studieren kann. Glaubt nicht, liebe Eltern, daß ich zu dieser Einsicht etwa durch den ersten Ekel bei den Sezierübungen, durch die "mephitis des Seziersaals und cadaverum sordes" gelangt bin. Das Unangenehme dabei ist schon großenteils überwunden,und würde sich auch weiterhin überwinden lassen können und müssen. Aber etwas ganz anderes ist es, den gesunden, etwas anderes, den kranken Körper, die Krankheit selbst zu studieren. Vor diesem habe ich einen unüberwindlichen Abscheu (woran wohl schwache Nerven und Hypochondrie mit schuld sein mögen) und werde mich damit nie befreunden können. Schon im vorigen Sommer habe ich oft mich mit dem Gedanken gequält, diesen Krankenekel überwinden zu müssen, und habe es zu können geglaubt; ich war damals noch mit den Verhältnissen zu unbekannt; jetzt, hier, wo ich ausschließlich mit Medizinern umgehe, wo ich ihre pathologisch-therapeutischen Gespräche fortwährend genieße, ist mir die Unmöglichkeit völlig klar und gewiß geworden. Nie werde ich Pathologie mit Lust und Liebe hören, nie Chirurgie praktisch ausüben können. Um mich vollständig und unumstößlich davon zu überzeugen, werde ich in den verschiedenen spezifisch medizinischen, namentlich pathologischen und therapeutischen Kollegien hospitieren. Im übrigen will ich mir Mühe geben, daß dieser Winter so wenig als möglich verloren sei. Die Anatomie bei Kölliker (die übrigens, wie fast alle anderen Kollegien, noch nicht einmal angekündigt ist, also wohl erst in einer der nächsten Wochen anfangen wird) werde ich trotzdem hören, auch die Sezierübungen fleißig fortsetzen. Ich betrachte so die Anatomie rein vom naturhistorischen (nicht medizinischen!) Standpunkte, als Naturgeschichte des Menschen, und als solche kann sie mir, wenn ich später Mathematik und Naturwissenschaften studiere, vielleicht noch einmal zustatten kommen. Vielleicht höre ich auch noch nächsten Sommer "Physiologie" und "vergleichende Anatomie", eben von diesem Standpunkt aus. Im übrigen werde ich keine Kollegien weiter annehmen, da die naturhistorischen eigentlich sehr wenige und nicht besonders sind; das sehr gute chemische Laboratorium ("praktisch-chemische Übungen in Untersuchung organischer und anorganischer Stoffe") bei Scherer ist grade von 10-1 Uhr privatissime, während Kölliker die Anatomie liest (von 11-1 Uhr). Doch da kommt mir wieder ein andrer Gedanke. Soll ich vielleicht dies chemische privatissime annehmen? und Kölliker sein lassen?! -

Wenn ich dies täte, so würde ich so gut wie gar keine Zeit (und Mühe) verlieren, vorausgesetzt nämlich den Fall, daß ich (wie ich und vielleicht auch andre hoffen) Naturwissenschaften und Mathematik studieren kann (d. h. wenn ich genug capée und mathematischen Sinn habe, was jedoch auch noch zweifelhaft ist?). Sprecht doch baldmöglichst mit Quincke darüber, der ja immer so gütig gewesen ist, mich mit seinem Rat zu unterstützen. Du liebster Vater, bist dann wohl so gut, mir umgehend Eure und Quinckes Meinung zu schreiben. Fragt doch auch Tante Berta darüber, was sie dazu meint. - (NB. Die Hauptfrage, auf die alles ankommt, und um deren Beantwortung ich Quincke bitte, ist: ob die Mathematik mit gewöhnlichen Fähigkeiten erlernbar ist, oder ob besondere Talente dazu gehören?)

Indem ich dieses wohlerwogen niederschreibe (d. h. wohlerwogen, insoweit es die knapp zubemessene und zum Entschluß und zur raschen Entscheidung drängende Zeit erlaubt), ist es mir ordentlich, als fiele mir ein Stein vom Herzen, als atmete ich nach langer Zeit zum erstenmal frei auf. Ich glaube wirklich, daß ich mich auch in dem ärztlichen Beruf nie glücklich fühlen würde. Ich hatte mir erst vorgenommen, Euch noch diesen Kampf von Gefühlen und Stimmungen zu verschweigen und frisch drauflos Medizin zu treiben; nachdem ich indessen wieder gestern abend und nacht mich damit herumgeschlagen, hielt ich doch für besser, Euch ganz unverhohlen zu schreiben und um Rat und Hilfe zu bitten. Hält Quincke es für besser, daß ich doch noch die Anatomie höre, so ist damit auch nicht viel verloren. Ich würde dann außerdem für mich Chemie, Physik und Zoologie treiben. (NB. Fest belegt habe ich bei Kölliker noch nicht.) Die Anatomie an sich ist gewiß höchst interessant. Um mich vorläufig in der Mathematik etwas zu orientieren, schickt Du, liebste Mutter, mir wohl mit den andern Sachen ein in blaues Papier eingeschlagenes Buch, welches in meinem Glasschränkchen in der Schlafstube auf dem ersten oder zweiten Brett steht, betitelt: "Elemente (oder Lehrbuch?) der Mathematik" (oder Geometrie?) von van Swinden, übersetzt von Jacobi. Es hat jedoch keine Eile. Kann ich die Mathematik nicht kapieren (was ich nicht hoffen will), so müßte ich wohl schon aus Notwendigkeit mich zur Jura wenden, zu der wohl eigentlich niemand rechte Lust hat. Doch das würde sich dann alles zu Ostern finden. -

Mag ich jetzt nur die Anatomie oder die Chemie hören, so habe ich auch in pekuniärer Rücksicht keinesfalls viel verloren, da die Kollegien hier, wie alles, sehr billig sind. So kostet ein Kolleg von 3, 4, 5-6 Stunden wöchentlich nach Reglement: resp. 5, 7, 9 Gulden. Von den Sezierübungen hab ich klüglicherweise vorläufig nur einen Theil, die Muskellehre, belegt, welche nur 10 Gulden kostet; so daß auch hier nicht viel verloren wäre. -

Nun vor allem noch die herzliche Bitte, daß Ihr mir nicht böse seid, daß ich Euch so offen und unverhohlen das, was mich fortwährend bewegt und beschäftigt, dargelegt habe. Ich glaube, wie gesagt, bestimmt, schon meiner schwachen Nerven wegen nie Arzt werden zu können. Bertheau, der sich übrigens sehr herzlich, freundschaftlich und nett gegen mich benimmt, versichert mir zwar fortwährend, daß ich auch den lebendigen Menschen, ebenso wie den Kadaver, mit der Zeit "nicht als Menschen", sondern als etwas Anorganisches oder wenigstens Vegetabiles ansehen und behandeln lernen würde, daß er und viele seiner Bekannten anfangs noch viel zaghafter und schwächer sich benommen hätten, ja sogar manche bei den ersten Sektionen in Ohnmacht gefallen wären, daß es mit mir schon ganz vortrefflich gehe und was dergleichen mehr ist. Ich glaube, nie dahin zu kommen.

Beste Eltern, zürnt mir nur nicht wegen meines Wankelmuts, meiner Unentschlossenheit, meiner Charakterlosigkeit oder wie Ihr es sonst nennen wollt. Ich möchte mir ja so recht gern einen festen Charakter erwerben, und werde mich immer bestreben, Euch Freude zu machen.

In alter, kindlicher Liebe Euer treuer Sohn

Ernst Haeckel.

3. Würzburg, den 6. 11. 1852

Sonnabend abend.

Innigst geliebte Eltern!

Schon seit ein paar Tagen wollte ich Euch immer schreiben, habe aber bis heute abend gewartet, weil ich immer glaubte, es würde von Euch ein Brief ankommen. Vor allem also muß ich Euch sagen, daß ich seit Mitte dieser Woche, seit Anfang der Kollegien, wie neu aufgelebt und so munter bin, wie seit langer Zeit nicht. Ich hätte wirklich kaum geglaubt, daß ein dreimonatliches Bummeln einen solchen mißmutig machenden und abspannenden Einfluß auf den Menschen haben könnte, wie ich es jetzt von der Zeit vom 1. August bis 1. November gesehen habe. Abgerechnet das bißchen Heimweh, was sich noch regelmäßig, besonders abends (auch oft noch recht heftig), einstellt, bin ich jetzt einmal wieder recht froh auf, und schreibe dies hauptsächlich der Lektüre von Humboldts Kosmos und dem prächtigen Kolleg von Kölliker zu. Ich entschloß mich schon zwei Tage darauf, als mein großer Lamento-Brief vom 31. Oktober an Euch abgegangen war, die Anatomie bei Kölliker anzunehmen, und habe es noch keinen Augenblick bereut. Die Materie, der Vortrag, die ganze Auffassung Köllikers ist so entzückend schön, daß ich Euch gar nicht sagen kann, mit welchem Vergnügen ich und viele andere die Anatomie hören. Bis jetzt hat er uns einen historischen Abriß der Anatomie, eine Übersicht über die verschiedenen animalen und vegetativen Systeme des menschlichen Körpers gegeben, und heute auch eine "äußere Betrachtung" desselben angefangen, die höchst anziehend und interessant ists.

Kölliker selbst ist ein äußerst liebenswürdiger und interessanter Mann; dabei von einer vollendeten männlichen Schönheit, wie ich sie selten gesehen habe; besonders seine schwarzen Augen sind ganz prächtig . . .

Mit dem Köllikerschen Kolleg, wozu ich noch glücklicherweise einen der besten Plätze bekam, höre ich nun im ganzen folgende Kollegien:

  1. A. Kölliker, Anatomie des Menschen, täglich von 11-1 Uhr, kostet 20 Gulden.

  2. H. Müller, Anatomie der Knochen, Bänder und Sinnesorgane, viermal von 9-10 Uhr, kostet 8 Gulden.

  3. F. Leydig, Mikroskopische Anatomie oder Histologie des Menschen, dreimal von 5-6 Uhr, kostet 8 Gulden.

  4. P. Siebold, Sezierübungen, beliebig, kostet 11 Gulden.

Außerdem werde ich noch ein dreistündiges Publikum über deutsche Altertumskunde und vielleicht noch die Kryptogamenkunde hören, wenn sie zustande kommen. Dann will ich ab und zu in dem einzigen mathematischen Kolleg, das hier gelesen wird, und in Scherers "Chemie mit Rücksicht auf Physiologie" hospitieren. Die Osteologie usw. ist langweilig, aber genau, und ich bekommen dabei alle Knochen einzeln in die Hand, was ich benutze, um sie von vorn und hinten abzuzeichnen. Die Histologie bei Leydig, einem jungen und gescheuten Privatdozenten, habe ich auf spezielles Anraten Köllikers angenommen. Die Sezierübungen werde ich vorläufig liegen lassen, bis Kölliker die betreffenden Muskeln durchgenommen hat; mit den Armmuskeln war ich übrigens fertig. -

Meine Tageseinteilung hat sich nun schon etwas geändert: um 7 Uhr wird aufgestanden und Kaffee getrunken; gelesen bis 9. 9-10 Uhr Osteologie, 10-11 Uhr Knochen gezeichnet, 11-1 Uhr Anatomie, 1-2 Uhr gegessen, 2-3 Uhr Kaffee getrunken oder hospitiert. 3-5 Uhr gebummelt oder seziert oder spazieren, 5-6 Uhr Histologie, 6-9 Uhr das Nachgeschriebene bei Kölliker ausgearbeitet, 9-10 Uhr Kosmos gelesen, der mich wirklich mächtig anzieht, so daß ich mich ärgere, nicht eher an ihn gedacht zu haben. -

Was im übrigen die Universität anlangt, so sind Philosophie und die andern nicht medizinischen Wissenschaften sehr schwach vertreten. Auch das Gebäude ist ein komisches altes Ding. Meine Vorlesungen werden alle im anatomischen Hörsaal gelesen, welcher barbarisch nach faulem Fleisch riecht und ganz außerordentlich klein und eng ist, so daß wir wie die Heringe geschachtelt sitzen, daß selbst der Tisch, an dem Kölliker liest, so dicht umstellt ist, daß er fast gar nicht heraus kann. Diese Übelstände weden jedoch alle durch den Bau der neuen Anatomie beseitigt werden, die wahrscheinlich noch in diesem Monat eröffnet werden wird . . .

Wenn ich übrigens nicht auf der Anatomie schon genug Düfte genösse, so würde der Leimsieder mir gegenüber und der Seifensieder nicht weit davon mir genug dergleichen Genüsse darbieten, wie sie es in der Tat auch tun. Überhaupt ist die ganze Stadt ein furchtbar stinkiges Nest, wo man überall, besonders abends, seine Geruchsnerven höchst verschiedenartig unangenehm irridiert sieht; vielleicht heißt es deshalb "Würzburg"! - . . .

Würzburg, Sonntag, 14. 11. 1852 früh.

Meine lieben Eltern!

Als ich Sonntag um 10 Uhr auf der Post war, dachte ich: "du willst doch einmal versuchen, ob du nicht eine evangelische Kirche findest", und kam gerade richtig noch zum letzten Verse, ehe die Predigt anging, hin. Der Text war das Evangelium von dem Knecht, dem der Herr seine ganze Schuld erließ, und der dann seinen Mitknecht einer kleinen Schuld wegen ins Gefängnis werfen ließ; der Prediger, ein lebendiger junger Mann, sprach zuerst von der unendlichen Gnade Gottes, und dann, wie wir uns ihrer würdig zeigen müßten und könnten. Die Predigt gefiel mir außerordentlich, teils an und für sich, teil auch wegen der schönen, großen Gemeinde, die wirklich etwas zur Andacht Stimmendes hatte. Die Kirche war ziemlich schmucklos, ein einfaches, sehr hohes Schiff von der Breite des Merseburger Doms, aber mindestens noch einmal so lang. Dieser ganze ungeheure Raum war so dicht mit Menschen besetzt (wenigstens 800-900), da es die einzige evangelische Kirche hier ist, daß die Leute im eigentlichsten Sinne des Wortes bis an die Tür standen. Ihr braucht deshalb nicht auf eine Analogie mit Friedrich zu schließen, daß ich die Predigt schön gefunden hätte, weil viele Leute darin waren; aber ich hatte noch nie eine so große Gemeinde gesehen, und mitten in einem katholischen Land ist ein solcher Anblick in seiner feierlichen Ruhe wirklich erhebend.

Als ich nach Hause kam, fand ich Euer Bücherpaket vor; sehr lieb wäre es mir gewesen, wenn auch "Van Swindens" Elemente der Mathematik dabei gewesen wären; doch diese kann, nebst dem Echtermeyer, nun warten, bis Ihr mal gelegentlich was zusammen schickt. Daß Ihr doch meint, ich sollte den Dr. medicinae durchführen, darüber bin ich, ehrlich gestanden, etwas erschrocken; ich glaube, daß ich noch eher den Dr. philosophiae (erschrick nicht, liebes Mutterchen! mit der Philosophie selbst ist es so ernst nicht gemeint!) machen werde. Doch verspare ich alle Auseinandersetzungen über diesen wichtigen Punkt auf die mündliche Besprechung zu Ostern. Ich bin wenigstens froh, daß ich weiß, was ich den Winter zu tun habe; und will mir die Anatomie, so gut es geht, tüchtig einpauken, wozu mir durch das vortreffliche Kolleg und die guten Sezieranstalten aller Vorschub geleistet ist. -

Da es Sonntag sehr schönes Wetter war (das entgegengesetzte von dem heutigen), so machte ich mit Bertheau und mehreren Freunden desselben nachmittags einen Spaziergang nach Dürrbach, einem Dorfe, was jenseits der nächsten Weinberge auf dem diesseitigen (rechten) Ufer liegt (3/4 Stunde weit). Auf der Höhe des sehr steilen Bergrückens genießt man eine herrliche Aussicht auf die Stadt und Feste; am schönsten aber erscheint der Main, der hier in einer anmutigen Biegung am Fuß der Hohe hinströmt, und weiter oben zwischen höheren Ufern in der Ferne durchblickt. Grade gegenüber dem Berg, auf dessen Höhe wir standen, liegt im Tale höchst romantisch ein Kloster; mehrere andere weiter unten, wie man hier überhaupt überall auf Kirchen und Klöster in Menge stößt. Im übrigen ist diese Woche ziemlich ruhig und alltäglich für mich verflossen, da ich nun schon mehr ins Arbeiten hineinkomme, was anfangs gar nicht ging; besonders schön ist's jedoch auch jetzt noch nicht gegangen; denn das Heimweh, von dem ich vor 8 Tagen schon glaubte, es überwunden zu haben, stellte sich wieder recht heftig ein; besonders, wenn ich abends so allein dasitze, lauft Ihr und mein Ziegenrücker Pärchen mir immerfort über das Papier; und trotz aller Mühe, die paar Gedanken, die ich noch von allen Sorgen und Grübeleien behalten habe, recht zusammenzuhalten, kann ich doch keine zwei oder drei Sätze, selbst im Schleiden oder Humboldt, im Zusammenhang lesen, ohne daß sie mir wieder weglaufen, besonders nach Berlin. Ich glaubte, es würde hier nicht so schlimm, wie in Merseburg, wo mir jeder Ort und Gegenstand das Zusammenleben mit Euch zurückrief, werden; aber es stellt sich nun eine ganz andre, ich möchte sagen idealere Art von Heimweh ein. Indes glaube ich doch, daß es auch so gut ist, und lerne schon etwas den Nutzen des Alleinseins sehen. Ich war auch ein paarmal abends mit Bertheau und seinen Bekannten in einer Kneipe; allein es will mir nicht recht gefallen; nicht, daß sie etwa roh wären; im Gegenteil, sie sind viel solider, als ich gedacht hatte; aber die einzige Unterhaltung fast, die sie kennen, ist Kartenspielen, besonders Whist, wozu ich eben keine Lust habe, und die Gespräche handeln fast nur von medizinischen Fachgegenständen, namentlich chirurgischen Operationen, die ich nun so ziemlich satt bin. Dagegen habe ich eine sehr nette Bekanntschaft aus Berlin erneuert; es ist dies ein Köllner "la Valette Saint George", den ich auf einer Exkursion in Berlin, obwohl bloß dem Äußern nach, kennenlernte. Er ist auch bekannt mit Wittgenstein, und studiert gleichfalls bloß Naturwissenschaften; wird sich jedoch hier mehrere Semester aufhalten, da er sich neben Chemie und Botanik hauptsächlich auf vergleichende Anatomie, den Hauptzweig der Zoologie werfen will, und hierzu die menschliche Anatomie gleichfalls braucht. Auch er ist kein besonderer Freund der Mathematik und will später den Dr.philosophiae machen, wozu man sich, wie ich von ihm gehört habe, in vier Fächern (z. B. Botanik, Chemie, Physik, Zoologie) examinieren lassen muß, jedoch bloß in einem vollständig beschlagen sein muß. Dann will er sich vielleicht als Dozent habilitieren; dies geht auch recht gut, da er von seinen Renten leben kann . . .

Gestern habe ich einen sehr genußreichen Abend gehabt. Ich war nämlich in der "physikalischen Gesellschaft", deren Präsident jetzt Virchow ist, und deren Mitglieder sämtliche hiesige Notabilitäten, auch naturforschende Nicht-Notabilitäten sind. Jedoch erhalten auch Studierende Zutritt; ich erlangte ihn durch meinen Nachbar im Köllikerschen Kolleg, einen Schweizer, bekannt mit Kölliker, Dr. phil., mit Namen "Gsell-Fels", der sehr freundlich und gefällig gegen mich ist. Wie ich gestern hörte, ist er schon verheiratet, und noch nicht lange hier; was er treibt habe ich nicht erfahren. Die physikalische Gesellschaft setzt ihre Tätigkeit, wie die meisten derartigen (auch die geographische in Berlin), außer in Korrespondenzen, Austausch usw. hauptsächlich in freie Vorträge, deren gestern drei gehalten wurden, die 6-9 Uhr abends dauerten. Den ersten Vortrag hielt Professor Schenk, der hiesige Botaniker, bei dem ich wohl auch noch hören werde, ein sehr geistreicher und geschickter junger Mann, der leider einen etwas holprigen schlechten Vortrag hat, über seine botanische Ferienreise in die unteren Donaugegenden, die Walachei, Ungarn, Siebenbürgen und die Karpathen. Die Flora dieser Gegenden stimmt in der Ebene fast durchaus mit der Steppenflora von Südrußland, im Gebirge mit der Alpenflora des Kaukasus überein. Wälder gibt es wenig, da sie meist abgeholzt oder abgebrannt werden, um Schafweiden zu gewinnen, dagegen viel undurchdringliches Unterholz. Die Gebirgsgegenden sind meist sehr öde; oft tagereisenlang nur eine einzige Grasart (Agrostis rupestris), in den Steppenebenen oft nur Poa glauca. An manchen Strecken, besonders um die Natronseen, Salzpflanzen. Kulturpflanzen ausschließlich: Wein, Weizen, Mais. Außer diesen und vielen anderen speziell botanischen Ergebnissen, teilte er auch noch viele höchst interessante geologische und oryktognostische Notizen mit; z. B. über das Vorkommen bedeutender Schlammvulkane in Ungarn, von denen noch niemand bis jetzt etwas gewußt hat. Sodann erzählte er viel von den Sachsen in Siebenbürgen, was besonders Dich, liebes Väterchen, sehr interessiert haben würde. Die Sachsen haben sich bis jetzt noch sehr rein erhalten, sprechen das alte Plattsächsisch (während ihre Kinder jetzt Hochdeutsch gelehrt werden), haben noch alle deutschen Sitten und Gewohnheiten behalten und hängen noch sehr an Deutschland. Von ihren slawischen Nachbarn, die auch keine Stiefel oder Schuhe tragen, unterscheiden sie sich äußerlich sogleich durch ihr langes Hemde, während diese ein kurzes dito über den Hosen tragen. Höchst merkwürdig ist, daß sie auf alle Fragen über ihre Herkunft steif und fest behaupten, wie dies auch in ihren alten Urkunden steht, von dem Rattenfänger aus Hameln dorthin geführt zu sein, welche Sage bekanntlich auch in Deutschland ganz allgemein ist. -

Den zweiten Vortrag hielt Professor Virchow gleichfalls über seine Ferienreise, die allerdings einen etwas anderen Gegenstand zum Zwecke hatte, nämlich den Kretinismus in Unterfranken. Er teilte darüber gleichfalls eine Menge, für Mediziner höchst interessante Data mit, die auch in sozialer Hinsicht sehr wichtig sind, mit deren Wiedererzählung ich jedoch Euch und mich nicht amüsieren will; z. B. empfahl er uns, eine Reise in die kretinreichsten Distrikte zu machen, weil man dort erst dahinterkomme, was die Natur für Karikaturen aus dem Menschen zu machen vermöge. Unter anderm habe er eine 21jährige Kretine von 84cm (2 1/2 Fuß) Höhe gesehen, deren Kopf 54 cm Umfang hatte, und deren Fuß 17 cm lang war, und dergleichen mehr. Übrigens ist es wirklich erstaunlich, was für eine Masse Kretins es hier gibt; in einem kleinen Orte fand er deren über zwanzig. Besonders häufig sind sie am Abhang des Gebirgs, in der Nähe des Flusses. In den trocknen Ebenen und im Gebirg selbst fehlen sie. Er meint, daß der Kretinismus hauptsächlich von lokalen Ursachen, von Miasmen oder so etwas herrühre.

Den dritten Vortrag hielt Professor Osann, der hiesige Physiker, über einige seiner Arbeiten im Gebiet der Elektrizität. Unter anderm hatte er ein neues Elektrometer konstruiert. Erst hielt er eine langweilige mathematische Explikation, von der ich nicht viel verstand, weil er ein sehr schlechtes Organ hat; dann zeigte er einige sehr interessante Experimente; das erste war: wenn man Zink in verdünnte Schwefelsäure hält, entwickelt sich, wie bekannt, Wasserstoff; wenn man nun das Zink, von dem die Gasentwicklung allmählich vor sich geht, mit Platin in Berührung bringt, steigt von diesem plötzlich ein höchst intensiver Strom von Wasserstoffgas in die Höhe. Dann zeigte er noch einen sehr starken, induktorischen Rotationsapparat und experimentierte damit an sich selbst und an Prof. Kölliker. Bei Schließung der Kette bekam man sogleich die heftigsten Krämpfe und Gliedverdrehungen. -

Die ordentlichen Mitglieder blieben nun noch zur Soiree, wo es sehr nett hergehen soll, da; wir, Lavalette und ich, drückten uns. Was mir besonders an der Zusammenkunft angenehm auffiel, war die ungeheure Gemütlichkeit und Zwanglosigkeit, mit der die Professoren sowohl untereinander als mit den andern Leuten verkehrten, und von der man in Berlin, und namentlich unter Professoren keinen Begriff hat. - . . .

An ein Klavier in meiner Stube ist vorläufig nicht zu denken, da jeder Platz so dicht besetzt ist, daß ich mich selbst kaum umdrehen kann . . . Mir gegenüber wohnt aber ein Freund von Bertheau, der mir erlaubt hat, so oft ich will, auf seinem schönen Klavier zu spielen . . .

Ein große Freude muß ich Euch noch erzählen, die ich vorgestern gehabt habe. Ich ging nämlich in der Dämmerung auf dem Platz am Main spazieren, wo die Schiffe abladen; plötzlich erblickte ich am Ufer zwischen Gestrüpp die seltene Kohlart (Brassica nigra), die ich in Merseburg zuerst gefunden hatte. Als ich sie nun abpflücke, entdecke ich am Boden unter ihr eine merkwürdige, gleichfalls gelbblühende Kruzifere. Als ich sie zu Haus bestimme, ist es die seltene Diplotaxis muralis: Ungeheure Freude! . . .

Mit Kölliker bin ich nicht näher bekannt geworden. Was er mir anbot und sagte, war bloß, als ich mir den Platz holte. Übrigens soll er seine Empfehlungen für die "Harmonie" fast jedem anbieten. Es ist auch schon ganz überfüllt und wird wohl auch niemand mehr aufgenommen. Übrigens ist es mir auch gar nicht leid, da man in solchen Zusammenkünften nur unter Umständen Genuß hat. Ich für meine Person bin auf jedem Ball bis jetzt traurig und düster geworden; ich weiß nicht, warum? Es geht mir wie dem in Wallenstein! (ich glaube, es ist max Piccolomini): "Ihr wißt, daß groß Gewühl mich immer still macht!" - . . .

Innigen Gruß und Kuß von Eurem treuen alten Jungen

E. H.

5. Würzburg, 19. 11. 1852.

Innigst geliebter Vater!

Auch in diesem jahr kann ich Dir meinen innigsten Glückwunsch und herzlichen Gruß zu Deinem Geburtstag nur schriftlich bringen. Möge Dich Gott uns noch lange, lange so frisch und munter erhalten; mögst Du vor allem rechte Freude an Deinen Kindern erleben; an Deinem einen Jungen hast Du nun schon die feste Gewähr, daß er immer gut und glücklich sein wird. Der andre hat zwar bis jetzt leider noch wenig genug Aussicht blicken lassen, seinem Bruder bald, namentlich, was Ordnung, Ausdauer und Charakterfestigkeit betrifft, nachzukommen; in dessen kannst Du fest versichert sein, daß er sich's auf ernstlichste angelegen sein lassen wird, ein braver Mensch zu werden und gleichfalls seiner Eltern wert und ihre Freude zu werden. Er wird sich gewiß alle mögliche Mühe geben, seine Schwächen mehr und mehr zu überwinden.

Wie gern ich an unserm größten Familienfesttag bei Euch wäre, brauche ich Euch nicht erst zu versichern; gar zu gern hätte ich Dir auch etwas geschenkt, wenigstens eine ordentliche Zeichnung; namentlich da ich jetzt grade mit dem Zeichnen wieder recht im Zuge bin, und es beinah meine einzige rechte Freude ist, die mir jederzeit böse Gedanken vertreibt. Allein die Zeit war grade diese Woche sehr beschränkt, und eine Skizze im Freien von der Gegend aufzunehmen, ist es schon zu herbstlich und kahl draußen. Daß es nicht am guten Willen fehlte, kannst Du aus dem beifolgenden Schattenriß abnehmen, den ich gestern nachmittag bei dem schauerlichsten Herbstwetter an dem Landungsplatz der Dampfschiffe zum Schutze gegen den heftigen Wind hinter einem Holzblock, wie er unten links in der Ecke steht, in etwas unbequemer Stellung hinwarf.

Das große Schloß oben rechts ist ein Teil der Zitadelle. Weiter links herunter, zwischen ihr und der alten Kirche unten über der Brücke, liegt das "Käppele", das Kloster, nach dem ich in den ersten Tagen meines Hierseins den schönen Spaziergang gemacht hatte; es führt eine Allee von kleinen Kapellen herauf, in denen die Leidensgeschichte bildlich dargestellt ist. Unterhalb der Zitadelle, auf dem linken Ufer, liegt die Vorstadt: das Mainviertel. Gegenüber, links von der Brücke, auf dem rechten Ufer, liegt Würzburg selbst, das Du Dir hinzudenken mußt. Übrigens macht die Skizze weder Anspruch auf künstlerischen Wert noch auf getreue Ausführung. Es soll Dir bloß als Bote von der Liebe erzählen, mit der Dein Kind jederzeit an Dich denkt, und namentlich an Deinem kommenden Feste sehnsüchtig nach Berlin hinüberträumen wird, wo auch seine Lieben seiner nicht vergessen . . .

Nun seid recht froh und munter, und wenn Ihr den entfernten General "que nous aimons" leben laßt, denk an Deinen treuen alten Jungen

Ernst Haeckel.

6. Würzburg, 19. 11. 1852.

Meine liebe Mama!

Einen besonderen, innigen Gruß an Dich muß ich doch den Zeilen an unser liebes Geburtstagskind, den teuren Papa, noch beifügen. Ihr werdet Euch wohl recht einsam fühlen; denkt aber, daß es Euren Kindern, wenigstens dem jüngern, nicht besser geht; denkt auch zugleich daran, daß er immer im Geist bei Euch ist, und wenn er kleinmütig und verzagt wird, der Gedanke an seine Eltern ihm frischen Mut gibt.

Ich habe jetzt ziemlich viel zu tun, da ich wieder seziert habe; Kölliker hilft auch hierbei dem einzelnen sehr und sucht es ihm möglichst angenehm zu machen; dabei unterhält er sich auch sehr freundlich mit den Studenten. Die zweite Frage, die er an mich tat, nachdem ich ihm die erste beantwortet hatte, war: "Sie sind wohl aus Sachsen?" - !! -

Diese Woche hat auch das Privatissimum bei Professor Schenk: "Mikroskopische Demonstrationen pflanzlicher Gewebe", begonnen. Ich habe mich außerordentlich gefreut, daß ich es damit so gut getroffen habe. Außer mir nehmen nur noch zwei daran teil, und ich habe alle Aussicht, einmal ordentlich mit einem eigentlichen Botaniker bekannt zu werden, was so lange mein sehnlicher Wunsch war. Diese Stunden sind Dienstags und Donnerstags von 6-8 Uhr abends. Wir bekommen dabei jeder ein schönes Mikroskop, unter das er uns selbstgefertigte schöne Präparate legt. Diese zeichnen wir dann ab, er erklärt sie uns, und wir können ihn dabei, soviel wir wollen, fragen, bis uns alles deutlich ist. Welche Freude mir das macht, und wie wichtig das für mich werden kann, könnt Ihr Euch denken. "Schenk ist sehr liebenswürdig, und man kann ihm viel ablernen; er ist ein ganz ausgezeichneter Pflanzenforscher; nur nicht sehr bekannt, weil er zu faul ist, etwas Ordentliches, ein größeres Werk zusammenzuschreiben, was er recht wohl könnte; auch gibt er sich nicht gleich so wie er ist, man muß erst tiefer in ihn eindringen; schlimm ist es, daß er so wenig Bestimmtes in seiner Methode und seinem Charakter hat, und in mancher Hinsicht noch wie ein Kind ist." - Diese im letzten Satz enthaltene Charakterschilderung, die mir mein Nachbar, der nette Herr Dr. Gsell-Fels, gab, der ihn sehr gut kennt, habe ich vollkommen bestätigt gefunden, und sie erinnerte mich gleich lebhaft an einen gewissen E. H. - Nun, wenn dieser es nur eimal so weit wie Schenk bringt! - . . .

Schreibt bald mal wieder Eurem alten

E. H.

7. Würzburg, Sonnabend, 27. 11. 1852.

Liebste Eltern!

Gestern erhielt ich Eure liebevolle Sendung, deren materieller Inhalt mir kaum weniger Freude gemacht hat, als der geistige, obwohl ich mich schon recht sehr nach Nachricht von Euch, und wie Ihr unseres Familienhauptes Geburtstag gefeiert hattet, gesehnt hatte, und für die ich Euch den herzlichsten kindlichen Dank sage. Ich für meine Person habe das Fest meines lieben Alten viel glänzender gefeiert, als ich selbst und Ihr alle gewiß gedacht habt; ratet einmal wie? - Denkt Euch - mit Champagner!! Die Sache verhält sich folgendermaßen: Ich hatte mir anfangs vorgenommen, den 22ten ganz still dadurch zu feiern, daß ich abends in eine beliebige Kneipe ging und dort ein Beefsteak mit einem Schoppen "Steinwein" auf meines Papas Wohl verzehrte. Dabei hatte ich schon im voraus auf eine gute Portion Heimweh gerechnet und wie ich mich so recht vergeblich nach Euch sehnen würde; das letztere kam denn natürlich auch etwas; aber im übrigen kam es doch ganz anders. Als ich nämlich Sonntag nachmittag Euren lieben Brief erhielt, in dem Du liebe Mutter, mich auffordertest, mir ein paar Bekannte zu bitten, faßte ich einen raschen Entschluß und lud gleich den folgenden Morgen Bertheau und Lavalette ein, meine Gäste zu sein. Da ich nicht recht wußte, wo ich den Wein hernehmen sollte, erbot sich B., ihn mir zu besorgen, und brachte dann richtig abends angeschleppt - - - zwei Flaschen Schalksberger 24 Kr. und eine Flasche fränkischen Champagner 1 Gulden 45 Kr. Daß ich aus verschiedenen Rücksichten ein wenig erschrak, könnte Ihr denken; doch faßte ich Mut, begab mich mit meinen beiden Freunden, die sich's ebenfalls trefflich schmecken ließen, frisch ans Werk, und um 12 1/2 Uhr nachts waren die drei Flaschen geleert bis auf den letzten Tropfen!! - Ich sehe Dich im Geiste vor mir, liebe Mutter, wie Du erschrickst und die Hände über dem Kopf zusammenschlägst; Du siehst gewiß schon da eine Menge Katzenjammer usw. und bedauerst Deinen armen Jungen, den man so schrecklich mit Wein traktiert hat; aber von dem allen erfolgte auch nicht das mindeste; höchst vergnügt und gemütlich saßen wir drei zusammen in meiner Kneipe (NB. eigentlich waren es vier, da B. seinen Hund, einen graulichen, häßlichen, aber sehr possierlichen Pudel mithatte, der auch auf meines Papas Wohl die Wurstschalen fressen und die Neige leeren mußte!) und unterhielten uns und schwatzten nach Herzenslust. Natürlich wurder der Berliner viel gedacht, und mein Alterchen recht lange und hoch leben gelassen. Nachmittag hatte ich mit meiner Frau Wirtin zusammen Würste eingekauft, die mit Butterbrot trefflich zum Wein schmeckten, und zur Vervollständigung der Fete hatte ich noch beim Konditor eine halbe Brottorte für 30 Kr. geholt. Lavalette, der überhaupt sehr besonnen und gemäßigt ist, trank am wenigsten; B. am meisten; ich hielt die edle Mittelstraße, trank aber wenistens eine gute Flasche; und zwar ohne den geringsten Einfluß, zum höchsten Erstaunen meiner Freunde, die nichts weniger als ein solches Talent in mir vermutet hatten; sie glaubten, ich würde nach dem dritten Glas unter den Tisch sinken, und als sie mich ganz unangefochten sitzenbleiben sahen, priesen sie den Vater glücklich, dessen Sohn an seinem Geburtstage eine solche herrliche Waffenprobe, so tüchtige primitiae armorum, so tapfer bestand. Ich selbst war noch viel mehr verwundert, und kann mir mein neuerdings bewiesenes Trinktalent einzig und allein dadurch erklären, daß ich in allen Stücken der echte Sohn einer braven Rheinländerin bin (sit venia verbo, liebste Mama). Ich beobachtete mich dabei selbst ganz genau, und fühlte die ganze Zeit auch nicht die geringste Unpäßlichkeit; erst nach dem dritten Glase "moussierenden Frankenweins" fühlte ich ein klein wenig die arteria temporalis pulsieren, was aber sogleich wieder aufhörte, als ich einen Schluck Wasser dazwischen nahm. Bertheau hat den andern Tag bis 1/2 11 Uhr geschlafen; ich schlief zwar auch prächtig, nachdem ich endlich um 1 1/2 Uhr zu Bett gegangen war; stand aber doch den andern Morgen, wie gewöhnlich, um 7 auf, und war den ganzen Tag sehr froh und munter. Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, daß eine solche Kneiperei so gute Folgen haben könnte, und bin noch jetzt ganz stolz auf meine erste Trinkprobe. Übrigens braucht Ihr nicht die geringste Angst zu haben, daß ich etwa solchen Geschmack daran gefunden hätte, daß ich jetzt öfter Wein kneipen würde; im Gegenteil, ich habe mir vorgenommen, nun zu fasten (schon um den großen Riß in meinem Beutel zu heilen, der außerdem noch durch ein paar Schoppen Eierbier vermehrt worden ist), und werde den Anfang damit machen, daß ich morgen das Fläschchen "Leistenwein", das jeder Mittagsgast der Harmonie Sonntags bekömmt, und mich 6 Kr. kostet, nicht trinken werde. -

Im übrigen habe ich diese Woche wieder manche schöne Stunde gehabt; Schenk hat nämlich ein andres Kolleg: über Kryptogamen (das sind die niedern Pflanzen ohne Blüten: "Farnkräuter, Moose, Flechten, Pilze usw.") angefangen, und da es zwei Stunden sind (Dienstags und Donnerstags von 4-5), habe ich es noch angenommen; außer mir und la Valette sind nur drei noch da. Welche Freude mir das macht, brauche ich Euch nicht erst auseinanderzusetzen? Unter anderm führt er uns in die Gewächshäuser und demonstriert uns dort die schönsten tropischen Farnkräuter usw. Ich habe nun aber auch genug Kollegien: 30 Stunden, und dazu noch mindestens 18 Stunden Präparierübungen. Letzere frequentiere ich jedoch nicht sehr fleißig. Diese Woche konnte ich schon nicht, weil ich mich wieder einmal ein bißchen in den Finger geschnitten habe. Übrigens war auch in dieser Woche völliger Mangel an Kadavern; infolgedessen großer Unwille der Studenten (die sich nur dadurch beruhigen ließen, daß man um zu sezieren, doch nicht geradezu die Leute vergiften könne!) und große Verlegenheit der Professoren; selbst Kölliker konnte uns bei den Vorlesungen über die Kopf und Halsmuskeln nur Spirituspräparate zeigen. Nächst diesem und dem botanischen Kollegium macht mir noch besondere Freude die mikroskopische Anatomie des Menschen, welche im höchsten Grade interessant ist, und von dem jungen Privatdozenten Leydig sehr schön vorgetragen wird. Auch sehr schöne mikroskopische Präparate zeigt er vor. Ich habe mir dazu noch Köllikers "Gewebelehre" angeschafft, ein herrliches und höchst wichtiges Buch. (Außerdem habe ich mir noch ein Handbuch der Anatomie für 8 fl. kaufen müssen!) -

Vorigen Sonntag war ich wieder in der Kirche; allein es predigte diesmal ein älterer, ziemlich salbungsvoller Mann, der mir viel zu viel Worte und Redensarten machte. Noch dazu war es eine spezielle Erntefestpredigt. Morgen hoffe ich wieder den ersten anzutreffen. Sonntagnachmittag war trüb; erst war ich mit B.s Freunden in "Smolensk", einem Kaffeehaus am Fuß der Weinberge; dann ging ich noch auf die Turnanstalt, die ich nah hinter meiner Wohnung entdeckt habe, und wo jetzt zuweilen meine schwachen Armmuskeln übe (namentlich mein Triceps brachii ist sehr schwach und der Biceps flexor nicht viel stärker). Dienstag ging ich abends mit la Valette ein großes Stück den Main hinauf am rechten Ufer; es war schon ziemlich dunkel, der Main sehr hoch vom vielen Regen angeschwollen, und die Höhen ringsum recht kahl und herbstlich öde; am Himmel nur eine zusammenhängende Wolkenmasse; das ganze sehr anziehend, wild und düster, namentlich, da kein lebendes Wesen die Ruhe der Natur störte. Vorgestern abend war gänzlich verschieden; rein wolkenloser Himmel, der schönste Vollmond, wahrhaft ätherische Luft, und ein zarter Nebelschleier über Berg und Tal gebreitet. Erst um 8 Uhr kam ich aus dem Kolleg, und um 9 wollte ich mit la Valette einen Spaziergang auf das schön gelegene Kloster, das Käppele, machen; allein, als wir glücklich am Ende der Stadt waren, und eben durch das Tor heraus den Berg besteigen wollten, hielt uns die Festungswache an, und wir mußten nolens volens umkehren. Wir kletterten nun noch auf Geratewohl an dem Zitadellenberg über 1 Stunde herum, und kamen auch glücklich bis an die höchste Stelle, auf die man, ohne von den Festungswachen zurückgewiesen zu werden, gelangen kann, von wo wir eine prächtige Aussicht über die in Nebelduft zu unseren Füßen totenstill liegende, dunkle, nur durch einzelne Lichter erhellte Stadt, den rauschenden Strom steil unter uns und die mondbeschienene Höhe ringsum, in vollen Zügen genossen. Ich kann Euch gar nicht sagen, welche Freude mir ein solcher Naturgenuß, mag er nun lachend schön oder trübe und düster sein, gewährt. Ich fühle mich dann mit einmal all der Sorgen enthoben, mit denen ich mich oft den ganzen Tag quäle; es ist, als kehrte der Friede Gottes und der Natur mit einemmal in meine Brust ein, den ich sonst oft vergeblich in mir suche. Was Dir, lieber Vater, die Betrachtung der Weltgeschichte und des allgemeinen Menschenschicksals im großen und ganzen ist, das gewährt mir in noch höherm Grade sowohl die allgemeine als spezielle Naturbetrachtung. Ich glaube, ich bin schon viel zu egoistisch, um an politischen Betrachtungen Interesse haben zu können. Dagegen finde ich wieder eien andern hohen Genuß und Trost in der Poesie. Diese habe ich erst in der letzten Zeit so recht schätzen lernen, seitdem ich so in die Welt hinausgetreten bin. Sie ist es, die dem Menschen über den Staub und die Sorgen des Alltagslebens hinweg hebt und ihm die bösen Gedanken verscheucht . . .

Jetzt hätte ich sehr gute Gelegenheit gehabt, mit Kölliker genau bekannt zu werden. Er suchte nämlich einen Kommilitonen, "der im Falle wäre, einige anatomische Zeichnungen für ihn anfertigen zu wollen". Ich hatte anfangs Lust, mich zu melden. Nun hat er einen ziemlich ungeschickten bekommen, mit dem er aber doch zufrieden ist. -

Das Zeichnen macht mir übrigens einmal wieder sehr viel Freude, und in Ermangelung eines bessern Gegenstandes zeichne ich flott Knochen nach der Natur . . .

Euer alter treuer Junge

E. H.

8. Würzburg, den 5. 12. 1852

Meine liebe Mama!

Der diesmalige Brief ist zunächst speziell an Dich gerichtet, als den geheimen Oberfinanzrat des Haeckelschen Hauses. Schon so bald wirst Du eine solche Rechnung mit schwarzem Rand wohl ebensowenig, als ich selbst, erwartet haben. Ich kann Dir versichern, daß, als ich am ersten meine Börse geöffnet hatte, um die verschiedenen Rechnungen, in specie die für den Mittagstisch und für die Wirtsleute, zu bezahlen, ich selbst nicht wenig erschrak, als sich der gesamte Rest, nach Abzug der summa summarum, nur auf 3 1/2 fl. belief. Indes so oft ich auch die ganzen Geschichten nachrechnete und durchsah, immer blieb es so, wie es war und ist; und mein einziger Trost über diese schreckliche Abzehrung meiner Kasse ist, daß ich auch grade in diesem Monat sehr viel extraordinäre Ausgaben, als z. B. die Reise hieher, die Einrichtung hieselbst, die Kollegiengelder usw. notwendig tun mußte. Wie sich dies allen zusammengesummt hat, wirst Du aus der beiliegenden Spezialrechnung ersehen. Mitgenommen hatte ich 50 Taler Gold und 50 Taler Silber; das macht zusammen 187 1/2 Gulden. Da nun die Ausgaben 184 fl. betragen, bleiben mir nicht mehr als 3 1/2 Gulden, und bleibt mir nichts übrig, als der feste Vorsatz, von nun an sparsamer zu wirtschaften, und mich in mancher Hinsicht mehr einzuschränken. So will ich z.B. nachmittags keinen Kaffee mehr trinken; auch abends nicht mehr ausgehen (denn wenn ich dann Bekannte treffe, komme ich nicht unter 10-15 Kr. weg), sondern mir zu Haus von meiner Wirtin (o teure Wirtin!) ein Suppe machen lassen (obwohl diese es auch nicht unter 6-8 Kr. tut). Ferner könnte ich auch billiger zu Mittag essen, wenigstens für 18 Kr., während es auf der Harmonie 21 kostet. Allerdings würde ich dann die Gesellschaft von Bertheau und la Valette entbehren; doch am Ende muß allen gehen . . .

Daß Du Dich so über das Renommistenstück von mir an Papas Geburtstag betrübt hast, liebe Mutter, ist mir recht leid; ich verspreche Dir aber, nie wieder solche Extravaganz, sollte sie auch noch so gut ablaufen, zu begehen. Das Weintrinken ist überhaupt ein überflüssiges Ding, und man profitiert nie dabei, selbst wenn der Wein so billig ist wie hier. Nun wirst Du wohl wieder betrübt sein, daß mein Geld schon alle ist; indes bedenke nur, daß Du mir selbst eingeschärft hast, liebste Mama, ich sollte nicht geizig sein, wozu ich große Anlage hätte, und ich sollte Euch gleich offen schreiben, wenn meine Kasse geleert ist, auf daß ich keine Schulden machen lerne. So habe ich es denn auch gleich getan, verspreche aber (neben der Bitte um baldigen Sukkurs), von nun an gewiß recht ordentlich und sparsam zu wirtschaften. Du kannst mir glauben, daß mir ein solcher Bettelbrief, wie ich ihn jetzt zum Teil wenigstens im Sinn gehabt habe, recht schwer geworden ist; indes das Geld ist einmal ausgegeben und Ihr werdet aus der Rechnung sehen, wie wenig ich dafür kann, daß dies so rasch gegangen ist. Ich wollte wahrlich zehnmal lieber, meine liebe Alte führe mir die Wirtschaft, als daß ich mich selbst um Einnahmen und Ausgaben zu bekümmern brauche. Doch das sind die Freuden der Junggesellenwirtschaft! . . .

Endlich laß Dich selbst, meine liebe Alte, noch herzlich küssen und umarmen von Deinem alten Ernst.

9. Würzburg, 5. 12. 1852.

Lieber Vater!

Vor allem muß ich Dir wieder ein Kapitel lesen, daß Du Dich wieder so über die Politika geärgert hast. Das ist, mein liebes Alterchen, fast ebenso schlimm, als wenn ich mich so unnütz und vergeblich um meine Zukunft gräme. Gott wird auch ohne unsere Sorge die Angelegenheiten des Einzelnen sowohl als des Staates gut zu Ende führen. Je bunter es jetzt hergeht, deste eher muß es ja besser werden und die Krisis eintreten. Freilich kann ich mir recht gut denken, wie Dir die Kammern mit ihrem dummen Zeuge in so unmittelbarer Nähe viel zu schaffen machen; ich würde mich aber bei der ganzen Sache auf einen viel objektiveren Standpunkt stellen. Du schreibst mir, Du fühltest die Last des Alters, zugleich aber auch seinen andern Eigenschaften, indem es uns zu einer ruhigern, objektiveren Betrachtung hinführe, und in derselben Zeile fährst Du mit der ganzen Glut eines jugendlichen Patriotikers über die armen Kammern und den "juten" König her! Denke doch, daß Dir Deine Frau und Deine Kinder viel näher stehen, und daß Du diesen wehetust, wenn Du durch Ärger Deiner Gesundheit schadest! Mache es lieber wie wir hier, die weder nach der preußischen noch nach der bayrischen Kammer fragen, sondern höchstens "Kladderadatsch" und "Fliegende Blätter" lesen, und uns über "Napoleon den Kleinen" amüsieren . . .

Die langen Abende so allein hier kommen mir recht spanisch vor. Ich denke dann immer, wie meine lieben Alten sich jetzt vielleicht etwas zusammen vorlesen: Shakespeare von Gervinus, oder Vilmars Literaturgeschichte, oder ein anderes historisches schönes Werk; zuweilen ängstigt sich auch wohl Mama, wenn Du im Dunkeln spazieren gehst und nicht zur rechten Zeit nach Hause kommst? -

Bei den Büchern fällt mir ein, daß jetzt hier "Immanuel Kants sämtliche Werke", welche neu 25 fl. kosten, für 8 Gulden zu kaufen sind. Freilich ist es nicht die gute Ausgabe von Rosenkranz, sondern die von Hartenstein; aber noch ganz neu und gut erhalten. Anfangs wollte ich es für Dich kaufen; dann fiel mir ein, daß es ja Großvater wohl schon hat? Wenn Du es doch zu haben wünschst, so schreibe mir. Ich glaube, ich werde auch noch tüchtig Kant studieren müssen.

Nun noch einmal die Bitte, daß Du Dir die Politika nicht so zu Herzen nimmst, und daß Du lieb behälst Deinen alten treuen Jungen E. H.

10. Würzburg, Sonnabend 11. 12. 1852

Innigstgeliebte Eltern!

Was gäbe ich darum, wenn ich Euch jetzt in meine Arme fassen und mein übervolles Herz Euch so recht ausschütten könnte; es durchkreuzen mein armes Hirn jetzt mit einemmal wieder so viele ermutigende und frische Gedanken, daß ich mich trotz der Zahnschmerzen, die mich diese ganze Woche geqüält haben, und noch quälen, wieder ganz neugestärkt und lebensmutig fühle. "Auf Regen folgt Sonnenschein" und auf großes Leid immer große Freud; das ist ein Satz, den ich jede Woche an mir bestätigt sehe. Gestern war der Leidenstag, wo ich mich weder körperlich noch geistig recht wohl fühlte; dafür habe ich mich ordentlich ausgeschlafen, habe heute vormittag mit dem größten Vergnügen flott gezeichnet, dann ein prächtiges Kolleg gehört, und als ich nachmittags aus einem Kaffeehaus, wo ich mit Bertheau und la Valette mit großem Vergnügen den "Kladderadatsch" gelesen habe, nach Hause kam, fand ich auf meinem Tisch - ratet! - ein dickes Paket aus Merseburg. Dasselbe enthielt außer einer Menge getrockneter Pflanzen eine solche Masse von Briefen, daß ich mit deren Durchlesen noch nicht zur Hälfte fertig war, als vor einer 1/2 Stunde Euer sehnlichst erwarteter, lieber Brief mich überraschte. Habt dafür den herzlichsten Dank, sowie auch für die Geldsendung, mit der ich noch einmal so solange zu reichen gedenke als mit der vorigen Summe, die Ihr mir mitgegeben hattet. Um 6 Uhr gehe ich nun, um das Glück des heutigen Tages zu vollenden, wieder in die Physikalisch-medizinische Gesellschaft, welche heute zum erstenmal, seitdem ich da war, ihre Sitzungen hält; vor 14 Tagen war zwar eine Sitzung, aber geheime, indem das Jahresfest gefeiert und Rechnung abgelegt wurde. Doch ich sehe, daß es Zeit ist. Adieu bis nachher!

Sonntag abend, 12. 12. 52.

Jetzt komme ich dazu, meinen liebsten Alten den angefangenen Brief von gestern fortzusetzen. Der gestrige Abend war wieder sehr interessant. Namentlich hielt Kölliker einen sehr schönen, klaren, interessanten Vortrag über die Ergebnisse seiner Ferienreise, die er zusammen mit Prof. Müller und Dr. Gegenbaur von hier (Zoologen und Anatomen) nach Sizilien gemacht hatte. Der Zweck derselben war hauptsächlich auf Erforschung niederer Seetiere gerichtet, deren Anatomie, Morphologie und Physiologie höchst anziehend und wichtig ist. Zu diesem Zwecke hatten sie sich sehr lange an der Meerenge von Messina aufgehalten. Zuerst teilte Kölliger einiges Allgemeine über die letztere, namentlich über die Szilla und Charibdis mit, deren Wogen auch bei größter Windstille in fortwährender Bewegung begriffen ist . Er schreibt dies hauptsächlich einer starken Meeresströmung zu, welche einmal von Süden nach Norden und dann umgekehrt geht . Sodann beschrieb und zeichnete er viele neue Polypen, Medusen (Quallen), Mollusken und anderes dergleichen kleines Viehzeug, auch merkwürdige kleine, höchst niedrig organisiert Fische, welche er teils neu entdeckt, teils genauer beobachtet hatte. Eine wichtige Entdeckung davon hatte er jetzt gleichzeitig mit unserm Johannes Müller, seinem Lehrer gemacht, der zur nämlichen Zeit (in Begleitung von Lachmann) am Adriatischen Meer, bei Triest, ähnliche Forschungen anstellte . . .

Nun zu meinem gestern erhaltenen Briefschatz: der erste und größte (4 Bogen lange!) ist von Ernst Weiß, der auch die Abschickung des Pakets besorgt hatte. Es ist mir wahrhaft rührend, mit welcher treuen Anhänglichkeit der alte Junge mir alles berichtet und mitteilt, wie er dabei, im Kampfe mit seinem trocknen Stoizismus, sein tiefes ernstes Gemüt offenbart, und wie er mir dann seinen Freundesrat erteilt und mich über meine Skrupel tröstet. Auch schüttet er sein Herz aus über dem Materialismus seiner Mitschüler und über seine Verlassenheit, indem Webers Besuche von Halle das einzige seien, wa ihn an unser früheres Zusammensein erinnert und ihm teilweise ersetze. Besonders entbehrt er, wie auch ich, sehr jemanden, dem er sein naturwissenschaftliches und in specie botanisches Herz ausschütten könnte. Diesem angehängt ist ein Brief von Osterwald, den ich Euch hier wörtlich mitteilen will:

"Nur ein paar Zeilen, liebster Gevatter, damit Sie nicht glauben, ich hätte Sie ganz vergessen. Zu einem ausführlichen Briefe habe ich leider noch immer keine Zeit, da mich eine größere wissenschaftliche Arbeit über die Odyssee, in der ich jetzt lauter Frühling sehe, in Anspruch nimmt. Weiß hat mir schon Ihre Skrupel wegen Ihrer Zukunft mitgeteilt. Ich habe es Ihrem Herrn Vater lange vorhergesagt, daß ich an den Mediziner in Ihnen nicht glaube, und bin daher durch Ihren Entschluß, umzusatteln, durchaus nicht überrascht. Wenn der Entschluß nun reif ist, so führen Sie ihn ohne Melancholie aus. Mathematik werden Sie schon genug lernen, und die Naturwissenschaften können ja die Hauptsache bleiben. Verschließen Sie sich nicht gegen humaniora, halten Sie sich den Sinn offen für "Allgemeines" und steuern dann auf die akademische - und geht es nicht - auf die Schulmeisterkarriere los. Schulmeister sein ist freilich ein saures Brot; aber es hat doch viel mehr Freude als etwa ein Steinklopfer, zumal wenn man solche treffliche Leute wie Sie, mein lieber Gevatter, zu Schülern hat oder gehabt hat. Es wäre schön, wenn Sie einmal in Merseburg das Probejahr machen müßten! Adieu für heute! Meine Frau grüßt herzlich, Minchen ist sehr drollig und Ernst ganz allerliebst. Adieu. In alter Freundschaft der Ihrige

Osterwald."

Ihr könnt kaum glauben, liebste Eltern, was diese paar Zeilen in meinem Innern rumort und zu einer zufriedenen Stimmung beigetragen haben. Es war mir fast grade so froh und ruhig, so still in Gott zumute, als wie ich Tante Bertas herrlichen Brief erhielt. Es ist dies wirklich das einzige, was mich noch aufrecht erhält und nicht ganz an mir selbst verzweifeln läßt, daß solche prächtigen Leute wie Osterwald, wie Tante Berta, wie Ihr selbst, liebe Eltern, wie mein trefflicher Bruder und meine tüchtigen alten Freunde Weber und Weiß mich nicht aufgeben, sondern an mir festhalten und mit Liebe und Teilnahme meiner gedenken. Fast noch inniger und herzlicher als die vorigen ist der Brief von meinem treuen, lieben Weber, der mir auch ganz sein herrliches Gemüt, sein tiefes volles Herz, das für die Außenwelt so ganz verborgen und abgeschlossen liegt, aufschließt. Er tröstet mich zunächst über das Heimweh und schildert mir in einer wahrhaft poetischen, sinnig-einfachen Weise, wie er davon fast 6 Jahre lang, solange er auf der Schule war, so oft er in den Ferien nach Hause ging, gequält worden sei, wie er es jetzt endlich überwunden und sich einen stetig stillen, durch nichts zu störenden, auch durch die engsten Verhältnisse nicht zu unterdrückenden Frohsinn erworben habe. (Ach, wann werde ich es einmal so weit gebracht haben!!) -

Sodann gibt er mir ganz speziellen Rat über das Studium der Mathematik, wie ich es betreiben solle und wie es ihm selbst (der es ja eigentlich auch nur um der Natur willen betreibt) gefalle. Diesem köstlichen Brief sind allerliebste Skizzen beigefügt (besonders schöner Baumschlag), dann getrocknete Pflanzen, und auch ein Brief von Gandtner an Weber, den jener diesem geschrieben hatte, als er ihn Ostern 52 weges des zu ergreifenden Studiums um Rat fragte. (Auch Gandtner ist entschieden der Meinung, daß Weber - und also auch ich jetzt - nur getrost Mathematik und Naturwissenschaft studieren sollen. Ich werde übrigens nächstens an G. schreiben.) Der fünfte Brief ist von Finsterbusch, gleichfalls sehr herzlich-freundschaftlich, aber mit einem Gefühl geistiger Überlegenheit und erlangten Charakters, das ich längst in ihm vermutet, und das mich für ihn sehr freut, wenngleich es mich tief schmerzen muß, wenn ich mich mit ihm vergleiche, und sehe, wie es mit mir doch gar nichts wird und werden kann. Er warnt mit Recht vor allen "vor einem kränkelnden, süßlichen Zustande, in welchem man sich leicht gefällt und, sonderbar genug, mit Wollust sein Leben versauert, und so recht ungenutzt dahingehen läßt". - Sehr wahr ist ferner folgendes: "Ich hatte, wie auch Du, in der Schule eine falsche Ansicht vom Studium. Ich sah das Hineinversenken in dasselbe als Spitze des Studierens an, und mit Recht in gewisser Beziehung. Nur verwechsele man dies nicht mit dem darin Versunkenbleiben!!" - Zugleich rät er mir dringend, mich unter den Leuten unzusehen, Bekanntschaften anzuknüpfen, einen Freund zu suchen; dazu keine Mühe zu scheuen, usw. Das ist wohl alles sehr wahr, aber ebenso leicht gesagt, als schwer getan. Ich wenigstens sehe, daß, je mehr ich mir Mühe gebe, mich zusammenzunehmen, es mir desto weniger gelingt . . .

Wie glücklich ist so einer doch durch seinen selbstständigen Charakter! -

Endlich liegt noch ein Brief von Hetzer bei, in gewohnter sarkastisch-gutmütiger Manier. Was nun die Hauptfrage betrifft, die in allen diesen trefflichen Briefen ausführlich und mit großer Teilnahme behandelt ist (NB. Ihr müßt wissen, daß auch ich in einem Brief von hier an Weiß und Weber mein Herz ausgeschüttet und mir Rat erbeten hatte), mein künftiges Leben und Studium anbelangend, so ist darüber bei ihnen allen nur eine Stimme, die Ihr in Osterwalds Zeilen kurz ausgesprochen findet. Namentlich ist es der kleine Weiß, der mit ordentlichen Ungestüm in mich dringt, seinem, seiner Freunde und aller Vernünftigen Rat zu folgen und mich nicht durch Zweifel zu quälen. Es ist ordentlich komisch rührend, wie er bestimmt behauptet, ich würde noch Professor, und wahrscheinlich der Botanik. Daß ein Praktikus in mir nicht verloren gehe, darüber ist und war er von je mit mir und allen einverstanden . . .

Wenn ich Euch nun berichten soll über die vergangene Woche, so finde ich, daß sie ziemlich viel Abwechslung geboten hat. Wenigstens bin ich einen Abend (hört, hört!1) in Gesellschaft (!) gewesen. Es kam dies so: als ich abends mit Schenk aus dem mikroskopischen Kurs nach Hause ging, fragte er mich, ob ich die Musik liebe? Als ich dies halb und halb bejahte, lud er mich zu Mittwoch abend zu sich ein. Als "junger Mann von Lebensart" (!) ging ich nun Mittwoch früh in schwarzem Frack, Hosen (die so zum erstenmal auskamen und wenigstens nicht ganz umsonst mitgenommen wurden wie die weißen nach Teplitz) und Handschuhen (Bertheau wollte mir durchaus seinen schwarzen Hut applizieren; indes ließ ich mir solches nicht gefallen) hin, um der Frau Professorin Schenk meine Aufwartung zu machen. Glücklicherweise war sie nicht zu Hause. Abends war es recht nett und gemütlich; und in mancher Beziehung tat es mir einmal sehr wohl.

NB. Wenn Ihr mal wieder etwas schickt, so schickt doch auch die "Odyssee" mit; ich glaube, sie steht in meinem Glasschrank auf dem zweiten Brett; ich habe oft große Sehnsucht danach! -. . .

11. Würzburg, 21. 12. 1852.

Liebste Eltern!

Eure Sorgen in betreff der Wohnung sind dadurch überflüssig geworden, daß ich schon vorige Woche eine neue gemietet hatte. Sie befindet sich im I. Distr. Nr. 358, nicht sehr weit von der jetzigen und besteht aus einer zwar kleinen, aber sehr gemütlichen Stube mit einer Kammer daneben, die fast 3/4 so groß ist. Sie hat zwei Fenster und ein nettes Ameublement; die Miete beträgt nur 5 fl., da sie mir das Mitbringen es eigenen Bettes für 1 fl. angerechnet haben. Die Aussicht ist freilich nicht sehr schön, auf ein enges und finstres Gäßchen, so daß ich fast (wie in der alten Reichsstadt Frankfurt) meinem Nachbar gegenüber die Hand reichen kann. Aber nach freier und reiner Luft sucht man in ganz Würzburg vergebens, außer im Hofe des Hospitals, im Botanischen Garten und im Mainviertel drüben, wo die armen Schiffersleute wohnen . . .

Was meine "Lebensfrage" betrifft, so denke ich, wir wollen uns das weitere Hin- und Herschreiben darüber ersparen und es auf die mündliche Besprechung zu Ostern verschieben. Die Hälfte der sauren Trennungszeit ist ja nun schon vorbei. Was übrigens den Gedanken des Schulmeisterns betrifft, so finde ich denselben gar so übel nicht wie Du, lieber Vater! Einmal sind wir ja doch nicht auf dieser Erde, um ein anmutiges und angenehmes Leben zu führen. Wenn man nur sein tägliches Brot hat, kann man sich genügen lassen. Das Wiederkäuen ein- und desselben Gegenstandes vor den immer neu auftretenden Schülern ist allerdings auf die Dauer eine traurige Sache; aber bedenke nur, daß die akademischen Lehrer fast in demselben Falle sind. Und dann, wie ungewiß und zweifelhaft ist eine akademische Karriere, wenn einer nicht entweder ausgezeichnete Talente oder bedeutende Mittel hat! Sodann hat mir aber la Valette eine ganze Reihe von Beispielen angeführt von solchen Lehrern, welche fast nur in ein paar naturwissenschaftlichen Fächern, z. B. Botanik und Zoologie, oder Chemie und Physik, gut beschlagen waren, und alsbald in rheinischen Realschulen, wo solche sehr geschätzt werden, eine sehr angenehme und dabei nichts weniger als dürftige Stellung fanden. An eine praktische chemische Laufbahn ist bei meiner ganzen antipraktischen Veranlagung dazu nicht zu denken. O jerum praxis!! Den noch übrigen Teil dieses Semesters werde ich übrigens noch ganz der Anatomie widmen, da neben dieser doch keine Zeit zu was anderem übrigbleibt, und dann wollen wir zu Ostern sehen! . . .

(NB. Gewisse naturhistorische Merkwürdigkeiten sind noch das Beste an mir; wie z. B. daß ich mit dem linken Auge in das Mikroskop sehen kann, während ich mit dem rechten das Gesehene abzeichne, worüber neulich (in der mikroskopischen Anatomie) der Dozent, Herr Leydig, mitten im Kolleg in das höchste Erstaunen geriet, weil er das noch nie gesehen; auch sehen die allermeisten nur mit dem rechten Auge in das Mikroskop. Übrigens fühle ich doch auch, wie es namentlich abends, die Augen angreift.) . . .

Die Anwesenheit des Kaisers von Österreich wird Dir grade auch nicht sehr angenehm sein, mein liebes Alterchen; Du möchtest ihn lieber, wie auch die gesamten Junker, auffressen; es ist aber unverdauliches Zeug, wie geronnenes Eiweiß; nimm Dich in acht! . . .

Nochmals tausend Grüße und Küsse von Eurem

treuen alten Jungen

E. H.

12 Würzburg, 25. 12. 1852

Innigeliebte Eltern!

Hoffentlich habt Ihr meine kleine Sendung ebenso zur rechten Zeit erhalten wie ich Eure große; daß Ihr Euch aber auch nur halb so sehr über die meinige gefreut habt, als ich über die Eurige, muß ich mit Recht bezweifeln, da ich kaum glauben kann, daß jemand ein schöneres und erwünschteres Geschenk bekommen hat als ich von Euch, und sich mehr darüber freuen kann . . .

Was soll ich vom Berghaus sagen? - Als ich zuerst das große, dunkle Buch im Grunde der Kiste durchschimmern sah, erriet ich wunderbarerweise sogleich im ersten Augenblick das Rechte! Während ich eilig die Hindernisse, die noch darauf lagen, wegräumte, kam mir dieser Gedanke aber doch viel zu kühn vor, und ich schämte mich fast, einen so unbescheidenen und doch so herzlichen alten Wunsch wieder auszusprechen, meinte dann, es wäre Reineke Fuchs von Kaulbach oder so was ähnliches. Doch wie soll ich Euch mein Erstaunen und Entzücken schildern, als ich das verwirklich sah, was ich kaum zu hoffen gewagt. Es wäre überflüssig, Euch meine unendliche Freude und meinen innigen Dank dafür zu schildern. Ihr wißt selbst, meine besten Eltern, wie sehr der Besitz dieses klassischen Werks ein wirklicher Lebenswunsch für mich von jeher gewesen, und noch ist. Nur das will ich Euch gestehen, daß ganz besonders in der letzten Zeit, seit sich der traurige und doch notwendige Gedanke des Umsattelns weiter ausgebildet hatte, und mir in Bildern der Zukunft das Studium der Mathematik, insbesondere aber der Physik, sowie der künftige Lehrerberuf, vorschwebte, Berghaus' physikalischer Atlas einer der wichtigsten Brennpunkte war, auf welchen sich meine nächsten Wünsche für die Zukunft konzentrierten, und auf den ich immer wieder zurückkam. Oder habe ich gar in einem meiner letzten Briefe den alten, lieben Wunsch wieder ausgesprochen? Soviel mir erinnerlich, habe ich ihn nur im stillen genährt, da ich in meiner Niedergeschlagenheit an die Erfüllung dieses Wunsches ebensowenig wie an diejenige andrer Hoffnungen zu denken wagte. Noch heute früh, als ich erwachte, mußte ich mich von neuem besinnen, ob es nicht nur ein schöner Traum sei, und als ich mich dann von der wirklichen Anwesenheit des geliebten Buchs überzeugt, stürzte ich mich mit erneutem Entzücken hinein. Doch ich versuche vergeblich, Euch meine Freude und die Hoffnungen, die ich von dem Gebrauch des Meisterwerks, von dem Genuß, den es mir gewähren wird, hege, zu schildern; viel besser werdet Ihr dies selbst fühlen, meine einzigen Eltern, da Ihr ja meine kleine Seele durch und durch versteht und erkennt. Nur das muß ich Euch noch sagen, daß ich ganz insbesondre für meine Persönlichkeit den größten Nutzen und Genuß davon haben werde. Es steckt in mir ein sozusagen reales, sinnliches Element, das mich Gedanken und Tatsachen viel leichter auffassen und behalten, dieselben viel fester einprägen läßt, wenn sie durch Bilder versinnlicht, als wenn sie bloß in Worten trocken und nackt hingestellt werden. Ich sehe dies z. B. sehr deutlich in der Anatomie, wo ich mühsam auswendig gelernte Sachen in ein paar Tagen verschwitzt habe, dagegen das, wovon uns Kölliker eine wenn auch noch so flüchtige Zeichnung gegeben hat, ganz fest sitzen habe und behalte. Wie mir in dieser Beziehung der ausgezeichnete physikalische Atlas zustatten kommt, und wie er mir wirklich "etwas fürs Leben" im eigentlichen Sinne des Worts sein werden wird, könnt Ihr kaum denken. Eine große, große Freude wird es mir auch sein, wenn ich mit Dir, liebster Vater, die prächtigen Tafeln der Geograhie durchgehen und Dir dazu (das klingt hochtrabender, als es gemeint ist!) physikalische Erläuterungen geben kann. Das wird eine rechte Freude sein, wenn wir dann so gemeinschaftlich studieren; hoffentlich geschieht es recht bald! Vorläufig ist es mir sehr lieb, daß die Herrn Professoren wider alles Erwarten und ganz unverhofft (dies Jahr zum erstenmal!) die nächste Woche in eine Ferienwoche umgewandelt haben. Da kann ich mich dann schon tüchtig darin umsehen! - Auch für die andren Geschenke seid schönstens bedankt: die Mundvorräte werdem mir trefflich zustatten kommen und wieder für mehrere Wochen Abendbrot liefern. Ich habe sie mir aber auch schon jetzt vortrefflich (noch eben wieder mit meinen beiden Hausgenossen, den v. Franqués aus Wiesbaden) schmecken lassen, namentlich da ich am Donnerstag (vorgestern) Fasttag gehalten hatte. Ich habe nämlich vor, von Zeit zu Zeit Fastübungen, zum bloßen, puren Spaß, anzustellen, als Vorbereitung teils zu dem künftigen Real- oder Gymnasial-Lehrerberuf, teils zu etwa (jedoch nicht wahrscheinlich!) zu machenden Reisn. (NB. Letzterer Gedanke kommt mir jetzt manchmal wieder der Quere, besonders wenn ich in meinem Berghaus schwärme!) Weber hat es in solchen Hungerübungen schon ziemlich weit gebracht; er fastet jetzt regelmäßig 36 und mehr Stunden, und das zum bloßen Vergnügen, selbst wenn er genug zu essen im Schrank hat und es gar nicht nötig hätte. Ich habe es übrigens vorläufig im Hungerüben bloß mit 24 Stunden versucht, indem ich von Donnerstag früh (nach Genuß des Morgenkaffees) bis Freitag zu derselben Stunde weder einen Bissen Speise, noch einen Schluck Trank (nicht einmal Wasser!) genossen habe, wobei ich mir sehr wohl befand, zu geistiger Tätigkeit angeregt fühlte und keine weitere Folgen verspürte als etwas gesünderen Appetit am folgenden Tag - . . .

Das Andenken von Großvater ist mir natürlich auch sehr wert; namentlich sind mir die Haare seines teuren Hauptes eine liebe Erinnerung; was das Gold betrifft, so kennt Ihr meine Meinung darüber; es hat für mich stets etwas sehr Ängstliches. Um jedoch gehorsam zu sein, und das kostbare Geschenk nicht unnütz liegen zu lassen, habe ich es gleich gestern abend und heute früh gebraucht, und die Nadel vorn unter dem Halstuch angesteckt, was meinen Bekannten gleich auffiel. Dabei schielte ich aber immer von Zeit zu Zeit beklommen herunter, um zu sehen, ob sie noch dasitze . . .

Heute früh habe ich eine recht gute Predigt von einem älteren Pfarrer, der mich im Äußern wie im Vortrage sehr an unsern lieben Onkel Bleek erinnerte, gehört. Er stellte das Weihnachtsfest uns als einen Tag des Wunders, der Ehre und der Gnade dar. Sie hat mir recht gefallen und war sehr einfach und eindringlich. In den katholischen Kirchen soll in dieser Nacht sehr viel Spektakel los gewesen sein, Musik, Aufzüge und dergleichen mehr. Nach der Kirche ging ich im Hofgarten, welcher einem Merseburger Schloßgarten in vergrößertem Maßstabe gleich und sich längs der Wälle hinzieht, spazieren. Die Luft war so mild (es weht hier seit mehreren Tagen ein ganz warmer Südwest; von Schnee noch keine Spur), die Bäume begannen schon so hübsch auszuschlagen (sogar die Gageen guckten mit ihrem linealen, saftgrünen Keimblatt schon 3/4 Fuß aus der Erde heraus), daß es mir fast ganz heimlich war und in meinem Innern einmal wieder rechter Frühling wurde. Da habe ich denn Gott recht innig gedankt, daß er mir so vortreffliche Eltern und Verwandte geschenkt, und habe auch wieder rechtes Vertrauen gefaßt, daß er es noch gut mir mir machen wird. In mancher Hinsicht fange ich doch den Nutzen an einzusehen, den meine Trennung von Euch trotz alles Schweren hat. Man wird viel eindringlicher und öfter auf sich selbst an- und dadurch zu Gott hingewiesen. Der Glaube wächst dadurch unwillkürlich und überwindet den Kleinmut, der zur Verzweiflung hinführen will. Auch die heutige Predigt wies darauf schön hin, wie man nur durch den rechten Glauben an das fleischgewordene Wort zum eigenen Frieden gelangen kann. -

Sonntags werde ich jetzt leider meist nicht mehr die Predigt besuchen können, da grade um diese Zeit Demonstration der Kryptogamen im Botanischen Garten ist, wozu keine andere Stunde aufzufinden war . . .

13. Würzburg, 11. 1. 1853.

Dienstag früh.

. . . Gestern vor 8 Tagen, am Montag den 3ten, war die Stiftungsfeier der Universität, die im Jahre 1582 von dem Stifter des Juliushospitals, Bischof Julius Echter von Mespelbrunn, gegründet worden war. Es wurden die Bearbeitungen der Preisaufgaben des vorigen Jahres bekannt gemacht. Die theologische und juristische war gar nicht bearbeitet worden; die einzige Abhandlung, welche mit einem Preise gekrönt wurde, war eine medizinische: "Über die Lehre vom Soor des menschlichen Körpers". - Dann hielt der alte Rektor, Dr. Hoffmann, Prof. der Philosophie, eine Rede über die "Bedeutung der Fakultäten für die Entwicklung der Wissenschaft", die mir sehr gefallen hat und die Du auch noch erhalten sollst. Er faßt darin hauptsächlich das Verhältnis der Philosophie zur Theologie ins Auge und beweist, daß allein ein auf tiefsinnigen Christianismus gegründetes System des Theismus, wie es erst in neuester Zeit von Franz Baader (NB. Ich hatte den Namen noch nie gehört!) mit viel Glück, aber wenig Anerkennung versucht worden sei, für die Philosophie und die Menschheit selbst von wahrem Heil sein könne, und auch das allein Rechte und Wahre sei. Namentlich beweist er von Anfang bis Ende die Inkonsequenz und Nichtigkeit des Spinozismus, obwohl man den Stifter dieser Schule selbst seine Achtung nicht versagen könne. Hegel und Fichte sowie Schelling, selbst Kant werden auch nicht als konsequenzt und unbefangen betrachtet. Was mich noch am meisten in der Abhandlung, die mir ihrem größten Teile nach ganz richtig und gut zu sein scheint, frappiert hat, ist, daß er Schleiermacher mit den oben geannten Pantheisten zusammenstellt und ihm einen idealistischen Pantheismus (!) zuschreibt, während er allerdings zugibt, daß die großen und bedeutenden Schüler desselben nciht auf dem Boden des Pantheismus stehengeblieben seien, wie auch von jenen andern Schelling selbst sich noch bis zum Theismus erhoben habe, und dies fast von allen Schülern derselben in der Neuzeit mehr oder weniger gelten könne. Die Haupttendenz ist, wie gesagt, Widerlegung des Pantheismus. - . . .

Was Du mir über den Wert und die Bedeutung, über die Allmacht und den großen Einfluß schreibst, den das Christenthum auf unsre jetzige hohe Kulturstufe ausübt, und zu deren Erreichung es beigetragen, so bin ich damit vollkommen einverstanden. Noch am Sonntag abend las ich in dem Hieckeschen Lesebuch für obere Gymnasialklassen auch einen ganz vortrefflichen Aufsatz, in dem das nämliche Thema berührt wurde. (Überhaupt enthält diese Hieckesche Sammlung einen wahren Schatz der trefflichsten Aufsätze, die auch Dich sehr interessieren werden, und die Du noch lesen mußt. Für Gymnasien sind sie meiner Ansicht nach zu schwer!)

Was mein Medizinstudium anbetrifft, so werde ich tagtäglich von der Unausführbarkeit desselben gewisser überzeugt; um mich noch einmal zu versuchen, wohnte ich heute der chirurgischen Klinik im Hospitale bei, wo eine Krebsgeschwulst unter der Schulter operiert wurde; ich habe nicht nur für dieses Semester, sondern für mein ganzes Leben genug davon. - Daß es übrigens nicht bloß Hypochondrie ist, die mich davon abhält, könnt Ihr z. B. daraus sehen, daß in den ersten Tagen meines Hierseins im Hospitale der Typhus herrschte und ich nicht krank geworden bin, obwohl selbst der Mann, dessen Arm ich sezierte, am Typhus gestorben war. - Die Anatomie für sich ist, wie gesagt, wunderschön, aber nur keine Pathologie, keine Krankheitsgeschichten! - . . .

Gestern nachmittag habe ich bei Scherer in der medizinischen Chemie hospitiert; im ganzen wird sie sich von der organischen, besonders von der Anthropochemie wenig unterscheiden. Sein Vortrag ist sehr anziehend, Scherer ist, wie auch Virchow und Kölliker, mit denen er das berühmte Würzburger Kleeblatt bildet noch sehr jung. Alle drei stehen noch im Anfang der Dreißiger. Und was werde ich in diesem Alter getan haben? Wahrscheinlich nichts!

Doch bis dahin ist noch lange Zeit, und vielleicht wird doch noch etwas aus Eurem treuen alten Jungen.

Ernst Haeckel, stud. phil.

14. Würzburg, 20. 1. 1853.

Liebste Eltern!

. . , Diese Woche habe ich auch noch eine Entdeckung gemacht, die fruchtbar sein kann. Ganz zufällig erfuhr ich nämlich, daß hier jeden Mittwoch und Sonnabend von 4-6 Uhr das ganze Jahr hindurch öffentlich ein "Musikinstitut höherer Art" seine Stücke produziert, und zwar ganz ausschließlich die klassischen Symphonien von Beethoven, Mozart und Haydn, zuweilen auch etwas von Mendelssohn. Der Direktor ist der eigens dazu angestellte Universitätsprofessor Fröhlich. Natürlich ging ich gleich hin und es gefiel mir sehr (d. h. soweit mir Musik überhaupt gefallen kann!). Der sehr große Saal wimmelte von Kommilitonen; ich will auch öfter hingehen.

Nun hätte ich Euch noch eine Hauptgeschichte zu erzählen, nämlich von dem großartigen solennen Fackelzug, den wir Mittwoch, den 12ten Januar dem hochgefeierten Virchow gebracht haben. Der Grund dazu war teils eine Anerkennung seiner ausgezeichneten wissenschaftlichen Wirksamkeit überhaupt, teils ein Dank dafür, daß er einen ehrenvollen Ruf nach Zürich (der ihm auch viel materielle Vorteile geboten hätte) nicht angenommen hatte. (NB. Da er infolgedessen um eine Gehaltserhöhung von 400 fl. wenigstens angetragen hatte, erhielt er von der königl. bayrischen Regierung -: 200 fl! Ihr seht also, daß man hier noch lumpiger sein kann als bei uns! Dasselbe Schicksal teilte auch der Rektor, der ebenfalls nur die Hälfte der erbetenen Zulage erhielt! -) Vorher waren natürlich mehrere große Studendenversammlungen, in denen die Sache beraten und arrangiert wurde, und wo es sehr toll und lustig zuging, auch wieder viele tolle Vorschläge gemacht wurden. Übrigens beteiligten sich nur 150 am Fackelzug; die meisten andern wollten nicht soviel Geld opfern. (Es kostete jeden 1 1/2 fl.) Wir hatten zwei große Musikchöre; das eine von der Festungsartillerie kostete 50 fl., das andere von der Landwehr (d. h. was man hier so nennt; es hieße besser Nationalgarde oder Bürgerwehr oder Philistergarde; am besten lassen sich diese tapferen Krieger mit den Merseburger Schützen vergleichen) kostete 44 fl. 24 kr. (allgemeines Gelächter!). - Der Zug fiel übrigens ganz prächtig aus; die Umstände waren sehr günstig: die Nacht stockfinster und ein frischer Wind, in dem die Flammen herrlich hin und her flatterten. Und was glaubt Ihr, daß Euer "philiströser, stubenhockender Pflanzenmensch" (wie mein offizieller Titel lautet) dabei für eine Rolle spielte? - Ich sage Euch: eine Hauptrolle! (hört, hört!), und zwar vermöge eines einzigen, gescheuten Einfalles, der von meinen Herrn Kommilitonen als überaus geistreich und klassisch gepriesen wurde. Ich zog nämlich über Karls alten Rock meine - glanzkattunene Sezierkutte! - Da ich auch ein bischen Furcht vor Erkältung hatte, namentlich da meine Zähne wieder etwas unartig waren, so zog ich über meine dicken karierten Hosen noch Vaters alte inexpressibles; da aber diese viel kürzer waren, so ragten jene ein gut Stück drunter hervor. Nun denkt Euch dazu noch die große alte Mütze, die weißgrauen, klobigen Gummischuhe über den schwarzen Stiefeln, die Pelzhandschuhe, in der linken Hand die riesige Fackel, in der rechten den knotigen Stock, und das höchst gelungene, echt poetische Bild in dem romantisch klassischen Anzuge steht im roten Fackelglanze vor Euch. Dazu kommt nun noch der herrliche Rußüberzug, der schon nach den ersten Minuten, als die Fackeln angezündet waren, sich einstellte und mit dem Schweiß im Gesicht eine innige, Druckerschwärzen ähnliche Verbingung einging, so daß ich wirklich wie ein leibhaftiger Köhler oder Teufel oder sonst was aussah.

Der Effekt dieser gelungenen Figur ist kaum zu beschreiben. Die Kinder nahmen schreiend Reißaus, die Frauen und Jungfrauen bildeten, wo wir stehenblieben, einen förmlichen Zuschauerkreis unter Kichern und Staunen, trotzdem wir unsre Fackeln ihrem Gesicht möglichst näherten; die Männer blickten mir fast bedenklich nach, und meine Kommilitonen selbst bewunderten in mir den "wahren Jünger der Wissenschaft", den "Anatomen, wie er sein soll", und das alles machte die schöne Sezierkutte, deren einfarbiges Schwarz durch braune Blutflecken, kleine Fettklümpchen u. dgl. angenehm unterbrochen war. Natürlich fühlte sich auch der Geist, der in einer so reizenden Hülle steckte, entsprechend erhoben; ich schwang meine Fackel trotz Einem, und als wir nach fast zweistündigem Umzuge (von 8-3/4 10) auf dem Domplatze den Rest der Fackeln zusammenwarfen und einen tollen Hexentanz um diesen Scheiterhaufen ausführten, spielte meine anatomische Figur wieder die Hauptrolle. Dieser letzte Moment gehörte übrigens zu den schönsten. Zuerst wurde ein großer Ring gebildet und "gaudeamus igitur" gesungen, und dann flogen mit einen Male alle 150 Fackeln hoch, hoch in die Luft und beschrieben, wie Raketen, eine schöne Parabel, worauf sie in weitem Bogen niederfielen. Einige besonders Geschickte schleuderten die ihrige noch ein paarmal in die Höhe, und zwar mit einem solchen Schwunge, daß die Fackel während des Wurfs sich mehrere Male um ihre eigene Achse drehte, was einen prachtvollen Effekt machte . . .

Vor Virchows Haus standen wir fast eine Stunde. Es wurde eine Deputation, die in einer besonderen Kutsche fuhr, zu Virchow hineingeschickt, um ihm unsre Sympathien (die bei uns grade nicht sehr groß sind, obwohl ich seinen kalten, festen, fast starken Charakter sehr bewundre) auszudrücken; dann kam er selbst heraus und hielt eine ziemlich lange Rede, voll edlem Selbstgefühl und Eifer für die Wissenschaft, der er ganz angehöre! Ich hätte den Fackelzug lieber Kölliker gebracht! Als ich voll Übermut und Lustigkeit nach Hause kam, empfing mich meine gute Frau Wirtin gleich mit einem "Jesses Maria Juseph, wie schähe sa ausch (wie sehen Sie aus), Herr Doktor?" Ich sah auch wirklich allerliebst aus, namentlich im Gesicht, wo ein Stückchen Haut en profil gering vergrößert etwa wie beifolgende Figur aussah: wie an einem Magnet, der in Eisenfeilspänen gelegen hat, war die ganze Haut mit einem dichten Barte von schwarzen Fäserchen und Ruß überzogen, so daß ich mich selbst kaum kannte. Unseren vereinigten Bemühungen mit warmem Wasser, Butter und Bimssteinseife gelang es jedoch bald, diesen Überzug bis auf schwarze Ringe um die Augen und die Stirn, die noch ein paar Tage hielten, zu entfernen. Übrigens bekam mir die Geschichte vortrefflich; die Zahnschmerzen sind dadurch vollends vergangen und mein Sezierrock besitzt noch jetzt einen kräftigen Kienrußgeruch, der mir untem dem exquisiten Fleischgeruch beim Sezieren sehr wohl tut und mich immer an einen schönen märkischen Kiefernwald erinnert . . .

Um 11 Uhr ging ich noch eine Stunde lang auf die große Kneiperei, wo fast die gesamte medizinische Studentenschaft zusammen war (denn hier fehlten die Nichtfackeltragenden nicht!), und wo zugleich mit mir alle medizinischen Dozenten, Virchow selbst an der Spitze, eintraten. Anfangs war es recht nett; es ging sehr lustig her und wurde tüchtig musiziert und Burschenlieder gesungen. Bald fing aber die Sache an etwas gar zu toll und bunt zu werden, und selbst bei den Professoren stellten sich gelinge Begriffsverwirrungen ein. Kölliker, der immer der Gescheuteste ist, drückte sich deshalb nach einem Stündchen, und ich folgte seinem Beispiel. Die andern sind noch bis zum andern Morgen beisammengeblieben, bis sich zuletzt der ganze Wirrwarr in einem allgemeinen Katzenjammer aufgelöst hat. Virchow selbst ist nach 3 Uhr nach Hause gekommen; wie? weiß er wohl selbst am wenigsten! Die nächste Folge war, daß am nächsten Tag kein Kolleg gelesen wurde, außer bei Kölliker, wo nur 25 da waren. Virchow ist 8 Tage wegen "Grippe" zu Haus geblieben. Das ist das End vom Lied! - . . .

1000 Grüße E. H.

15. Würzburg, 21. 1. 1853.

Endlich, endlich ist heute früh Euer Brief angekommen. Habt schönen Dank dafür. Die traurige Ursache der Verzögerung aber, daß es unserer liebsten Tante Berta so schlecht geht, hat mich sehr, sehr betrübt. Da möchte man wirklich oft Gott fragen, wie er die beste Seele so unschuldig könne leiden lassen? Ja, da gibt es eine Menge Rätsel, über die wir nicht hinauskommen. Im bezug auf Deine religiösen Ansichten bin ich sonst ganz mit Dir, mein lieber Vater, einverstanden; nur ist mir vieles noch nicht so klar . . .

Nun adieu, habt noch herzlichen Dank für Eure beiden lieben Briefe und behaltet lieb Euren alten Jungen

E. H.

16. Würzburng, 30. 1. 1853.

Liebe Eltern!

Eure Geldsendung, die ich gestern erhalten habe, kam mir ebenso überraschend und unerwartet, als sie im Grunde unnötig ist. Der Umstand nämlich, daß ich Euch gleich im ersten Monat meines Hierseins fast an 100 Taler gekostet habe, hat mir einen solchen Schrecken eingejagt, daß ich mir vorgenommen habe, in den drei übrigen nur 50 zu kosten. Ich habe nämlich ein paar Kameraden gesprochen, die mir versicherten, mit 150 Taler per Semester bequem auszukommen; und ich sehe gar nicht ein, warum ich es besser haben soll als andere, namentlich, wenn ich dabei an meine Halleschen Freunde denke, die noch nicht 50 Taler brauchen. Zu diesem Zwecke habe ich nun verschiedene Reduktionen vorgenommen und durchgeführt in meinem état! -

Abends gehe ich höchstens einmal die Woche aus, und esse zu Hause für 2 Kreuzer Brot und dazu das delikate Pflaumenmus und die treffliche Wurst, die Du, liebe Mutter, mir zu Weihnachten geschickt. Trotzdem ich von letztern beiden Viktualien seit Neujahr fast jeden Abend gelebt, sind sie doch erst zu drei Vierteln vertilgt. Zu Mittag esse ich auch nicht mehr für 21 Kr., sondern für 15 Kr. Dieser edle Mittagstisch erinnert mich immer an den, von dem Papa oder Großpapa während ihrer Studentenzeit in Halle erzählten; in manchen Stücken übertrifft er sie wohl noch. Das beste ist noch, daß man eine tüchtige Portion Suppe bekommt, die ihr mir ja zum besondern Studium empfohlen habt, und die auch leidlich gut ist; dafür ist nachher das Rindfleisch, aus dem sie gekocht wurde, desto trockner, der reine Faserstoff! Die Delikatesse des Sonntagsbratens zu beschreiben, ist meine Feder zu schwach; nur das will ich erwähnen, daß er stets aus einem Stück "Hasenrippchen" besteht, das in allen möglichen Regenbogenfarben opalisiert und an dem selbst ein Schiecksches Mikroskop kein Fetttröpfchen nachweisen könnte. Das Gemüse dazu besteht aus angesäuertem Kohl (NB. an dem einige Mediziner immer den spezifischen Geruch der Hippursäure erkennen wollen!) der einem namentlich behagt, wenn man vorher 2 Stunden Eingeweidelehre bei Kölliker gehört und selbst seziert hat. Übrigens muß ich doch diesem trefflichen Tische auch seine wahren Verdienste anerkennen und gebührend würdigen, dazu vor allem, daß er Euer verwöhntes Leckermaul in einen "Allesdurchesser" verwandelt hat, über den Ihr Euch freuen werdet (nur saure Niere und Buttermilchsuppe sind noch ausgeschlossen!) und er das Motto "Hunger ist der beste Koch" bewahrheitet. Zweitens dient er aber auch wesentlich dazu, meine hoffende Freude auf Ostern zu vermehren. Jedesmal, wenn ein saurer Bissen nur mit Widerwillen herunter will, denke ich: "Habe nur Geduld, lieber Magen, wie trefflich wird dann Mamas Küche zu Ostern schmecken!", und dann träume ich mich so in diese Schlaraffenzukunft hinein, daß ich mit der Portion, wenn mein Verdauungsapparat sich auch noch so sehr dagegen sträubt, im Umsehn fertig bin. Endlich werden diese Tafelfreuden auch noch durch ein in demselben Saal speisendes Studentenkorps, die Rhenania, erhöht, welches alle unangenehmen Eindrücke durch ein überlautes Schreien, Toben Brüllen, Singen usw. übertäubt, das seinesgleichen sucht. Uns andere Studenten ("Kamele"), die nebenan am Trompetertische sitzen, ignorieren sie völlig und strafen uns mit ihrer Geringschätzung, was uns ganz lieb ist. Übrigens geben sie uns auch viel zu lachen durch ihre barocken und komischen Streiche. U. a. haben sie den gesamten Hühnerhof des Wirts so abgerichtet, daß dieser während des Essens zum Fenster über das Dach hereinkömmt und sich selbst sein Teil holt, wobei es köstliche Szenen gibt. -

Endlich fühle ich auch wirklich, daß mir diese magere Kost recht gut bekömmt, und daß ich eigentlich gar nicht zu meinem Vorteil verwöhnt bin. Außerdem habe ich auch noch andere kleine Ersparnisse eingeführt (z. B. seit Weihnachten keinen Tropfen Wein getrunken usw.), so daß ich wirklich hoffe, mit den 50 Talern, die Ihr mir Anfang darüber geschickt habt, auszukommen; indes würde ich zur Reise Ostern doch noch Geld gebraucht haben und dazu kann des jetzt überschickte noch verwandt werden; habt also den besten, herzlichsten Dank dafür! . . .

Dir, lieber Vater, noch meinen besonderen Dank für Dein Referat über Sydows Unionsverträge. Ich bin im ganzen ganz mit diesen Ansichten einverstanden; jedoch habe ich mir ein Bild von der Persönlichkeit Christi entworfen, das doch gewissermaßen noch göttlicher ist, indem ich mir ihn eher als das Wesen Gottes, in menschliche Hülle eingekleidet, damit der uns dadurch zugänglicher werde, denke. Indes glaube ich, daß uns dies hier noch ein Rätsel ist, was erst jenseits gelöst wird, und lege auch deshalb kein Gewicht auf die verschiedenen kleinen Unterschiede und Differenzen, welche sich bei den wahren Christen hinsichtlich der Ansichten über die Person Christi finden; im Grund haben doch kaum zwei Ansichten ganz dieselbe Vorstellung davon; sie wird sich immer nach der Individualität modifizieren . . .

Tausend Dank und Grüße von Eurem alten

Ernst H.

17. Würzburg, 8. 2. 1853.

Dienstag: Fastnacht!

Liebe Eltern!

. . . Hier ist seit 8 Tagn so ein toller Trubel, daß man (d. h. die andern Leute) gar nicht zur Besinnung kommt. Bei uns in Norddeutschland hat man wirklich gar keine Idee, was so eine schöne Faschings- und Fastenzeit zu bedeuten hat. Seit Weihnachten ist hier wenigstens jeden dritten Tag ein Ball gewesen und namentlich in den letzten Wochen waren die meisten meiner Herren Kommilitonen büchstäblich fast jeden Tag mit einem Ball oder einer großen Kneiperei beschäftigt, so daß sie in der letzten Zeit ordentlich zu jammern anfingen und meinten: "Solche Strapazen könnten doch auch den stärksten Helden auf den Hund bringen". Dienstags war wöchentlich beim Regierungspräsidenten Soiree, Mittwochs im Theater, Donnerstag wieder wo anders, Sonnabends auf er Harmonie usw. usw. Die Krone aller dieser Geschichten sind aber die sogenännten "Bevölkerungsbälle", welche unter diesem höchst zweideutigen Namen, den sie leider nur mit zu viel Recht führen, sowohl in den niedrigsten als in den höchsten Kreisen bekannt sind. Es sind dies Maskenbälle, welche in dem größten Lokale der Stadt stattfinden, und deren männliches Personal außer einigen Ladenbengels und Referendaren usw. hauptsächlich vom größten Teil der Studentenschaft (über 400!) gebildet wird, über deren weibliches Personal sich aber nichts weiter sagen läßt, als daß das Nobelste davon Köchinnen, Dienstmädchen usw. sind. Wie toll es hier zugehen muß, konnte ich daraus entnehmen, daß meine sorgsame Wirtin mit wahrhaft mütterlicher Ängstlichkeit und Sorglichkeit mich warnte und bat, doch um keinen Preis dahin zu gehen. Mich tangieren natürlich alle diese Geschichten gar nicht, ebensowenig als alle andern Soireen und Bälle, Saufereien, Mummereien usw., die jetzt an der Tagesordnung sind. Jedoch habe ich mich heute sehr über einen Maskenzug amüsiert, der von einem Studentenkorps, der Bavaria, arrangiert und wirklich ausgezeichnet gut ausgedacht war. Die Kerle, lauter hübsche, stämmige Burschen, dem Äußern nach in der ganzen Stadt bekannt, sahen in ihren Vermummungen wirklich äußerst possierlich und barock aus. Den Vortrab bildeten mehrere als Narren und Bajazzos Verkleidete, welche mit ihren Fächern und Narrenkappen tüchtig und zum allgemeinen Jubel das Volk durchpeitschten, welches alle Straßen bis zum Ersticken gedrängt erfüllte, und so dem eigentlichen Zuge Platz machten. Dieser bestand zunächst aus vier ganz kostbaren Musikanten, von denen zwei als Zithermädchen eine höchst anmutige Rolle spielten, und die eine wahrhaft herz- und ohrenzerreißende Katzenmusik aufführten. Diesen folgte ein als Stiefelfuchs Verkleideter, welcher den Leuten tüchtig mit der Wichsbürste im Gesichte herumfuhr, und auf diesen kam der Held des Tages, Don Quichotte, wortgetreu nach Cervantes ausstaffiert und auf einer Rosinante, die ihresgleichen suchte, sitzend, gefolgt von einem ebenso getreu konterfeiten Sancho Pansa, auf einem Esel sitzend, und endlich einer gleichfalls auf so einem Grauschimmel reitenden Dulzinea. Dies zarte Frauenzimmer wurde von dem stärksten und vierschrötigsten Burschen des ganze Korps dargestellt, dessen Gesicht Kreuz- und Querhiebe von allen Gattungen aufzuweisen hatte, und dessen 6 1/2 Fuß langer Kadaver bis auf die Erde herabreichte. Sodann folgten mehere Notabilitäten der Stadt, namentlich der kürzlich wegen der Offiziersgeschichte abgesetzte Universitätspolizeidirektor, welche ganz köstlich naturgetreu nachgeahmt waren. Sodann folgte der zweite Akt: wie Don Quichotte verwundet ist und von zwei Dirnen seines Dorfes nach Hause geschafft wird: auch diesen Don Quichotte, der in einem Bette, mit einem Lutschbeutel im Munde, von zwei derben, nach der hiesigen komischen Landestracht der Bauernmädchen ausgeputzten Burschen auf einer Karre gezogen wurde, war ganz vortrefflich. Es folgte nun noch eine Masse anderer, nicht minder köstlicher und hochkomischer Gruppen, unter denen sich namentlich der Gott des Bieres, zusammen mit der Bierkönigin und einem besoffenen Trunkenbold auf einem großen Fasse reitend, sehr gut ausnahmen. Das Faß wurde von zwei alten Gäulen gezogen, dabei aber fortwährend abgezapft und dabei das Bier entweder gleich hinuntergestürzt oder den Leuten über die Köpfe gegossen. Zuletzt folgte noch ein Wagen, in dem eine kostbar ausstaffierte, wirklich prächtig ausstaffierte und persiflierte Familie reisender Engländer und Engländerinnen saß: auf dem Bocke der eigentliche Stifefelfuchs der Bavaria, höchst naturgetreu einen Pavian vorstellend, und hinten drauf ein ganz schwarzer Teufel mit einem langen Schwanz und einer Mistgabel, mit welchem Instrumente er tüchtig die hinten nachfolgende Menge traktierte und so den Zug schloß. Mit welchem Jubel und wahrhaft betäubenden Wonnegeschrei übrigens der ganze Zug von der gesamten Bevölkerung begleitet wurde, ist kaum zu beschreiben. Da sah ich zum einmal recht den süddeutchen, schon recht eigentlich an den Süden erinnernden Volkscharakter. Noch jetzt tönt selbst bis zu meiner stillen Klause ein Toben und Lärmen, das gar nicht endet und wohl diese ganze Nacht nicht enden wird. Morgen ist dann aber dafür Aschermittwoch. Da gehen, wie mir meine fromme Wirtin erzählt, alle Leute in die Kirche und lassen sich Asche aufs Haupt streuen und vom Geistlichen auf alle Weise heruntermachen und malträtieren, um dadurch ihre Frömmigkeit zu beweisen! Das ist überhaupt hier eine schöne Frömmigkeit! Hauptsächlich besteht sie darin, daß zu jeder Viertelstunde fast 5 Minuten lang alle Glocken geläutet werden, so daß einem oft vor lauter Bimmeln Hören und Sehen vergeht und man meint, die Leute hätten nichts anderes zu tun als Glocken zu ziehen. Solche Frömmigkeit ist aber den Pfaffen gerade recht und die suchen sie auf alle Weise zu fördern. So bekam ich hier jetzt öfter den "Münchner Volksboten" in die Hand, das eigentliche Organ der Hierarchie Bayerns, in welchem alle Sachen so jesuitisch verdreht und aus schwarz weiß und aus weiß schwarz gemacht wird, daß ich mich ganz scheußlich ärgere und das Ding oft zerreißen möchte. So stand z. B. letzthin drin: "Es wäre für jeden Christen eine wahre Gottesfreude, zu sehen, wie auch das preußische Königshaus sich immer mehr von der ketzerischen zu der allein wahren Religion bekehre; dies sehe man schon daraus, daß die ganze Umgebung des Prinzen und der Prinzessin von Preußen sowie auch der künftige König selbst in Koblenz eifrige Zuhörer und warme Bewunderer der Jesuiten seien!!!" Als ob man diese Teufelsbrut nicht hören könne, ohne ihre Anhänger und Jünger zu sein!! In dieser Weise wird alles verdreht und die Pointe von allem ist immer, daß auf alle Weise zum Kriege und Hasse gegen die norddeutschen Ketzer (Protestant und radikaler Rationalist ist ihnen dasselbe!) angefeuert wird. Das Schlimmste dabei ist, daß dieses Schandblatt durch eine eigentümliche populare Handhabung des Tons und der Tatsachen ein sehr weit verbreitetes Ansehen und Anhang sich verschafft hat. Übrigens sollen die "heiligen patres et fratres Jesu" nächstens auch hier ihr Wesen treiben wollen; natürlich auch hier mit großem Erfolge! . . .

Schenk, der selbst Katholik ist, dem aber der Unsinn und die Nichtswürdigkeit des katholischen Pfaffentums höchst zuwider ist und der so gleichsam notgedrungen Rationalist ist (was er gewiß nicht sein würde, wenn er Protestant wäre), hat einen ganz vortrefflichen Ausdruck für ihr Treiben gefunden, wie es überhaupt wahrhaft ergötzlich ist, ihn über das hiesige Pfaffentum räsonnieren zu hören. (So fragt er mich z. B. oft: "Nun Herr Haeckel, der Sie aus dem gottlosen ketzerischen Norddeutschland kommen, haben Sie hier noch nicht die wahre Frömmigkeit gelernt?!") Als ich nämlich Mittwoch früh bei ihm war, kam eine große Prozession mit Fackeln vorbei (Mariä Lichtmeß!), in deren Mitte der Bischof oder, was er sonst ist, ein dicker, feister, wohlgenährter, in Gold und Silber gekleideter Pfaffe ging, über den vier Chorknaben einen großen samtenen Baldachin trugen. Als ich von ferne das Bimmeln und Singen hörte, fragte ich, was das wäre, worauf Schenk ganz trocken antwortete: Ach, da kommt wieder einmal der Bonze! (ganz kostbar gewählter und trefflich bezeichnender Ausdruck!)

Ich selbst habe in dieser Woche einmal wieder zwei recht glückliche Pflanzentage gehabt, Mittwoch und Sonntag, wo ich von früh 9 Uhr bis abends 9 Uhr in nichts andrem als in Pflanzen gelebt habe. Ich habe nämlich, mit Steudner, Schenk die Dubletten seines Herbariums (namentlich sehr schöne monokotyledone Pflanzen von seiner letzten walachisch- siebenbürgischen Reise) aussuchen und verpacken helfen, wobei für uns auch mancher gute Brocken mit abgefallen ist. Die Flora ist hier selbst auch sehr schön; wie soll das aber im Sommer werden, wenn ich nicht laufen kann?! - . . .

Schenk erzählt mir jetzt im Kurs auch immer viel von den Montenegrinern, für die er sich sehr interessiert, da er durch ihr Ländchen gekommen ist. Es ist noch ein recht kräftiges und kerniges Gebirgsvolk griechischer Religion. Er meint, daß die Geschichte zu einem allgemeinen europäischen Kriege führen könne, und daß die sehr verhaßten, nichtswürdigen Türken dabei zugrunde gehen würden. Übrigens habe ich auch aus Berghaus gesehen, daß die Zahl der türkischen Kolonien in der Türkei und Griechenland äußerst gering ist, und daß sie eigentlich lediglich auf die größeren Militärstationen beschränkt sind. Wenn Österreich nur wollte (meint Schenk), so würde in einem Tage die ganze Walachei und Moldau und in einer Woche die ganze Türkei in seinen Händen sein - vorausgesetzt, daß Rußland (welches die Montenegriner unterstützt) damit einverstanden wäre, und daß Frankreich nicht für die Türken einen Rückhalt böte. Das letztere, was jetzt wirklich geschehen soll, ist übrigens eine höchst interessante Tatsache, die sich in der Geschichte oft wiederholt hat. Man braucht nur an Franz I. von Frankreich zu denken, welche die Türken gegen Karl V. unterstützte . . .

18. Würzburg, den 17. 2. 1853.

Innigstgeliebte Eltern!

Habt vor allen den herzlichsten, besten Dank für Eure Liebe, die mir stets eine Stütze und Ermunterung auf meinem Lebenswege ist, und mit der Ihr mich gestern wieder so erfreut habt. Die Beweise Deiner mütterlichen Fürsorge, liebste Mama, überraschten mich um so mehr, als ich durchaus nichts erwartet hatte und ordentlich erschrak, wie das Paket ankam. Ich erhielt es grade gestern früh, als ich zwischen zwei Kollegien anch Hause eilte, in der festen Erwartung, Briefe von Euch zu finden. Die Ausstattung meiner Speisekammer kommt mir trefflich zustatten, indem sie jetzt grade sehr auf den Hund gekommen war und nur noch aus einem Stückchen Weihnachtswurst von 3 Zentimeter Länge bestand. Das schöne Pflaumenmus sowie auch das letzte Stückchen Pfefferkuchen von Weihnachten war erst vorgestern alle geworden, nachdem es mir die trefflichsten Dienste geleistet hatte . . .

Meinen Geburtstag habe ich übrigens so still für mich verlebt wie alle andern Tage; es wußte auch keiner meiner Bekannten, sonst hätte ich wahrscheinlich kneipen müssen. Meine gute Wirtin, die sich gestern vergeblich den Kopf zerbrach, als sie die Anstalten sah, die ich traf (ich hatte nämlich meine Stube sehr hübsch aufgeräumt, meinen guten Rock, den ich sonst nur des Sonntags trage, angezogen, auch einem den grauen Hut aufgesetzt usw.), erriet es erst heute früh, daß mein Geburtstag gewesen war, als ich ihr die schönen Geschenke zeigte, die ich erhalten hatte. Sie war ordentlich ungehalten, daß ich es ihr nicht gesagt hatte und sagte, sie müßte ihn nun noch nachfeiern; hätte sie das gewußt, so hätte sie "Krumpiern in der Schole" (Grundbirnen, Kartoffeln) gekocht, was sie als mein Lieblingsgericht kennt. Es ist überhaupt eine seelensgute Frau, die wahrhaft mütterlich für mich sorgt . . .

Von Finsterbusch erhielt ich heute früh einen sehr herzlichen Brief, ebenso heute nachmittag von Weber, Weiß und Hetzer. Weiß schreibt mir nur ganz kurz; er ist sehr betrübt über den Tod seines Onkels. Was Du mir über Leben und Charakter des letzteren schreibst, lieber Vater, ist vollkommen richtig. Ich finde alle diese Seiten im kleinen in seinem Neffen, meinem Freunde wieder. Auch bei ihm liegt unter einer starren und oft abstoßenden Hülle ein sehr gutes und liebes Herz und ein ebenso streng sittlicher Charakter verborgen. Es ist dies wirklich, als wäre es in der Familie so erblich. Weber hofft noch immer, im Sommer mit mir nach Jena zu gehen; jedoch muß ich gestehen, daß ich für Herrn Schleiden, obwohl er ein tüchtiges Genie und ganz eigentümlich ist, doch nicht so blind begeistert bin wie früher; er ist doch schrecklich einseitig, absprechend und vor allem sehr negativ. Dagegen hätte ich unter Umständen nicht übel Lust, doch noch den Sommer hier totzuschlagen und den klassischen mikroskopischen Kurs bei Kölliker hier durchzumachen, namentlich wenn ich Assistent bei Schenk würde, was sehr leicht möglich ist, und was er mir nächstens wohl anbieten wird. Jedoch werde ich dies wegen meines Fußes nicht annehmen können . . .

Hier fällt nicht viel Neues vor, außer daß täglich im Durchschnitt 1/2 Dutzend Duelle vorkommen, die jedoch meistens ziemlich unblutig enden. Meistens gehen diese Paukereien von den verschiedenen Korps aus; das schlimmste dabei ist, daß sie viel schöne Zeit und Geld kosten und nichts als zerfetzte Gesichter einbringen. Vorige Woche haben auch zwei meiner Bekannten, sehr nette Leute, kurz nacheinander ein Duell mit einem und demselben unverschämten Judenjungen aus Frankfurt/Main, einem ekelhaften, frechen Menschen, gehabt und ihm dabei sein Judengesicht tüchtig verhauen, ohne selbst etwas abzukriegen. Der Jude hat übrigens schon wieder kontrahiert. Zum großen Teil mag dieser edle Paukereifer auch nur Opposition gegen die ungeheure, wahrhaft schauderhafte Frömmigkeit sein, die sich hier jetzt überall breitmacht und alle Straßen erfüllt. Seit vorigen Sonntag predigt hier nämlich eine "Mission der heiligen Väter", bestehend aus sechs Mann societatis Jesu, worunter sich auch der künftige General der Jesuiten, ein höchst beredter, schlauer und kenntnisreicher Fuchs, der in sieben Sprachen predigt, befindet. Der Zudrang ist so ungeheuer zu diesen Jesuitenpredigten, daß die beiden größten von den unzähligen Kirchen der Stadt, in denen sie predigen, den ganzen Tag buchstäblich nicht leer werden, während die andern Kirchen ganz verwaist sind. Schon stundenlang vorher, ehe die Predigt angeht, ist der ungeheure Dom so gefüllt, daß die Leute bis auf die Straße hinaus stehen. Vom Lande werden die einzelnen Gemeinden förmlich durch bischöfliche Sendschreiben hereinkommandiert und müssen nolens volens wenigstens drei Predigten hören. Da ist denn das ganze Nest so überfüllt, daß ein ewiges Gesumme und Gebrumme der zahllosen Menschen, die meilenweit hergekommen, die Straßen den ganzen Tag erfüllt und belegt. Das beste sind dabei die wirlich äußerst eigentümlichen und barocken Volkstrachten aus den verschiedenen Kreisen und Distrikten, die man so zu sehen bekommt. Namentlich zeichnen sich die Bauernweiber, deren Tracht an die der Altenburgerinnen erinnert, durch eine fabelhafte Geschmacklosigkeit und grelle Buntheit des Putzes aus, mit dem sie überladen sind und paradieren. Namentlich Rot und Gelb ist überall in den schauerlichsten Kombinationen. Die Jesuiten predigen täglich wenigstens sechsmal, und viele Leute kommen den ganzen Tag nicht aus der Kirche. Auch halten sie besondere Standespredigten, z. B. für Kinder, Gymnasiasten, Handwerker, Eheleute; nächstens wird auch eine für Studenten kommen, auf die ich sehr gespannt bin. Ich habe gleich am Sonntag abend die dritte gehört, die sie hielten. Der Prediger war ein junger, hübscher Mann, der mit viel Beredsamkeit, Feuer und Ausdruck sprach; namentlich interessierte mich sehr die eigentümliche Logik, welche das Gerüste der ganzen Predigt ausmachte. Zuerst erklärte er als "gut" das, was seinem Zweck entspreche. Der Mensch sei von Gott bestimmt, gut zu sein, und darauf wolle die Mission hinarbeiten, den Menschen zu dieser seiner Bestimmung hinzuführen. Dann kam er auf Gott zu sprechen, suchte dessen Existenz und Wesen nachzuweisen und stellte seine Gnade und Güte mit unserer Sünde in Gegensatz, wobei er zuletzt ganz in Feuer kam und zur Buße in den heftigsten Ausdrücken ermahnte. Obgleich ein gründliches und geistreiches Studium der Philosophie und namentlich der Logik in der ganzen Durchführung nicht zu verkennen war, so fehlten doch auch zahlreiche Sprünge und Trugschlüsse nicht. Im ganzen konnte ich gegen die Predigt auch nicht das geringste sagen; obwohl ich sehr aufpaßte und mir alle Mühe gab, etwas Anstößiges zu finden. Dafür war es aber auch eine der ersten, in denen sie die schlaue Politik verfolgen, erst ganz allgemein allen plausible Sachen vorzutragen und erst allmählich immer weiter und spezieller in ihre Lehre eingehen. So habe ich schon jetzt gehört, daß sie wirklich arges Zeug vorbringen sollen. So eifern sie gegen die Naturforschung (und alle andere Aufklärung natürlich auch) und sollen namentlich mit dem höllischen Feuer immer bei der Hand sein. So soll gestern einer ihrer die Hölle als einen achteckigen Pfuhl dargestellt haben, wo aus allen Ecken und Enden höllische Qual und Spuk hervorkämen, und dies ganz genau ausgemalt haben. Dann hat er auf einmal geschrien, er wüßte es wohl, es wären unter seinen Zuhörern und Zuhörerinen, welche zu den ärgsten Teufeln gehörten. Da ist denn allgemeines Schluchzen und Seufzen unter den zahllosen Weibspersonen ausgebrochen, weil jede geglaubt hat, sie sei es. -

Am meisten Vorteil verspricht sich von der ganzen Geschichte die psychiatrische Klinik, und da die heiligen Väter 14 Tage so fortwirken werden, und es je länger, je ärger machen, so ist allerdings alle Aussicht vorhanden, daß sich die Irrenabteilung des Hospitals ansehnlich bereichern wird.

Die Predigt, die ich hörte, war übrigens für den Plebs, welche doch die Hauptmasse bildete (obgleich alle Stände äußerst zahlreich vertreten sind) viel zu hoch, in viel zu philosophischer Weise und Ausdruck abgefaßt, enthielt schon viel zu viel unverständliche Fremdwörter, als daß sie nur halb hätte verstanden werden können. Grade hierin liegt aber auch zum Teil der Effekt, indem der Pöbel die erhabne Sprache, die er nicht versteht, bewundert, sich durch rhetorische Kusntgriffe und vor allem durch die äußerst lebhafte, fast theatralische Aktion hinreißen läßt. Nächsten Sonntag werden hier überall Missionskreuze errichtet werden, worauf ich auch sehr neugierig bin. Mit dem Hauptthema jener Predigt, worin er die Existenz Gottes mathematisch zu beweisen suchte, war ich übrigens eigentlich nicht einverstanden, indem ich hier ganz dieselbe Überzeugung habe, die Du, lieber Vater, mir auch aussprichst, daß sich dies eben nicht mit unserem beschränkten menschlichen Verstande begreifen läßt, sondern daß dazu unbedingt der Glaube gehört. In dieser Beziehung hörte ich auch am Sonntag eine sehr schöne Predigt von dem protestantischen Kirchenrate; der Text war: "Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden usw." So habe ich mir denn auch an meinem Geburtstag recht fest vorgenommen, immer mehr den neuen Menschen anzuziehen und im Glauben zu wachsen und zuzunehmen. Die äußere Feier meines Geburtstages habe ich diesmal für mich allein in aller Stille abgemacht. Sie bestand allein darin, daß ich zu Mittag mich einmal ordentlich und gut satt aß und dazu einen Schoppen Wein (den ersten in diesem Jahre und wahrscheinlich auch den letzten, wenigstens hier) trank. Nachmittags machte ich mit Schenk und Steudner bei dem herrlichsten, klarsten Wetter eine Exkursion oder vielmehr einen Spaziergang, da die Phanerogamen noch gar nicht blüten und nur hie und da eine zarte Moosblüte unter dem Schnee hervorguckte. Als wir an dem eigentlichen Ziele, dem 3/4 Stunden entfernten Guttenberger Wald (hier dem nächsten!), angelangt waren, mußte ich jedoch wieder allein umkehren, da es mir zu weit wurde und mich namentlich das Bergsteigen etwas anstrengte. Übrigens ist mir der Spaziergang, wie überhaupt nach dem vielen Stubensitzen, so auch meinem Knie ganz gut bekommen. Abends schwelgte ich einmal wieder in Poesie und Berghaus und habe wieder einmal eines meiner Lieblingsgedichte: "Herrmann und Dorothea" gelesen. Dann schrieb ich noch spät an Tante Berta und habe dann Gott noch recht innig gedankt, daß er mich mit so lieben, guten Eltern, Verwandten und Freunden beschenkt hat . . .

Es umarmt Euch mit der innigsten Liebe

Euer alter Ernst H.

19. Würzburg, 27. 2. 1953

Sonntag abend.

Liebste Eltern!

Nachdem ich heute buchstäblich den ganzen Tag kaum vom Stuhl aufgestanden und nicht einmal zum Essen gegangen bin, weil ich bei Kölliker fast noch von der ganzen Woche Anatomie nachzuzeichnen hatte, soll es heute abend mein Sonntagsvergnügen sein, mit Euch ein bißchen zu plaudern, was mir doch immer die größte Freude ist. Viel wird's zwar nicht werden, weil mein Postpapier alle ist und der Brief sonst auf diesem dicken Papier zu schwer würde. Heute abend vor 8 Tagen war ich bei Professor Schenk; es war nur noch Steudner da. Anfangs amüsierten wir uns sehr gut, sprachen nur noch von Pflanzen und andern botanicis, schimpften auch über die Jesuiten usw. Allmählich kam aber ganz unversehens die Rede auf die Politik; und da hätte ich vor allem Dich, lieber Papa, herbeigewünscht, du hättest Deine Freude an Deinem Jungen erlebt! Ich hätte wirklich in meinem Leben nicht gedacht, daß solche patriotischen Talente in mir schlummerten! Schenk ist nämlich, so liebenswürdig und gescheut er sonst ist, in politischer Hinsicht gänzlich vernagelt; er vertritt vollkommen die absolutistische und undeutsche Richtung des österreichischen Kabinetts und behauptet, zu dieser Ansicht durch seine Reisen in den österreichischen Staaten gekommen zu sein. Natürlich war nun das erste, daß ein ganz fürchterliches Schimpfen auf Preußen los ging, auf sein perfides Benehmen gegen Deutschland, wie anno 1805, so auch jetzt; denn solche Redensarten, als z. B.: "der Olmützer Vertrag ist die einzige kluge und ehrenvolle Tat Preußens; natürlich auch Manteufel der einzige gute Minister, von dem noch zu hoffen ist, daß er etwas für Deutschland tut! Preußen hat von jeher nichts gewollt, als Deutschland zu unterdrücken; es hat mit der Revolution kokettiert; wenn das einig werden soll, so ist das erste, daß Preußen eine österreichische Provinz wird, so gut wie Ungarn, Siebenbürgen und die andern slavischen Staaten, welche alle in den Deutschen Bund aufgenommen werden müßten!! Österreich hat von jeder eine viel zu nachsichtige und milde, gutmütige und offne Politik gehabt; es hätte viel energischer und schlauer auftreten müssen! - Ferner: die Rheinlande seien ursprünglich bayrisches Eigentum und von den ländergierigen ungerechten Preußen halb mit Gewalt an sich gerissen! (Schenk ist selbst in Kleve geboren, wie er behauptet, als es noch bayrisch war, nebst dem Großherzogtum Berg usw.) und was dergleichen Unsinn mehr ist. Steudner und ich blieben natürlich keine Antwort schuldig, wir zankten uns tüchtig herum, rückten Bayern und Österreich alle seine Sünden vor, und ich fing zuletzt mit einer Hitze und Galle an zu räsonnieren, die meinem lieben, urpatriotischen Papa alle Ehre gemacht hätte. Zuletzt kam es soweit, daß ich aufsprang, mir die Ohren zuhielt und laut ein paarmal in der Stube auf und ab trappte, worüber die gute Frau Professorin höchlichst erschrak und mich gütlich zu beruhigen suchte; sie schlug sich zuletzt ins Mittel, verbot alle Politik und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema, wobei es aber fast wieder zum Zank gekommen wäre; es wurden nämlich die Vorzüge Nord- und Süddeutschlands abgehandelt, und daß wir da natürlich unser nordisches Vaterland nicht im Stich ließen, könnte Ihr denken. Nachher plauderten wir aber noch recht nett und vergnügt bis gegen 1 Uhr. Als ich wegging, sagte ich noch Schenk, daß ich mich nun damit trösten könnte, daß die Botaniker, wie alle Naturwissenschaftler, je tüchtiger in ihrem Fach, deste erbärmlichere Politiker wären, worüber er sehr lachte und es zurückzuschieben versuchte, indem er den Satz auf mich anwenden wollte. Daß er mir übrigens meine norddeutschen Grobheiten nicht übelgenommen hat, kann ich daraus schließen, daß er mich am folgenden Tag sehr freundlich mit allerliebsten Moosen (Dubletten seines Herbariums) beschenkte, um meinen preußischen Patriotenzorn zu besänftigen, und noch zuletzt sagte: "Ich würde aber an ihrer Stelle die Moose nicht nehmen, sie kommen ja aus dem schlechten Bayern!" - Gestern hat er mir auch prachtvolle, ganz herrliche Pflanzen gezeigt, die der Botaniker Preiß in Neuholland gesammelt hatte. Die Dinger tragen alle einen höchst eigentümlichen Charakter, der ganz dem sonderbaren, wüsten, südlichen Charakter des Landes entspricht. Ein frisches Grün sucht man vergebens, alles ist graugrün oder ganz grau und meist mit langen, zottigen Haaren bedeckt, die Form ist aber ganz eigentümlich und barock. Die Blüten sind meist höchst intensiv und ganz prachtvoll gefärbt; der Charakter der ganzen Pflanze ist höchst gedrungen, stämmig und trocken (z. B. die ganz charakteristischen Proteazeen), überhaupt sind es meistens Pflanzen, die die Landschaft zu verschönern gar nicht geeignet, für sich aber prächtig sind. Ja, wenn man einmal da botanisieren könnte. - . . .

In den Kollegien ist jetzt hier schon die schöne Endzeit eingetreten, wo nach Möglichkeit gejagt und unmöglich alles eingeholt wird, was bei gehöriger Zeiteinteilung längst hätte abgemacht werden sollen. Kölliker hat seine Stunde verdoppelt und geht dabei so rasch, daß einem die Finger beim Nachschreiben lahm werden; so hat er z. B. jetzt die gesamte Gefäßlehre in 14 Tagen durchgenommen, so daß ich mit dem Ausarbeiten meines Heftes (das wirklich ein illustriertes Prachtwerk wird) gar nicht mehr nachkommen kann. Übrigens bleibt es immer noch höchst interessant. -

Heute haben hier zum letzten Male die Jesuiten gepredigt, und zwar unter einem solchen allgemeinen Schluchzen, Seufzen, in Ohnmacht fallen, Blumenstreuen, Kränzewinden usw., daß sie kaum ihr eignes Wort haben verstehen können. Schon stundenlang vorher ist der große Dom ganz überfüllt gewesen; das "Gedrängele" soll schrecklich gewesen sein. Gestern abend habe ich auch einen "Vater der Mission" noch einmal predigen hören, und zwar über einen sehr interessanten Punkt, nämlich die Heiligenverehrung in der katholischen Kirche; ich bin übrigens dadurch nichts weniger als damit ausgesöhnt worden. Das Haupträsonnement war ungefähr folgendes: Es gibt zwei Arten von Verehrung: eine bedingte und eine unbedingte. Letztere erweisen wir z. B. dem Könige, erstere sind wir seinen Freunden, Verwandten und Dienern schuldig. Ebenso ist es mit Gott, den wir allein absolut verehren sollen. Ebenso müssen wir aber auch relativ seine besten Freunde, welches eben die Heiligen sind, und vor allem die Mutter Gottes, Maria, die wirkliche Jungfrau und doch unser aller Mutter, verehren. -

Hieran schloß sich eine Parallele zwischen Eva und Maria (wonach jene das Vorbild, diese das vollendete und verwirklichte Ideal derselben sei) und dann eine weitläufige Auseinandersetzung des Marienkultus, wie man ihn treiben müsse, wie notwendig und heilsam derselbe sei, wie sie durch ihre Fürsprache alles bei Gott vermöge, und wie sie allein ganz uns in unserem Tun und Leben begleite, schütze, zur Reue und Besserung führe usw.

Ein Hauptmoment bildeten dabei rührende Bilder; z. B. wurde das Leiden Mariä ausgemalt, wie sie ihren einzigen Sohn Christus ermordet und doch schuldlos in ihren Armen halte, dann ihre Reinheit, Unbeflecktheit usw., wodurch viele wirklich zu Tränen gerührt wurden. Ich muß gestehen, daß ich mich jetzt noch weniger als vorher mit dem Marienkultus und dem Heiligendienst überhaupt befreunden kann. Einen sehr unangenehmen Eindruck machte auch ein gleichzeitiges Geplapper von mehreren tausend Stimmen, das grade im besten Gange war, als ich zur Kirche hereintrat; es ging ohne allen Ausdruck, wie Trommelschlag nach dem Takt, und war der sinnlose Lippendienst in seiner nackten Gestalt. Man wurde wirklich lebhaft an eine Judenschule erinnert oder auch an eine Klippschule, wo die Kinder buchstabieren lernen . . .

Mein Hauptgedanke ist aber jetzt im Schlafen wie im Wachen unser baldiges Wiedersehen, worauf sich herzlich freut Euer alter treuer Junge

Ernst H.

20. Würzburg, 10. 3. 1853.

Liebste Eltern

Der Mensch ist eigentlich doch nichts "als ein zweibeiniger, ausgerupfter Hahn" (wie Plato sagt; ich dächte wenigstens), der in allen seinem Tun und Denken sich nach dem Wetter richtet. Wenigstens ist das jetzt bei mir so der Fall. Seit meinem Geburtstag war der Winter bei uns eingekehrt; wir hatten Kälte, ellenhohen Schnee usw. wie Ihr in Berlin. In dieser Periode habe ich denn riesig geochst, ich habe gesessen und geochst, daß ich selbst zuletzt kaum begriff, wie ich's aushielt und dachte ich würde ganz versessen werden. Seit drei Tagen haben wir nun gründliches Tauwetter und heute so einen schönen, sonnigen Frühlingstag, wie man ihn sich nur wünschen kann. Aller Schnee ist zu Wasser geworden, zugleich aber auch alle Geduld, alles Sitzfleisch, alle Arbeit und wie diese löblichen Tugenden alle weiter heißen. Das alte Quecksilber jagt wieder einmal durch alle Adern, so daß ich trotz aller Anstrengung kaum so viel Ruhe und Gedanken sammeln kann, um nur halbvernünftig an Euch zu schreiben. Letzeres ist auch wohl kaum mehr nötig, da ja nun doch mit nächster Zukunft wieder der heißersehnte und vielgehoffte Zeitpunkt eintritt, wo ich Euch, meine geliebten Eltern, in meine Arme schließen kann. Ich möchte auch wohl recht haben, wenn ich der schrecklichen Ungeduld, mit der ich das Wiedersehen hoffe und mir ausmale, einzig und allein meine kollossale Unstetheit, Unruhe usw. zuschreibe. Wenn ich mich frage, warum ich denn auf einmal so "unwirsch" geworden, so ist's doch weiter nichts als die alte Liebe und Sehnsucht nach dem Elternhaus und die Wanderliebe (oder wenn's nicht Wanderlust sein kann - leider!, wenigstens Reiselust), die mir durch alle Glieder zieht und alles Sitzen zu Hause und im Kolleg verleidet. Das Schlimmste ist nur, daß Kölliker nicht nur diese, sondern auch wohl noch die ganze nächste Woche lesen wird, und ich denn doch nicht gut anders kann, als geduldig abwarten, bis er zu schließen geruht. Die andern haben alle geschlossen; überdies ist das Kapitel, was K. jetzt durchnimmt, die topographische Schilderung der peripherischen Nervenausbreitung, zugleich so schrecklich schwer und langstielig und er geht so fabelhaft rasch, daß man (wenigstens ich) kaum nachdenken und nachzeichnen (geschweige nachschreiben) kann. Es dürfte daher auch keineswegs wundernehmen und ich möchte keinem Menschen dafür sthen, wenn Ernst Haeckel eines schönen Morgens sich aufsetzte und dem schönen Würzburg (vielleicht für immer) ebenso wie aller Medizin ade sagte. Nun mußt Du Dich nur nicht wundern, Mamachen, wenn Ende nächster Woche eine lange, dürre (vielleicht ausgehungerte!) Latte mit struppigen blonden oder vielmehr gelbbraunen Haaren und ebensolchem Bart (sowohl Schnurr- als Backenbart, letzterer jedoch erst 3-4 Linien lang) und eine lange Pfeife im Munde (das Rauchen mußte ja doch früher oder später kommen, namentlich da Ihr mich partout zum Mediziner stempeln wollt!) bei Euch eintritt und sich für Euren Jungen ausgibt; erschrick nur nicht! - Mit der Zeit wirst Du ihn doch bald wiedererkennen, wenigstens an seinem menschenfreundlichen, feinsittigen Benehmen, das noch immer das alte geblieben ist (wie denn überhaupt der ganze Junge, mit Ausnahme des neuen Barts und der Tabakspfeife, noch der alte ist!) Und Du, lieber Papa, darfst mir wieder meine große, angestammte Stube ausräumen (falls Du sie nämlich bewohnt hast), denn ein schöner Heuschober von 1 Fuß Durchmesser kommt wieder mit und wird ein angenehmer Zuwachs für meine vereinsamte Scheune sein. Da wird denn wieder der große Tisch aufgepflanzt und im Heu geschwelgt, daß es eine Lust ist! - . . .

Doch ich muß schließen, da mein letztes Stückchen Postpapier zu Ende geht (das ich noch in einer Ecke zufällig aufgetrieben), ebenso wie zu Ende gegangen ist mein Öl, meine Butter, mein Siegellack, mein anatomisches Heft, vor allem aber meine Geduld! Ein recht, recht frohes und schönes Wiedersehen. Zum letztenmal umarmt Euch schriftlich Euer alter

Ernst.

21. Würzburg, 25. 4. 1853.

Liebste Eltern!

Ich benutze den Abend von Großvaters Geburtstag, wo Ihr wohl recht traulich und freudig bei unserm großen Familienhaupt beisammensitzt und vielleicht auch zuweilen meiner gedenkt, um Euch meine glückliche Ankunft hierselbst zu melden und etwas von meiner Herreise zu erzählen. Die Nacht bis Halle legte ich prächtig schlafend und bis Köthen ganz allein in einem Coupé für "Nichtraucher" zurück. In Halle kam ich nach 3 Uhr an und stöberte dann Weber, Hetzer und Weiß, welcher tags zuvor von Merseburg herübergangen war, aus dem Bette. Mit letzterm machte ich während des Vormittags eine größere Exkursion nach Giebichenstein, Kröllwitz usw. Alles war aber noch außerordentlich zurück, so daß wir selbst von der Anfang März zu allererst blühensollenden Gagea saxatilis am Ochsenberge fast noch keine blühenden Exemplare fanden. Dafür beglückten uns ein paar niedliche Moose, Guembelia ovata und Polytrichum piliferum; letzteres sehr schön rot gefärbt und mit reichlichen männlichen Blüten, wie ich noch nie gesehen. Übrigens gingen wir immer im furchtbarsten Sturm und Regen. Mittags aß ich in einer Studentenkneipe, wo ich mehrere Merseburger Freunde traf . . .

Dann ging ich zu Schlechtendal, der mich grade nicht sehr erbaute, namentlich als ich das Gespräch auf mein Berufskapitel brachte. Er riet mir, die Botanik lieber ganz aufzugeben (wozu ich wohl auch den Willen, aber nicht die Kraft hatte); später erfuhr ich von Henkel, daß er überhaupt sehr egoistisch in bezug auf jüngere Leute ist, sie nicht unterstützt und von der Botanik ganz abzubringen sucht. Es war mir ziemlich einerlei. Donnerstag den 21. abends fuhr ich mit Weiß und Weber nach Merseburg . . .

Freitag früh experimentierten Weiß und ich mit Bertheaus neuem Mikroskop, das ganz vortrefflich ist und mir die Sehnsucht nach meinem neuen wieder recht erweckt hat . . .

Dann ging ich zu Lüben, der mich sehr freundlich empfing und bei dem ich über 4 Stunden verweilte, wobei wir gegenseitig einmal recht gründlich unser naturhistorisches und insbesondere botanisches Herz ausschütteten. Hatten wir doch die Erlebnisse eines ganzen Jahres auszutauschen! Er meinte, wie auch alle andern Freunde, die ich sprach (namentlich Weiß, der ganz bestimmt daran glaubt, Osterwald usw.), daß ich eigentlich zu nichts andern, aber auch zu nichts mehr tauge, als zum Professor Botanices! - O! o! o! - O scientia amabilis; quando tandem tecum in aeternum conjungas? !!! - Das setzte mir dann wieder so tolle Gedanken in den Kopf, daß ich bis hieher sehr vergnügt und munter war! - . . .

Am folgenden Morgen ging ich zu Christel und ihrem Mann. Sie schienen sehr glücklich und munter zu leben; ihre kleine Emma ist ein dickbackiges munteres Kind. Dann war ich bei Friedrich, der jetzt gleichfalls glückseliger, zärtlicher Familienvater ist. Sein kleiner Junge, ein derbes, leidlich hübsches Bürschchen, heißt mir zu Ehren Ernst! (Also schon das zweite Patchen! zu viel Ehre für einen solchen Taugenichts, wie ich doch einmal einer zu werden scheine!) Aus dieser Hütte der Armut ging's direkt zum Palast des Reichtums und des Glücks, zu dem von mir um seine botanischen Schätze und Muße recht beneideten, immer noch sehr munteren alten Grafen Henkel, der mich fast so zärtlich wie seinen Sohn empfing. Er arrangierte mir zu Ehren ein delikates Frühstück im höheren Stil: Fischpastete, die ich mir trefflich schmecken ließ, und eine Flasche "echten alten Xeressekt". Besagter alter Wein und eine andere Bouteille noch älteren und schwereren (dessen Namen ich vergessen) machten uns äußerst aufgeräumt und liebenswürdig. Nach ein paar Stunden hatten auch wir unser botanisches Herz für ein ganzes Jahr ausgeschüttet . . .

Mittags war ich bei Merkels. Sie sind immer noch dieselben herzlichen Leute und wissen nicht genug zu erzählen, wieviel sie an mir verloren haben. In den alten vertrauten Räumen lebten so recht die alten Erinnerungen wieder auf, und mein ganzes dortiges Jugendleben ging in lebhaften Bildern, die mich oft traurig genug stimmten, wenn ich dachte, wie schlecht ich diese schöne Zeit benutzt habe, an meiner Seele vorüber. Ich durchstrich das Haus und namentlich die Gärten, wo mir jeder Fleck so lieb geworden war, wo sich an jede Erdscholle, an jeden Baum und Stein eine besondere Erinnerung knüpfte, mit dem Gefühle der innigsten und tiefsten Wehmut, und der Abschied wurde mir sehr schwer . . .

Gegen 8 Uhr fuhr ich nach Halle herüber, wo mich Hetzer, Weber und Finsterbusch empfingen. Wir gingen gleich zusammen in die Halloria, die einzige Kneipe, wo unser Lieblingsgetränk, das angenehm säuerliche Lichtenhainer Bier (das einzige, was ich trinke), dessen Heimat Jena ist, gebraut wird, und wo wir es uns recht wohl sein ließen. Sehr munter und aufgeräumt gingen wir dann noch auf Webers Stube, wo wir uns noch recht lange herzlich und freundschaftlich unterhielten. Um 3 Uhr fuhr ich wieder ab nach Leipzig, von 6 Uhr dort nach Hof (wobei wir wieder über die zwei gigantischen, berühmten Viadukte kamen), und um 1 Uhr von hier nach Bamberg, wo wir abends um 7 ankamen. Die ganze Tour geht meist durch herrliche, oft höchst anmutige Berggegenden, namentlich kurz vor und hinter Hof. Die Steigung der Bahn daselbst ist sehr bedeutend und ebenso nachher der Abfall. Hier geht ein paar Stationen vor Kulmbach die Bahn ziemlich steil bergab, und zwar höchst malerisch in der Mitte einer halbkreisförmigen hohen Gebirgswand, wo der Schienenweg einige 30 Fuß hoch aufgemauert und in den Felsen eingearbeitet werden mußte. Auf der andern Seite gießt ein wilder Bergbach herab. Eine große Strecke lief hier der Zug von selbst, ohne Tätigkeit der Lokomotive, bergab, so daß sogar gehemmt werden mußte. Während das Wetter früh sehr regnerisch und stürmisch war, klärte es sich Nachmittag auf, so daß wir die Lichtenfelser und Bamberger Gegend in der schönsten Beleuchtung sahen. Auch war die Vegetation hier schon sehr weit vorgerückt, während um Hof noch tiefer Schnee gelegen hatte. Die Saaten waren schon herrlich grün und üppig, und überall blühten zwischen ihr niedliche kleine Gelbsterne. Den Abend sah ich mir wieder (wie am 26. Okt. vorigen Jahres) die schöne alte Stadt Bamberg mit ihren alten Häusern, Brücken und Kirchen an. Um 10 Uhr fuhr ich mit der Post ab und war am andern Morgen früh um 7 1/2 Uhr (Montag, den 25sten, heute) wieder in dem alten Würzburg, wo mich meine Wirtin überaus herzlich empfing. Um 8 Uhr saß ich bereits im Kolleg, bei Schenk, in der medizinischen Botanik, die für mich eigentlich (ausgenommen die schönen Pflanzen, die man bekommt) herzlich wenig Nutzen hat. Indes höre ich sie aus "Anstand" und mehr aus Rücksicht für ihn als für mich, da er es mir halb und halb angeboten hatte. Ich bleibe so wenigstens im Verkehr mit ihm. Mit den botanischen Kollegien habe ich aber wirklich noch am allerwenigsten Glück, da ich eigentlich noch keins gehört habe, was mich ganz befriedigt hätte . . .

Euer treuer Sohn Ernst Haeckel.

22. Würzburg, 4. 5. 1853.

Liebe Eltern!

Seit dem Anfang dieser Woche befinde ich mich wieder in meinem alten esse und mir ist dabei schon bedeutend wohler. Die vorige Woche habe ich noch recht traurig verlebt, da außer einer Stunde früh bei Schenk noch kein Kolleg angegangen und auch keiner meiner Bekannten da war. Ich wußte so, besonders da es so schönes Wetter war, eigentlich nicht, was ich anfangen sollte, obwohl ich den ganzen Tag fast mit dem festen Vorsatz, mir die Anatomie der Nerven (von der ich noch keine Idee habe) einzuprägen, an meinem Schreibtisch vor den Lehrbüchern der Anatomie saß und mit meinen Augen darin las, auch wirklich das Ding so duchmachte. Als ich mich aber schließlich besann, was ich denn eigentlich dabei gelernt, so fand sich's, daß dies gar nichts war. Denn trotz der größten Mühe, die ich mir gab, recht aufzumerken und die Gedanken nicht wie gewöhnlich durchgehen zu lassen, taten sie dies doch und saßen bald im traulichen Verwandten- und Freundeskreis, bald machten sie in Merseburg Visiten, bald thronten sie auf dem herrlichen Ziegenrücker Schloß und schwärmten im romantischen Sornitzgrund, bald botanisierten sie das sonnige Maintal hinab und fanden die schönsten Kalkpflanzen, die mir mein unglückliches Knie zu holen verbietet, bald liefen sie gar in das Land davon, wo der Pfeffer wächst, nach Indien, oder sonst wohin, wohin sich die Gedanken eines abstrusen Mediziners nie verirren sollten. Das ist aber eben das schlimme, daß ich zu gewissen Zeiten (und zwar leider sehr oft) mein bißchen dumme Gedanken trotz der ernstlichsten Bemühung nicht recht zusammenhalten kann. Übrigens verging mir so die Woche noch rasch genug, obwohl ich mich schmählich geärgert habe und auch noch ärgere, daß ich sie nicht bei Euch zugebracht habe. Wieviel habe ich dadurch verloren. Ich hätte das herrliche große Familienfest miterlebt, hätte Tante Bleek und Mariechen noch gesehen, hätte beim Zweckessen in der Geographischen Gesellschaft Humbold gesehen (was längst mein sehnlichster Wunsch war), hätte mein Schwesterchen noch gesehen, hätte in Halle und Merseburg schon manches Schöne blühend gefunden, hätte mich hier nicht eine ganze Woche mit melancholischen Gedanken und Grillen gefüttert, und was dergleichen "hätt' ich" mehr sind. Aber es muß einmal alles, was ich anfange, verfehlt sein! Der größte dumme Streich, den ich jetzt wieder gemacht habe, ist, daß ich nicht diesen Sommer in Berlin geblieben bin. Grade die Kollegien, die ich jetzt höre, hätte ich nirgends besser hören können, als in Berlin, und da es grade die wichtigsten und interessantesten sind, da ich sie dort bei einem der größten und erhabendsten Männer, bei Johannes Müller, der auf mich einen ganz besonders fesselnden Eindruck gemacht hat, gehört hätte, ist mir dies doppelt und dreifach leid. Grade Physiologie und vergleichende Anatomie (die beiden interessantesten Gegenstände, die es gibt) liest er unvergleichlich besser als Kölliker, obwohl er diesem in der Anatomie selbst nachsteht (Müller wird mit Aristoteles verglichen). Übrigens gefallen mir diese beiden Kollegien trotzdem außerordentlich; Näheres kann ich Euch erst später berichten, da ich erst 6 Stunden gehabt habe. Heute erzählte uns z. B. Kölliker von Infusionsthierchen Sachen, daß wir Maul und Nase aufsperrten, und uns ins Reich der Märchen versetzt glaubten, als z. B. daß bei gewissen Tierchen (Actinophrys) zwei Individuen vollständig zu einem einzelnen verschmelzen, und daß dann in der Mitte dieses Doppeltiers ein Ei entsteht, aus dem viele neue hervorkommen usw.! In der Physiologie hielt er eine sehr anziehende philosophische Einleitung, worin er sehr klar und scharf den Standpunkt des Naturforschers feststellte und ihn vollständig von dem des Menschen trennte. Der Naturforscher muß rein empirisch-kritisch verfahren; er darf nur objektive Forschungen, Beobachtungen und Versuche anstellen und höchstens aus den gefundenen Resultaten allgmeine Gesetze aufstellen und ableiten. Nie darf er teleologisch, nie idealistisch oder dynamisch, nie, mit einem Wort, naturphilosophisch werden. Obgleich ich diese real-empirische Forschungsweise in ihrer absoluten Objektivität wohl auch als richtig anerkennen muß, so will sie mir doch nicht recht gefallen, und eine allgemeine naturphilosophische Ansicht und Überblick des Ganzen nach Erforschung des Einzelnen sagt mir ganz besonders zu und ist mir Bedürfnis. -

Heute hat er mit der Lehre von der Verdauung angefangen. Physiologie ist überhaupt die Lehre vom Leben, von allen einzelnen Tätigkeiten und Verrichtungen des Organismus! Was kann es wohl Anziehenderes geben . . .

Diesen Sommer will ich nun noch recht in diesen alleranziehendsten Materien, auf deren genaues Studium ich mich schon längst gefreut hatte, schwelgen. Dann aber, wehe! ist es vorbei mit der Naturwissenschaft und es kommt die schreckliche praxis, für alle anderen die ersehnte aurea, für mich die gefürchtete cinerea! Dann kommt die unnatürliche Krankheitslehre, die Pathologie und Therapie usw.

Das Kolleg bei Schenk, die medizinische Botanik, welches ich vorige Woche hörte, habe ich zu meinem großen Nutzen und zu seinem großen Ärger wieder aufgegeben. Ich für meine Person hatte darin wirklich nicht zu Spur zu profitieren, obwohl die anderen, die auch wirklich nicht eine Klette von einer Orchidee, höchstens ein Veilchen von einem Apfelbaum unterscheiden können, es sehr rühmen. Das einzige, was ich dabei gewonnen hätte, wären ein paar seltene Pflanzen gewesen, die mir noch fehlen. Aber auf ein bißchen Heu mehr oder weniger darf es einem Mediziner nicht ankommen . . .

Da fällt mir ein, daß ich fast eine Hauptsache vergessen hätte, die vielleicht Dir, lieber Vater, zum Trost gereichen wird. Eins der ersten einleitenden Worte Köllikers war nämlich das, daß die Physiologie, diese Wissenschaft der Wissenschaften, ihre Erfahrungen, Kenntnisse und Erfolge größtenteils der Pathologie verdankt, und daß nur durch genaue Kenntnis der kranken, abnormen Zustände das normale, gesunde Leben erkannt werden könne. Dies hat mich wirklich sehr getröstet und mit der Medizin in etwas ausgesöhnt, so daß ich doch wenigstens etwas Hoffnung und Mut fasse, medico-botanicus oder botanico-medicus werden können glauben zu dürfen, als welcher jedoch immer mehr Pflanzenmensch als Menschenmensch, ich zu verbleiben geruhe

Euer alter treuer Junge

E. H.

23. Würzburg, den 14. 5. 1853.

Liebe Eltern!

Ich schreibe Euch heute zu einer so ungewöhnlichen Zeit, nämlich 5 Uhr früh (jetzt meiner gewöhnlichen Aufstehstunde), daß Ihr Euch nicht wundern dürft, wenn der Brief noch so schlaftrunken wie meine Augen ist. Euren sehnlichst erwarteten Brief erhielt ich vorgestern. Zugleich kam ein großer, sehr leichter Zigarrenkasten aus Merseburg von Weiß an, in dem es sonderbar rappelte und rüttelte. Höchst neugierig öffnete ich schnell, und was fiel mir entgegen: ein riesiger Strauch (sage Strauch!) von Viscum album, mit ein paar hundert Blüten, von etwa 1 Kubikfuß Umfange. Es ist dies allerdings ein sehr sonderbarer Schmarotzerstrauch, der auf Pappeln, Kiefern und Obstbäumen wächst (nah verwandt mit dem von mir bei Teplitz entdeckten Loranthus), den wir immer bei Halle gesucht, aber nie gefunden haben; hier ist er gar nicht selten. Trotzdem amüsierte mich der Spaß sehr, und der ganze große Mistelstrauch ist jetzt als Surrogat eines Kronleuchters in der Mitte meiner Stube aufgehängt. Außerdem enthielt das Kistchen ein paar Versteinerungen (Blätter einer Weide), die ersten, die bei Merseburg bis jetzt gefunden wurden, und einige hübsche Moose. - Ich selbst habe die Botanik jetzt so ziemlich an den Nagel gehängt (NB. so weit dies möglich ist!) und seziere dafür nach Leibeskräften. Dieser Tage habe ich Lungen und Herz präpariert, und zwar in dem schönen neuen Seziersaal der neuen Anatomie, der aber trotz seiner Freundlichkeit und Größe schon ganz wieder jenen fatalen, spezifischen Geruch angenommen hat. Mit meinen Kollegien bin ich jetzt endlich auch im reinen; es sind nicht so viele geworden, wie ich anfangs gedacht hatte. Ich höre jetzt:

1) Physiologie siebenmal; täglich von 11-12 und Sonnabends von 8-9; in letzterer Stunde werden chemische und physiologische Experimente an Leichen und lebenden Tieren gemacht; obgleich Kölliker die Physiologie nicht so gut vorträgt, so interessiert sie mich doch an und für sich im höchsten Grade. Wir haben jetzt das Kapitel von der Verdauung vor, und ich habe natürlich meinen Speisezettel ganz physiologisch-medizinisch eingerichtet; so esse ich z. B. abends immer Milch.

2) Vergleichende Anatomie dreimal von 12-1 und zweimal von 6-7 Uhr. Dies ist wirklich das Interessanteste, was man hören kann, obgleich gerade die medizinischen practici sehr dagegen eifern. Diese Woche sind die Infusionstierchen beendigt worden und die Polypen und Korallen angefangen. Wenn übrigens Ehrenberg über Kölliker böse ist, so kann man dies ersterem gar nicht verdenken. Denn wenn Kölliker auch meistens recht hat, so nimmt er ihn doch zu schonungslos mit; z. B. sagte er zu uns: "Wenn Herr Prof. Ehrenberg nicht Professor in Berlin und dortiges Mitglied der Akademie wäre, so würde man ihn schon längst der Geschichte (i. e. der Vergessenheit) anheimgegeben haben. Ich begreife nicht, wie man das, was man unter dem Mikroskop sieht, grade so auf die allerwillkürlichste und unangemessenste Weise deuten kann!" Der Hauptunterschied ist der, daß Ehrenberg in den Infusionstierchen alle die vollkommenen Organe - Werkzeuge - zu entdecken glaubte, die auch die höheren Tiere besitzen, z. B. Magen, Darm, Lunge usw., während von allen dem keine Rede ist, und alle diese Tiere, wie alle neuen Forscher einstimmig zugeben, nichts als eine einfache Zelle sind, wie auch die niedersten Pflanzen, von denen sie sich nur durch die kontraktile Membran unterscheiden. Wenn dies auch richtig ist, so muß man doch, meine ich, den Fleiß und die Ausdauer anerkennen, mit der Ehrenberg diese Tierchen verfolgt und entdeckt hat. -

Als Leitfaden habe ich mir "Vogts zoologische Briefe" angeschafft, nach denen auch Kölliker sich bei seinem Vortrage richtet und die zugleich die Zoologie (d. h. die systematische Seite) und die vergleichende Anatomie (d. h. die höhere, wissenschaftliche) behandeln. Denn die vergleichende Anatomie (von Johannes Müller gegründet) ist eigentlich nichts als Zoologie, in Verbindung mit Anatomie und Physiologie, also im höchsten wissenschaftlichen Sinne. Das Buch ist im ganzen sehr anziehend, klar und übersichtlich geschrieben. Zu bedauern ist es nur, daß viele Stellen durch den wahnsinnigen Radikalismus des Verfassers ganz verhunzt sind, so daß man gleich schwarzes Papier darüber kleben möchte. Der Verfasser ist ist nämlich jener berüchtigte Karl Vogt aus Gießen, "der deutsche Reichsvogt", und "Exmonarch des Deutschen Reichs", wie er sich selbst nennt. Ihr werdet Euch seiner wohl noch von anno 48, 49, 50 her erinnern, namentlich in der Paulskirche war er recht frech und unleidlich. Jetzt lebt er verbannt in der Schweiz und "freut sich, daß das deutsche Volk seine Bücher kauft, während es auf den Verfasser selbst schimpft". Auch ich habe nicht umhin gekonnt, ihm dieses Vergnügen zu machen, da das Buch wirklich sehr geistreich und klar namentlich die so höchst interessanten wirbellosen Tiere behandelt. Was soll man aber sagen, wenn man solche Stellen liest: "Die fortschreitende Ausbreitung des Christentums tötete, wie jede andere Wissenschaft, so auch vor allem die Naturlehre, welche ihm notwendig feindlich gegenübertreten mußte!" Oder wenn der Verfasser von dem kindischen Märchen des Christentums spricht usw. Anfangs ärgerte ich mich darüber; das ist er aber nicht wert; man kann ihn eigentlich nur bedauern.

3) Entwicklungsgeschichte be Dr. Leydig, einem talentvollen, jungen Privatdozenten, bei dem ich schon im Winter mikroskopische Anatomie hörte. Eine nette Vorlesung, worin auch viel, namentlich vergleichend anatomisch, gezeichnet wird; dreimal von 10-11 Uhr.

4) Physiologie des Auges bei Heinrich Müller, zweimal von 10 bis 11; eine interessante Vorlesung, bei der viel Optik vorkömmt.

5) Organische Chemie bei Prof. Scherer, zweimal von 3-4 Uhr. Scherer ist zwar ein berühmter Chemiker, hat aber einen unangenehmen, auch nicht tief eingehenden Vortrag, so daß mich dieses Kolleg viel weniger anzieht, als ich gehofft hatte; auch sind 2 Stunden wöchentlich viel zu wenig.

Im ganzen habe ich also äußerst wenig eigentliche Kollegia angenommen. Dafür will ich die Anatomie ordentlich repetieren, viel sezieren und überhaupt noch vieles Versäumte nachholen. Außerdem werden noch ein paar Kollegia von allen Ausländern (also auch von mir) geschossen, wenigstens periodisch: als z. B.: Analytische Chemie, Magnetismus und Elektrizität, Geschichte der Medizin (bei Marcus; sehr gut!), chirurgische Instrumentenlehre (das Greulichste, was man sich denken kann) und noch ein paar andere, welche wir als publica betrachten, da hier fast gar keine eigentliche publica gelesen werden. Überdies kommt noch im Sommer das Baden und Spaziergehen (resp. Botanisieren) dazu, so daß die Zeit knapp genug einteilt ist; der Sommer geht ohnedies so rasch dahin; es sind kaum 3 Monate . . .

Wenn das Wetter zum Pfingstfest gut wird, so will ich mich einmal recht gemütlich in dem schönen Guttenberger Wald niederlassen und mich der herrlichen Bäume, der zierlichen Moose und des muntern Vogelgesangs (der hier sehr anmutig ist) freuen, auch einmal wieder Naturskizzen zeichnen. An Nachtigallen ist hier Überfluß, sogar in den schönen Anlagen, die rings außerhalb um das Glacis herumgehen und die ganze Stadt mit einem grünen Kranze umgeben. Ich wünschte Euch oft her, um es mitzugenießen . . .

Nun feiert ein recht vergnügtes Pfingstfest und denkt dabei an Euren alten Jungen E. H.

24. Würzburg, 23. 5. 1853

Liebe Eltern!

Das schöne Pfingstfest habe ich auf meine Weise, d. h. traurig und fröhlich zugleich, zugebracht. Am Sonntag wollte ich in die Kirche; trotzdem ich aber schon 5 Minuten vor voll da war und noch kein Orgelton zu hören war, standen doch die Leute vor den geöffneten Türen bis auf die Straße hinaus, so daß an Hören nicht zu denken war. Dafür hörte ich den andern Morgen eine recht gute Frühpredigt. Da es so schönes Wetter war, hätte ich gar zu gern enen ordentlichen Ausflug gemacht. Meine Bekannten hatten sämtlich eine größere dreitägige Tour nach dem schönen, unterhalb gelegenen Wertheim unternommen, an der ich aus verschiedenen Gründen, schon weil es viel zu weit war, nicht teilnehmen konnte. Ich mußte mich also begnügen, in Erinnerungen an die früheren Pfingstferien zu schwelgen, die ich immer in schönen Gegenden verbracht hatte, namentlich die vor 2 Jahren, wo ich mit Karl in Koburg war. Die schöne Sonne, welche nach vielen Regentagen zum erstenmal wieder im ganzen Glanze erschien, lockte mich aber doch gar zu sehr hinaus, und so entschloß ich mich, auf eigne Faust in den 1 Stunde entfernten Zeller Wald zu wandern. Schon auf dem Hinweg hatte ich einen großen Triumpf; ich fand nämlich an einer alten Weinbergsmauer ein seltnes, merkwürdiges Farrenkraut, Ceterach officinarum, für das bisher nur ein einziger unsicherer Standort in der hiesigen Flora bekannt war. Auf der Höhe vor dem Wald hat man eine herrliche Aussicht auf das ganze Maintal mit Stadt und Festung. Leider konnte ich nicht zeichnen, da es sehr windig war. Im Walde drin war es ganz herrlich, so windstill und ruhig und doch so sonnig und wonnig unter den schönen alten Buchen, daß ich mir aus schönem Moos (wovon ein Exemplar beiliegt) am Fuße eines uralten Baums ein förmliches Lager bereitete - dann - (hört! hört!), mir selbst sehr komisch vorkommend, mit wahrem innigen Vergnügen ein paar Bücher "Odyssee" im Urtext las! Von Zeit zu Zeit streckte ich mich dann recht träumerisch aus und dachte mit inniger Sehnsucht an meine fernen Lieben. Jetzt wurde mir aber auch recht schmerzlich klar, wie sehr mir ein intimer Freund fehlt, dem ich so recht mein Inneres erschließen könnte. Es gehört auch mit zu meinem Pech, daß ich wohl nie so einen finden werde. Ich kenne hier zwar viele sehr nette Leute; diese bilden aber einen abgeschlossenen Kreis für sich, in den ich wohl kurioses Kraut nicht eintreten kann und darf. Daß dieses schmerzliche Entbehren nicht an mir liegt, könnt Ihr daraus entnehmen, daß ich wirklich ganz ernstlich darauf ausgehe, mir einen Herzensfreund zu erjagen, fast wie Diogenes mit der Laterne. Doch was kohle ich da wieder für ein Zeug; lieber zu unserm Wald zurück, der wirklich ganz herrlich war, und indem es mir (wirklich fast sentimental und graulich) bei Vogelgesang und Windesrauschen so herrlich wohl gefiel, daß ich erst spät am Abend mich davon trennen konnte und mit meiner Trommel voll schönem Efeu, mit dem ich dann Humboldts Bild bekränzte, am Main nach Hause wanderte und mich noch am Anblick eines ganz mit Studenten bepflanzten Dampfschiffes ergötzte, die eine Tour gemacht hatten. Solche kleinen Dampfschifftouren wurden an den Feiertagen mehrere und werden, wie ich höre, den ganzen Sommer hindurch an jedem schönen Sonn- und Feiertag (deren es wöchentlich 1-2 gibt!) von geschlossenen Gesellschaften und publice unternommen, und zwar sowohl von dem sehr vergnügungssüchtigen Volk als von den nicht minder ihr Leben genießenden Studenten. Auch ich nahm am 2ten Feiertag mittag mehr spaßeshalber als aus wahrer Lust (da ich ja allein war) an einer solchen teil und fuhr um 2 Uhr auf einem mit Blumen und Fahnen geschmückten Dampfer, dem bald zwei andere nachfolgten, den Main hinunter nach dem 1 1/2 Stunden entfernten Veitshöchheim. Die Fahrt selbst auf den mannichfachen Windungen des Mains, abwechselnd zwischen Rebenhügeln und Wäldchen hin, machte mir viel Freude und erinnerte mich sehr an unsere letzte Rheinreise, wo ich zum letztenmal auf einem Dampfschiffe gefahren war. Am Bestimmungsort angelangt, stürzte alles sogleich in den fürstlichen Park, von dem mir meine Wirtin nicht genug hatte erzählen und vormalen können, wie herrlich und prächtig es dort sei. Ich hatte schon an einem einzigen Blick genug, als ich, kaum eingetreten, vor mir eine lange Allee von grauenhaft verstümmelten Buchen sah, die eine wie die andere zu regelmäßig vierseitigen Pyramiden zugestutzt waren. Als ich nun vollends sah und hörte, wie sowohl die "haute volée" als das "profanum vulgus" von Würzburg in den tönendsten Phrasen laut diese greulichen altfranzösischen Geschmacklosigkeiten, steinernen Liebesgötter, verschnittenen Buchsbaumfiguren, chinesische Pavillons usw. bewunderte, machte ich sogleich linksum kehrt und lief schnurstracks in den 3/4 Stunden entfernten Edelmannswald, einen berühmten botanischen Standort, wo ich zwar keine Menschen (leider!?), aber desto herrlichere Waldbäume fand, zwischen denen ich mich ein paar Stunden planlos herumtrieb. So kam ich auch unvermutet auf eine kahle Waldecke, von der aus man einen herrlichen Blick das ganze Maintal hinunter hat, der mir sehr überraschend war. Es standen zwar schöne, seltne, auch neue Pflanzen dort, aber alles noch nicht blühend, da die ganze Vegetation wenigstens 3-4 Wochen zurück ist wegen der großen Kälte. Um 7 Uhr trat ich die Rückfahrt an, auf welcher mir das Beobachten des bier- und liebeseligen Volks, das in dem "harrlich kunstboren" Garten seine südlichen Gefühle noch um einige Prozent erhöht hatte, viel Spaß machte. Da alles, vom Kapitän bis auf den Heizer hinunter, ziemlich stark angesäuselt war, so kamen wir erst sehr spät nach Würzburg, unter fortwährendem Böllerschießen, Schreien, Jubeln, Jauchzen, Singen und grauenhafter Produktion einer Musikbande, die den ganzen Vormittag ihre Talente hatte spielen lassen. So oft sich ein paar Menschen am Ufer oder eine lustige Dorfgesellschaft zeigte, schrie die ganze, mehrere hundert Personen starke Schiffsgesellschaft laut ein "Vivat hoch!" hinüber, wehte mit den Tüchern und ließ sich von den Dorfmusikanten mit einem Tusch antworten. Obgleich ich auf der ganzen Fahrt kein bekanntes Gesicht sah und kein Wort sprach, machte sie mir doch bei dem herrlichen Wetter viel Freude. Nun folgte bis gestern aber wieder ein wahrhaft sündflutliches Regenwetter, das nur an einem Tage aussetzte. An diesem machte ich solo eine Exkursion über die nördlichen Weinberge nach Versbach, wobei ich die schöne Traubenhyazinthe (Muscari racemosum), die wir in unsern Gärten hatten, blühend fand, nach einem schönen Moose aber vergeblich suchte. Sonst ist mir diese Woche sehr still und einsam vergangen . . .

25. Würzburg, 25. 5. 1853

Liebe Eltern!

In der vergleichenden Anatomie haben wir jetzt die Polypen vor. Ich halte mir in einem Gläschen eine kleine Kolonie von diesen allerliebsten Tierchen, und zwar vom grünen Wasserpolypen (Hydra viridis), die nur stecknadelkopfgroß sind und bei 120facher Vergrößerung etwa fast wie Seesterne aussehen und die sonderbarsten und merkwürdigsten Lebenseigenschaften haben. Sie sitzen mit dem Stiel fest und können ihre Arme lang ausstrecken und ganz einziehen, fressen Infusorien und pflanzen sich wie Pflanzen fort, indem sie seitlich Knospen treiben. Wenn man ein Tierchen in beliebig viele Stücke zerschneidet, so wird aus jedem wieder ein Tier. Überhaupt kann man mit ihnen die interessantesten und schönsten Experimente anstellen auf sehr einfache Art. In der Physiologie haben wir ein paar Hunden Speicheldrüsenfisteln und Magenfisteln angelegt. Man erhält so reinen Parotispeichel und reinen Magensaft unmittelbar aus dem lebenden Tiere, was zwar sehr graulich ist, womit aber dann sehr wichtige Experimente über die künstliche Verdauung gemacht werden. Sonst gefällt mir der Köllikersche Vortrag, obgleich der Stoff an sich viel interessanter ist, lange nicht so gut, als in der Anatomie; es ist alles nur angelernt. - . . .

Euch und alle andern Verwandten, Tante Berta usw.

grüßt Euer Ernst H.

26. Würzburg, 1. 6. 1853.

Liebe Eltern!

Erst heute komme ich dazu, Euch einmal wieder zu schreiben, da die wundervollen Polypen, Quallen, Korallen usw. mich die ganze vorige und jetzige Woche von früh 5 bis abends 10 beschäftigt und mir das größte Vergnügen gemacht haben. Meine zoologische Passion, die mich schon als kleinen Jungen die Naturgeschichte der Tiere noch vor der der Pflanzen mit ganz besonderm Interesse treiben ließ und meine Lieblingsbeschäftigung war, ist jetzt wieder recht lebhaft erwacht und bereitet mir nun natürlich einen weit höhern Genuß, da mir die Kenntnis der Anatomie nun auch den Weg zur Erfahrung des wundervollen innern Baus der Tiere geöffnet hat. Man wird wirklich ganz unwillkürlich bei jedem Schritt von Erstaunen und Bewunderung der göttlichen Allmacht und Güte hingerissen, und ich kann es nicht begreifen, wie grade Leute, die sich mit diesen herrlichen Wundern beschäftigen und ihren Einzelheiten nachgehen, die schaffende weisheitsvolle Gotteskraft bezweifeln und ganz wegläugnen können. Außer der vergleichenden Anatomie beschäftigt mch auch die Physiologie sehr, so daß ich, obwohl weniger Kollegien als je, doch auch fast ebenwenig freie Zeit habe. Das schlechte Wetter, das die ganze Zeit in strömenden Regenmassen sich Luft machte, kam mir so sehr zustatten, indem es mich nicht in die schöne Frühlingsnatur hinauslockte, die ich sonst mit ganzer Wonne genieße. Vorigen Sonnabend nahm ich wieder an einer botanischen Exkursion teil, die ungefähr 5 Stunden dauerte und mein Knie doch etwas anstrengte, was es ein paar Tage durch starkes Musizieren kundgab; jetzt ist es wieder auf dem alten Punkte. Wir suchten in einem Walde hinter Versbach die schönste deutsche Orchidee, das herrliche Cypridedium calciolus; ich war so glücklich, von den vier Exemplaren, die von dieser außerordentlich schönen und seltnen Pflanze nur gefunden wurden, zwei zu finden. Eine einzige, höchstens zwei sehr große Blumen stehen einzeln am Ende des schlanken, vielblättrigen Stengels. Vier Blumenblätter sind schön dunkelpurpurrot, schmal und wellig und stehen in Form eines Kreuzes einander gegenüber. In der Mitte zwischen diesen sitzt ein kleines, meistens kahnförmiges Blumenblatt und darunter ein sehr großes, das prächtig goldgelb gefärbt, hohl und ganz wie ein Holzschuh oder wie ein rundlicher Nachen gestaltet ist. Deshalb heißt diese herrliche Pflanze auch "Frauenschuh". Wie ich mich über diesen längstersehnten Fund freute, könnt Ihr Euch kaum denken. Auch außerdem fanden wir eine der schönsten und größten Orchideen, die dunkelbraune, weiß punktierte Orchis fusca, und ich war noch so glücklich, von einer sehr gemeinen Wickenart (Vicia sepium), die innen blau blüht, Exemplare mit gelben Blüten zu finden. Auf dem Rückweg fanden wir noch eine reizende kleine Primel mit weißen Blüten: Androsace septentrionalis . . .

Mit Bertheau, Lavalette und Steudner, die jetzt täglich zusammen Whist spielen, komme ich jetzt wenig zusammen, aus verschiedenen Gründen. Sie sind mir im ganzen gar zu üppig, und wenn ich mit ihnen kneipen gehe, tun sie nichts, als mich ermahnen, Bier zu trinken und mich zu verlieben, was sie für das einzige Rettungsmittel halten, mich zum Menschen zu machen, und wovon mir eins so greulich und überflüssig erscheint wie was andre. Auch bei Schenk bin ich so ziemlich in Ungnade gefallen, da ich sein langstieliges Kolleg nicht angenommen habe, worauf er sich sehr gespitzt haben muß. -

Am vorigen Donnerstag war hier "Fronleichnamsfest", wirklich ein Hauptspektakel, von dem mir meine Wirtin schon wochenlang vorher nicht genug zu erzählen wußte und das mir fast greulich großartig vorkam. In meinem Leben hatte ich noch keine solche Prozession gesehen. Sie dauerte von 8-12 Uhr. Das Landvolk der ganzen Umgegend war dazu herbeigeströmt, die ganze Stadt war festlich mit Girlanden und Fahnen geschückt, alle Straßen mit Blumen bestreut, die Halle des Juliusspitals in einen Tempel mit Altären verwandelt, das ganze Militär in Gala konsigniert, dazu auch noch die sogenannte "Landwehr", etwa das, was Berliner Bürgerwehr und Merseburger Schützen zusammen sind, nur noch zehnmal unmilitärischer, spießbürgerlicher und lächerlicher. Es fanden sich darunter wirklich die allerkomischsten und groteskesten Figuren, die sich in der himmelblauen Uniform mit der schweren Tschako ganz einzig machten; z. B. Schneidermeister mit langen Bärten, Tischler mit Bärenmützen als "Beilesleit" usw. Der Zug selbst war das Bunteste und Abenteuerlichste, was man sich denken kann; in vieler Hinsicht vom Erhabenen zum Lächerlichen und Verächtlichen nur ein Schritt. Die verschiedenen Aufzüge mit ihrer äußeren Pracht, ihrem eigentümlichen Charakter boten so viel Auffallendes dar, daß man ein ganzes Buch darüber schreiben könnte. Unter anderm zogen alle Gewerke mit ihren Fahnen, Insignien und Standarten auf, dann alle Schulen in besonderen Festkleidern, der Magistrat und die Regierung in Ziviluniform, Kapuziner in ihrer braunen Eremitentracht und allerlei Mönchsvolk, die große Zahl der katholischen stud. theol., dann lange Reihen kleiner und großer Mädchen in weißen Kleidern und mit Blumen geschückt. Dazwischen überall singende und schreiende Gruppen von Priestern, welche mit Glöckchen klingelten, Weihrauch räucherten usw. Von Zeit zu Zeit wurde angehalten und an eigens dazu errichteten Altären Messe gelesen, wobei alles auf die Knie fiel und wir sehr scheel angesehen wurden, daß wir nicht das gleiche taten. Unter einem Baldachin gingen oder wurden vielmehr getragen der Bischof und andere höhere Geistliche, glanzvoll in Gold und Purpur gekleidet, dann nicht minder wohlgenährte, fettglänzende, fortwährend Prisen schnupfende, violette Domherren, die mich lebhaft an Merseburger dito Individuen erinnerten. Dazwischen kam dann von Strecke zu Strecke eine goldne Madonna oder ein silberner Heiliger in Lebensgröße, mit allerlei Kettchen und Ringelchen und Kleinödchen behangen, wie ein Kinderspielzeug klingend und rasselnd, getragen von vier weißgekleideten Jungfrauen (ja nicht im wahren Sinne des Wortes zu nehmen!); dann wieder lange Reihen Andächtiger, die einem wie ein Marktschreier sich gebärdenden Vorbeter nachsangen, sich dabei aber ganz gemütlich unterhielten, lachten und sich an der Pracht des Zuges ergötzten . . .

Sehr gut machten sich auch die Professoren in ihren Fakultätstalaren, die Mediziner grün, die Juristen rot usw. Die Katholischen müssen sämtlich mitgehen, weshalb Schenk ein paar Tage vorher bedenklich "erkrankt", viele andere Mediziner verreist waren.

Zu all dieser Augenlust sollte man auch was Ordentliches hören, weshalb den ganzen Vormittag von der Festung herab die Kanonen gelöst wurden, was sich von unten ganz prächtig ausnahm. Kurz, es war ein Getümmel und Spektakel, wie er sich gar nicht beschreiben läßt . . .

Um eure große Viehausstellung bei Krolls beneide ich Euch; die hätte ich sehn mögen, lieber als diesen Jahrmarkts- und Fastnachtsspektakel von Prozession . . .

Nun noch ein Wort zu Dir, meine liebste Mutter, wegen Deines Wunsches, mich den Winter in Berlin zu haben. Wie sehr dies auch mein eigner Wunsch ist, so kann derselbe doch unmöglich schon nächsten Winter erfüllt werden . . . Grade nächsten Winter werde ich hier die Kollegia zu hören haben, um derentwillen die meisten allein herkamen, und die überhaupt sonst fast gar nicht und nirgends so klassisch wie hier gelesen werden. Hierher gehört vor allem der mikroskopische Kursus bei Kölliker, auf den ich schon jetzt brenne; sodann die allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie von Virchow, für die die andern schwärmen. Endlich sollen noch zwei junge, sehr tüchtige Professoren herkommen an Stelle des alten Pathologen und des alten Chirurgen, die jetzt pensioniert werden. Außerdem habe ich auch schon auf das Präparieren der Arterien und Nerven für den Winter abonniert, was in Berlin nur äußerst schlecht und unbequem geht. Es würde also, wenn ich nächsten Winter nach Berlin ginge, wo ich von allem diesem nichts habe, wieder ein neuer Mißgriff rücksichtlich meiner Kollegia sein, wie ich deren sehr viele getan habe. Viel besser wäre ich diesen Sommer dort geblieben und hätte den klassischen Johannes Müller gehört, was mich ewig reuen wird. Viel wahrscheinlicher ist es, daß ich nächsten Sommer zu Euch komme, da ich wohl keinesfalls nach Heidelberg oder Bonn gehen werde. Doch das Nähere hierüber läßt sich ja alles viel besser mündlich auseinandersetzen. Wenn ich einmal wieder nach Berlin jetzt gehe, gehe ich wohl nicht wieder fort. Überdies wird der nächste Winter verschwunden sein, ehe ich mich umsehe. Es sind bloß 4 Monate. Und die Hälfte davon, zwei ganze Monate und noch mehr, sind wir ja vorher in Rehme und Ziegenrück zusammen. Wie ich mich schon jetzt auf diese herrliche Herbstleben freue, ganz besonders in Ziegenrück, könnt Ihr Euch kaum denken. In betreff der Bücher, die wir dort zu Hause lesen wollen, liebe Mutter, hatte ich mir folgendes gedacht: Ich bringe Humboldts "Ansichten der Natur", Schuberts "Spiegel der Natur" (der Dir ja so gefiel) und Schleidens "Pflanze" vielleicht!) mit; Du, dachte ich, solltest Goethes "Wahrheit und Dichtung", noch was von Schiller, Goethe oder Lessing (vielleicht "Laokoon") mitbringen und Immermanns "Münchhausen", falls Du ihn irgendwo auftreiben kannst. Ich möchte ihn sehr gern einmal lesen, da er als der klassischste und beste deutsche Roman allgemein gepriesen wird. Außerdem bringe ich auch Vogts "Zoologische Briefe" mit, die Dich gewiß auch stellenweis interessieren werden. Solltest Du hiermit nicht einverstanden sein, so schlage mir andres vor; ich würde dann Reisebeschreibungen vorschlagen, auf die ich jetzt auch periodisch versessen bin und die ich mit Leidenschaft schmökern würde, wenn ich Zeit hätte. Vielleicht könntest Du irgendwo die ausgezeichneten Reisen von Darwin, Pöppig, Tschudi oder Humboldt geborgt bekommen oder was von Kohl. Vielleicht könnte Vater so was von Karo mitbringen, der z. B. Tschudis "Reise nach Peru", auch "Münchhausen" hat. Nun, Ihr könnt das ja noch lange überlegen. - . . .

Ich bleibe immer mit derselben innigen Liebe Euer treuer alter Junge

Ernst H.

27. Würzburg, 18. 6. 1853.

Liebe Eltern!

. . . Ich gehe fast alle Abend mit meinem Danziger Freunde Hein, einem sehr netten Menschen, der mir fast zu verständig, klar und besonnen ist, heraus über die Brücke, ein Stückchen oberhalb der Stadt, wo die Badeanstalt sehr hübsch grade am Fuße der Festung liegt. Dann stürzen wir uns mit wahrer Wonne in die (vorläufig noch sehr lehmgelben und an die Unstrut erinnernden, später vielleicht einmal grünen) Mainfluten, duschen tüchtig und gehen nachher nach Sibirien! Dies ist einer der wenigen Orte, wo man hier kein Bier, sondern Milch in allen Gestalten (wir halten uns vorzüglich an die saure, wie man hier sagt: "gestockte" Milch) bekommt; man sitzt in einem am Bergabhang gelegenen Grasgarten, in einem Seitentale südlich von der Festung, dieser grade gegenüber, und das beste ist, daß fast gar keine Menschen hinkommen und man höchstens ein paar Vögel singen hört. Es ist dies ganz allerliebst und mein Hauptvergnügen. Weitere Spaziergänge mache ich jetzt nicht, da es so lange dauert, ehe man über die heißen Kalkberge in Schatten kömmt und dies auch meinem Knie nicht gut zu tun scheint. Auch bin ich mit der Zeit sehr beschränkt; namentlich bei der vergleichenden Anatomie vergeht einem der Nachmittag, man weiß nicht wie. - Kölliker hat jetzt die Seesterne und Seeigel durchgenommen, und ich habe auf einmal schreckliche Lust bekommen, an die See zu gehen, um diese prächtigen Beester zu untersuchen und ihren herrlich künstlichen Bau in natura kennenzulernen. Das ist doch immer noch was anderes als die Abbildungen, obwohl diese auch sehr gut sind. In meinem Heft steigen sie schon wieder in die Hunderte. Wenn ich nur erst mein Mikroskop hätte! Jedenfalls ist es jetzt hohe Zeit, Herrn Schieck einmal zu treten. Du bist wohl einmal so gut, liebes Mütterchen, und fragst ihn, "ob mein Mikroskop in Arbeit sei, und bittest, daß er es ja bis anfangs August fertigmache, wie er versprochen hat. Ich brauche es den Winter bei Virchow im Kurs ganz notwendig!" Sage ihm dies ausdrücklich; sei aber sehr höflich und bewundere auch recht die prachtvollen, ausgesuchtesten Original-Kupferstiche, mit denen der originale Mann sein ganzes Zimmer austapeziert hat und die sein einziger Stolz und Steckenpfert sind. Sei aber so gut und gehe selbst hin, da ich ihn gebeten hate, Dir das Mikroskop zu geben, wenn es fertig ist. Mutter soll es dann ja mit nach Rehme bringen.

In der Physiologie werden jetzt viel Experimente gemacht, die aber meistens mißlingen, zum Teil durch die Schuld des Anatomiedieners, wobei es oft sehr lustige und lächerliche Szenen gibt. So hatte er neulich eine Katze mit Milch füttern sollen, weil uns Kölliker das Übergehen des Milchsafts in die Chylusgefäße des Darms zeigen wollte; er behauptete auch, das getan zu haben, hatte aber statt dessen die Milch selbst getrunken; als nun die Katze geöffnet wurde, waren im Darme bloß etwas Brot und Kartoffeln, kein Tropfen Milch, was sehr lustige Szenen gab. Außerdem fanden wir noch einen Bandwurm von einer Elle Länge. Trotzdem dies eigentlich ganz hübsche Tierchen sind, so glaubte ich doch am selbigen Abend noch deutlich das Knabbern eines solchen Beestes in meinem eigenen tractus zu fühlen. Dies dürft ihr jedoch als eine hypochondrische Anspielung annehmen. -

Vorige Woche mußte auch mein armer Leib zu einem Experiment in der Physiologie herhalten. Kölliker wollte nämlich zeigen, wie rasch der Speichel die Stärke (Mehl) in Zucker umwandle und spuckte deshalb ein Probiergläschen halb voll; zugleich ersuchte er einen von uns, auf dieselbe Weise ein zweites Probiergläschen zu füllen, und da ich grade am nächsten saß, traf mich dies edle Los. Kaum war nun der Speichel ein paar Minuten mit dem Kleister in Berührung gewesen, so hatte die "Saliva Haeckeliana", wie sie Kölliker nannte, die ganze Stärke in Zucker verwandelt, während sein eigner Speichel viel schwächer gewirkt hatte; natürlich gab es nun wieder viel zu Lachen und zu Necken. - - . . .

28. Würzbung, 27. 6. 1853.

Innigst geliebtes Geburtstagskind!

So kann ich denn auch bei Deinem Geburtstage, meine teuerste Mutter, nicht gegenwärtig sein und muß ihn, wie schon öfters Vaters und meinen eigenen Geburtstag, einsam und still für mich feiern. Nicht kann ich diesmal, wie sonst, mich froh und freudig an Deinen Hals hängen und in einem Kusse alles das Dir sagen und mitteilen, was mein innerstes Herz bewegt. Es ist mir jetzt oft recht weh geworden, wenn ich denke, wie Du sonst an diesem Deinem Festtage Deine beiden Jungens (oder gar alle drei Kinder) bei Dir hattest und mit ihnen Gott für alle seine Güte und Gnade danktest, und wie Du dagegen diesmal keins von allen dreien herzen und küssen kannst. Aber wenn wir auch äußerlich diesmal weit von Dir getrennt sind, und ich noch dazu zum erstenmal, so sind wir innerlich im Geiste nur um so inniger und trauter beisammen und bei Dir und bitten Gott recht herzinniglich, daß er uns Dich noch recht, recht lange und gesund als unsern teuersten Schatz erhalten möge. Ja, meine liebe Herzensmutter, es ist dies wohl eine der größten und bedeutendsten Wohltaten Gottes, die er mir erwiesen, und wofür ich ihm täglich nicht genug danken kann, daß er mir eine so gute, fromme Mutter geschenkt hat, die mich von kleinauf in der Gottesfurcht erhalten, die ersten und die festesten Grundlagen zu meiner geistigen und sittlichen Bildung gelegt, die edle Zeit zu nützen und das Böse, in welcher Gestalt es auch entgegentreten mag, zu meiden gelehrt hat. Es wird mir dies erst jetzt recht klar und ist mir erst in der letzten Zeit recht offenbar geworden, wo ich doch mehr selbstständig in die Welt hinausgetreten, vielfachen und neuen Versuchungen ausgesetzt worden bin, wo ich das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens aus eigner Anschauung tiefer habe kennenlernen, von welchem ungeheuren Einfluß die erste mütterliche Erziehung gewesen ist und wie ihre Wirkung im ganzen Leben fortdauert; und dann habe ich Gott recht innig gedankt und ihn gebeten, mir meine einzige Mutter noch recht lange zu meinem Troste und zu meiner Freude zu erhalten . . .

Die Blumen durften nie an Deinem Geburtstag fehlen; also mußte auch diesmal die Flora von Würzburg ihre Repräsentanten schicken, die freilich weniger schön als auserlesen sind. Die meisten werden freilich für Dich kein Interesse und die Standorte, da Du sie nicht kennst, keine Bedeutung haben; aber ich denke, Du kannst so doch Deinen Jungen bei seinen botanischen Wanderungen begleiten. Auch bei den beiden Zeichnungen mußt Du den Willen für die Tat nehmen und die innige kindliche Liebe, mit der ich bei jedem Strich Deiner gedacht habe, als das Beste ansehen. Die Skizze von der Festung Marienberg, welche ich oberhalb meines Lieblingsortes "Sibirien" in dem einsamen Tale am Nikolausberg von der Südseite her aufgenommen habe, ist der Repräsentant eines Albums von Skizzen aus der Umgegend Würzburgs, welches bis zu Deinem Geburtstag fertig werden sollte, bis jetzt aber nur aus angefangenen Schattenrissen besteht, deren Ausführung teils durch Zeitmangel, teils durch Regenwetter verhindert wurde. Auch diese einzige fertig gewordene ist im schönsten Landregen unter einer Weinbergshütte als Regenschirm fertig geworden. Beim ersten Anblick der Zeichnung geht es Dir vielleicht wie meiner Wirtin, welche, als ich sie ihr zeigte, verwundert ausrief; "Jesses Maria, Herr Doktor, sein Sie nit e gschickter Harr! Ihre Frau Mutter muß Sie lieb hae, auch wenn s' nit wollt! Ne, ist der Main natürlich getroffen und die Dampfschiffe darauf, als wenn's lebte!!" Den runden Turm unten hielt sie für den Kran und die beiden Weinbergsmauern für dessen Arme. Wahrscheinlich hielt sie die Weinberge selbst für den Main, was natürlich meinem künstlerischen Selbstbewußtsein sehr angenehm war! Aber wie soll man auch die verwünschten unförmigen Weinberge anders zeichnen als immer einen Strich neben dem andern. Höchstens könnte man statt der parallelen Striche lauter Reihen von grünen Punkten hinklecksen. - Der Mutter mit den beiden Knaben wirst Du es kaum ansehen, daß es eine Madonna von Raffael ist! Ich habe auch in der Tat beim Zeichnen weniger an die Jungfrau Maria als an meine liebe Mutter gedacht und so kannst Du es nicht als ein Madonnenstück, sondern als ein Familienstück mütterlicher Liebe ansehen, was es auch wirklich ist. -

Die beiden echten alten Würzburger "Bocksbeutel" wird Dein rheinischer Weinmund hoffentlich nicht verschmähen. Wahrscheinlich sind sie grad' an der Seite des Festungsberges gewachsen, die ich gezeichnet habe. Laßt sie Euch recht munden; hoffentlich sind sie gut! -

Im übrigen habe ich nichts hinzuzufügen als den Wunsch, daß Du Deinen speziellen Festtag recht, recht freudig und heiter feiern mögst und dabei in Liebe Deines treuen, alten Ernst's gedenkst, der auch in Gedanken ganz bei Dir sein wird . . .

29. Würburg, 8. 7. 1853.

Ich benutze den Abend von Mimmis Geburtstag, um wieder ein Stündchen mit Euch zu plaudern. Die ganze Feier dieses Familienfestes hat für mich darin bestanden, daß ich heute mittag mit meiner Wirtin deren vielgeliebte Gans verspeist habe, welche sie wochenlang für den heutigen Tag genudelt hatte. Es ist nämlich heute zugleich hier der letzte (wirklich der letzte, schade ! schade!) Feiertag in diesem Sommer, das Fest des heiligen Kilianus, für die hiesige Stadt ein Hauptfest. Besagter Heiliger hat nämlich einmal seine Füße in einer hiesigen Quelle gewaschen, und seitdem springt diese Quelle, über welcher nachher eine große Kirche erbaut wurde, alle Jahr nur einmal, und zwar am heutigen Tage! während sie sonst das ganze Jahr versiegt ist!! Und diese Quelle besitzt an diesem Tage die wunderbarsten Eigenschaften, macht Sehende blind (oder vielmehr ungekehrt!) usw. !!! Da ist denn wieder einmal das ganze Landvolk von Unterfranken in großen Prozessionen in die Stadt gezogen und bietet alles auf, um ein Fläschchen dieses köstlichen Heilwassers (nämlich abgestandenen Regenwassers, welches der Küster tags zuvor in das sonst leerstehende Wasserbecken gefüllt hat) zu erangeln. Es ist wirklich ein ergötzlicher und doch trauriger Anblick, dies verdummte Bauernvolk, wie es sich mit dem andern Pöbel um ein paar Tropfen Wassers drängt, stößt, schlägt usw. und überselig ist, wenn es damit ein Kreuz auf die Stirne machen und sich die Augen einreiben kann. Diese Macht der Pfaffen und des Aberglaubens ist hier noch fabelhaft . . .

Deinen Geburtstag, liebes Mutterchen, habe ich still für mich, im Geiste bei Euch, verlebt; Nachmittag machte ich einen Spaziergang auf die höchste Spitze des Nikolausbergs, auf welchem das Käppele steht, und welcher der höchste Punkt in der ganzen Umgegend ist. Ich war noch nie so hoch herauf gelangt und wurde nun durch eine ganz prachtvolle Aussicht erst über ganz Franken und weiter, namentlich den Main hinunter, herrlich überrascht. Nach Norden erschien am Horizont der Spessart, nach Westen die Rhön mit ihren höchsten Spitzen, nach Osten die Fränkischen Gebirge. Ganz herrlich machte sich das Maintal mit seinen unzähligen Windungen und Biegungen, die ich weit hinunter übersehen konnte; ach, wie sehnlich wünschte ich Euch her, um mit mir den herrlichen Genuß zu teilen. Wenn man so etwas allein genießt, ist es doch immer nur die halbe Freude; auch die Beleuchtung war ganz einzig, gigantische Wolkenschatten über die Berge verstreut. Und zu allem diesem kamen nun noch reizende botanische Bescherungen, wie ich sie lange nicht genossen. Zuerst fand ich einen niedlichen Waldmeister mit blauen Blüten (Asperula arvensis), dann eine schöne, ebenfalls noch nie gefundene Doldenpflanze (Turgenia latifolia), dann ein sehr merkwürdiges Farnkraut (Botrychium Lunaria) mit einer Fruchtähre oder Traube, und endlich einen reizenden, wilden, rosenroten Flachs (Linum tenuifolium). So viel Schätze auf einmal waren mir lange nicht geboten worden. Ich war ganz selig. Ich verlief mich übrigens in dieser Seligkeit, diesem Suchen, Schauen und Bewundern ziemlich weit in eine mir vorher ganz unbekannte Gegend und bekam schließlich ein tüchtiges Gewitter auf den Hals, dessen donnernder Widerhall in den Schluchten und Tälern sich gar nicht übel machte. Aber auch diese Durchnässung sollte nicht umsonst für mich sein. Als ich wieder auf dem Gipfel des Nikolausberges gelangte, breitete sich vor mir und zu meiner Rechten (nach Süden und Osten) ein prächtiger doppelter Regenbogen aus, dessen unteres Ende tief zu meinen Füßen hinabreichte und auf der Mainbrücke zu stehen schien. So hatte ich vom Berge aus den Anblick eines Regenbogens im Tal, hinter dem in weiter Ferne wiederum blaue Berge als Hintergrund dienten, ein merkwürdiges Schauspiel, das ich erst einmal, und zwar auf dem Inselsberg im Thüringer Wald, gehabt hatte. Wenn Ihr noch mit mir diese Freuden hättet teilen können, so wäre dieser Nachmittag der vergnügteste hier verlebte gewesen! Aber das Beste kommt noch. Als ich seelenvergnügt nach Hause sang und sprang, sah ich, an einer Mauer der Vorstadt angekommen, wie die Sträflinge die Fläche derselben von Unkraut säuberten. Unter diesem war mir schon lange ein schönes, großes, schwefelgelbes Fingerkraut aufgefallen, das ich gar zu gern in der Nähe beschaut hätte, und als ich jetzt eins herunterholen konnte, fand sich's, denkt Euch meine freudige, staunende Überraschung! daß es Potentilla recta war, die Schenk in der ganzen Flora von Würzburg vergeblich gesucht zu haben angibt, und an der er so schon oft genug, ohne es zu ahnen, vorübergelaufen war. Natürlich lief ich schnurstracks mit meinem köstlichen Funde zu ihm und teilte ihm meine Entdeckung mit. Das Gesicht hättet Ihr sehen sollen! Anfangs schien der stumm überrascht; dann sagte er halb ärgerlich, halb freundlich: Sie sind doch halt'n Teufelskerl; wo habe 's das wieder aufgegabelt?" - - -

Meinen Stolz und meine Freude könnt Ihr Euch denken! - Schon am Sonntag wanderten wir mit einem netten Schweizer (Kaufmann, den ich schon in Berlin kennengelernt hatte) hinaus und ich mußte ihm meinen neu entdeckten Fundort zeigen; dann gingen wir noch einmal auf den Nikolausberg, wo ich noch eine, mir ganz neue, große Seltenheit, die langbegehrte Althaea hirsuta, fand. O gaudium! -

Ich habe übrigens jetzt ein nettes Paket Heu, das ungefähr 4 Bänden meines Herbariums entspricht, zusammengebracht, teils aus der Flora Herbipolitana, teils aus dem hiesigen Botanischen Garten, und bekomme oft ordentlich Angst vor dem Transport desselben nach Berlin! - Aber diese pflanzlichen Genüsse werden zum Teil noch durch die tierischen überwogen. Hierunter verstehe ich die vergleichende Anatomie, welches wirklich eine einzige Wissenschaft! Wir sezieren jetzt tüchtig Schnecken, Muscheln usw. . . .

Für Deinen Bericht über Dein Studium, die Geographische Gesellschaft usw., lieber Vater, den besten Dank. Wenn Herr Dingel in Stuttgart in seiner Schrift über Frankreich die Franzosen so heruntermacht, so bin ich mit ihm einverstanden. Ich kann das übermütige, glatte Volk nicht ausstehen und zanke mich mit Schenk darüber, der sie in Schutz nimmt. Ich kann mich nicht mit ihrem falschen, geschliffenen Wesen befreunden . . . .

30. Würzburg, 18. 7. 1853.

. . . Aus meinem gewöhnlichen stillen Alltagsleben bin ich vorige Woche ganz unvermutet einmal in die große Menschenwelt hineingeraten. Wie ich dazu gekommen bin, weiß ich selbst noch nicht. Am Sonntag den 10ten nämlich veranstaltete die Krone der hiesigen Professoren: Virchow, Kölliker, Müller, Scanzoni, Scherer usw., eine große Landpartie in den Guttenberger Wald. Jeder derselben hatte einige Freunde, namentlich junge Doktoren und besonders begünstigte Studenten, dazu eingeladen, welche er als seine Gäste dort abfütterte usw. Da ist nun Kölliker, weiß Gott auf welche Weise, auf den Gedanken geraten, auch mich unter seinen Gästen einzuladen; wie ich erschrocken bin, könnt Ihr Euch denken. Indes lief die Geschichte doch besser ab, als ich dachte. Früh um 7 Uhr brach die Partie auf, etwa 75 Personen stark, worunter zu meinem noch größern Schrecken etwa ein Drittel junge Mädchen waren. Indes habe ich auch diese Klippe (nämlich die Aufgabe, diese Damen zu unterhalten) glücklich zu umsegeln gewußt, so daß ich den ganzen Tag mit keiner ein Wort gesprochen . . .

Im Walde selbst war es sehr nett. Da es ein sehr besuchter Hauptvergnügungsort der Würzburger ist (erst gestern war wieder eine Partie von 1000-1100 Personen dort!), so sind dort verschiedene Hallen, Bänke und Tische mitten im Walde errichtet, auf einem freien, etwas erhöhten Platze, der rings von prächtigen alten Bäumen umgeben ist. Auf einem der größten ist oben eine Galerie angebracht, zu der man auf Treppen hinaufsteigt, und von der man eine weite Fernsicht über den sehr großen Wald hat.

Da packten nun die respektiven Professorenfrauen die sämtlichen Schätze ihrer Küche und Speisekammer vor den schmachtenden Gaumen aus und suchten diese zu erquicken, wobei eine die andere Professorin zu übertreffen suchte. Nur Frau Professor Kölliker, übrigens eine sehr schöne und noble Dame, hatte in diesen Wettstreit sich nicht hervorzutun gesucht. Es ist nämlich eine der sehr wenigen, aber desto mehr schlimmen und schwachen Seiten Köllikers, daß er etwas sehr knickerig ist (horridum exemplum!), und so kam es, daß wir Gäste Köllikers (unter denen auch meine meisten Bekannten, Bertheau, Hein, Gerhard, Passow, Lavalette usw. waren, was nachher zu manchen Späßen Veranlassung gab) mitten in diesem Schlaraffenleben der andern, wo es von Milch und Honig träufte, ziemlich im Trockenen saßen; namentlich muß ich gestehen, daß durch die schmalen Kosthäppchen und Rippchen mein Appetit eher gesteigert als verringert wurde; und doch nahm ich mir noch weniger als die andern! Indes wurden diese kleinen Leiden bald vergessen, als ich nachher eine klare Quelle im Walde, prächtige Erdbeeren fand und dann ein paar schöne, mir ganz neue Blumen, Rosa arvensis und Campanula Cervicaria.

Nach dem Frühstück sowie auch nach dem Mittagessen suchte das ganze Volk sich die Zeit auf die leidlichste Weise mit allerlei Spielen und Belustigungen zu vertreiben, als da sind: Blindekuh, Plumpsack, Tanzen, Singen, Schießen, Kegeln, Spazieren usw. Daß ich grade keine große Rolle dabei spielte, werdet Ihr mir wohl glauben. Indes habe ich doch mein möglichstes getan, um nicht zu sehr hinter den andern zurückzubleiben. Jedoch war ich schließlich herzlich froh, als endlich um 8 Uhr abends vier verschiedene Omnibusse und mehrere andre Wagen Anstalt zur Rückfahrt machten. Fast hätte ich einem Freiburger Schweizer beigestimmt, der das Bummeln den ganzen Tag so satt hatte, daß er sagte: er mochte lieber 8 Tage Anatomiediener sein, als alle Sonntage so schmählich totschlagen. Das beste von der ganzen Geschichte war noch, daß ich dabei Virchow kennenlernte, dem ich noch alte Grüße von Georg Reimer bestellte, an den er mir herzliche Gegengrüße bestellt hat. Dann amüsierte mich der herzliche, offene, süddeutsche Ton, der auf der ganzen Partie herrschte, bei der die zarten jungen Damen mit den Herren Bier tranken, schossen, kegelten usw. . . .

Am letzten Sonntage (gestern) war ich zum erstenmal auf der Festung oben. Dieselbe ist nämlich nur an zwei Festtagen jährlich dem Publikum geöffnet; gestern war die Ursache dazu das "ewige Gebet", eine sonderbare Einrichtung der katholischen Kirche, wonach das ganze Jahr ohne irgendwelche Pause in ganz Bayern an irgendeinem Orte gebetet werden muß (d. h. Worte ohne Sinn abgeleiert), wobei natürlich ein Ort nach dem andern an die Reihe kömmt. Dies ewige Gebet kam nun gestern auch auf die Festung herauf. Ich hatte eine sehr schöne Aussicht oben erwartet, sowie ich auch die interessante Einrichtung der Festungswerke zu sehen dachte, sah aber von allem diesem nichts, aus dem einfachen Grunde, weil überall Wachen ausgestellt waren, welche einen hinderten, anderswohin als nach der schauerlich schön verzierten Kapelle - oder aber nach dem Bierkeller beim Hausmeister - seine Schritte zu lenken. Der letztere zog auch mit seinem ausgezeichnet gut sein sollenden Biere die meisten Leute herauf. Ich danke ergebendst für diesen Genuß. -

Das herannahende Ende dieses Sommersemesters, welches mir rascher als je ein andres vergangen ist, gibt sich schon jetzt auf eine grauenhafte Weise zu erkennen. Die Professoren, die bis jetzt noch nicht den vierten Teil des Pensums durchgenommen haben, verdoppeln ihre Stunden und nehmen doch den Rest äußerst flüchtig und ungenau durch; dies gilt namentlich auch von Kölliker, der sich bei den niedersten Tieren, was mir allerdings sehr lieb war, so lange aufgehalten hat, daß er jetzt noch nicht einmal zu den Insekten gekommen ist. Von eigentlichem Fergtigwerden ist daher keine Rede. Ich bin jetzt auch mit Kölliker etwas näher bekannt geworden. Ich brachte ihm nämlich vorige Woche Eier von einer Maulwurfsgrille (Gryllotalpa), die ich im Botanischen Garten aufgegabelt hatte. Er forderte mich auf, dieselben sowie die Entwicklung der jungen Tierchen aus dem Ei zu untersuchen und stellte mit dazu ein Mikroskop zur Verfügung, mit dem ich jederzeit auf seinem Zimmer in der Anatomie arbeiten könne. Das tue ich denn jetzt auch täglich früh ein paar Stunden. Die Geschichte ist höchst interessant und könnte zu Resulaten führen, wenn ich nur nicht so schrecklich ungeschickt, auch im Präparieren, wär! - . . .

Den besten Gruß schickt Euer alter

Ernst H.

31. Würzburg, 28. 7. 1853.

Liebe Eltern!

. . . Diese Nervenphysiologie ist wirklich eine schnurrige und bunte Sache, aber höchst interessant; nur schade, daß man da wirklich noch mal zu der Überzeugung kommen muß oder müßte (eigentlich sollte), der ganze wunderbare menschliche Geist sei nichts als ein Stückchen graue Nervenmasse, von der weiße Fäden mit Knoten, deren jeder eine besondere Verstandesfunktion und wenigstens Sinnesfunktion besitzt, nach allen Richtungen in den Körper ausstraheln! - Ich bin noch nicht so weit - davon mündlich mehr. - . . .

In aller Liebe und Dankbarkeit

Euer treuer Ernst H.

32. Rehme, 18. 8. 1853.

Meine lieben Ziegenrücker!

. . . Um 7 1/2 Uhr abends traf ich hier ein und wurde von Mutter und Herrn Corthen am Bahnhof empfangen. Mama finde ich sehr wohl und munter und wir leben hier in einem sehr ländlichen Hause sehr nett und still und häuslich zusammen, was mir außerordentlich wohl tut. Überhaupt ist das hiesige Bad noch sehr natürlich, "unzivilisiert", wie Ihr es nennt, zwar gar nicht hübsch, auch bezüglich der Gegend ziemlich trist, aber sehr zum gemütlichen Stilleben geschaffen. Dies genießen wir denn auch von ganzem Herzen und lebe sowohl mit der lieben Mama als für mich sehr nett. Der ganze Vormittag ist meinem teuersten anorganischen Schatze, meinem unvergleichlichen Mikroskop gewidmet, wie es in Würzburg höchstens bei Virchow ein zweites gibt. Mit welcher überirdischen Seligkeit ich darin schwelge, könnt Ihr Euch gar nicht entfernt denken . . .

Nochmals die herzlichsten Grüße von Eurem

Ernst.

33. Rehme, 30. 8. 1853.

Mein lieber Vater!

. . . Wir sind zwar jetzt täglich nach allen Himmelsrichtungen planlos auf Entdeckungen ausgelaufen, haben aber auch nicht nur die allermindeste Schönheit der Gegend entdeckt. Noch weniger ist an der Flora. Außer einem einzigen Salzgras (Poa distans) an den Salinen habe ich auch nicht das geringste Neue oder auch nur Bemerkenswerte gefunden. Desto mehr wird seziert und mikroskopiert, namentlich Frösche, Mäuse, Schnecken, Heuschrecken und andre Insekten. Die Selikeit des Mikroskops braucht nicht weiter beschrieben zu werden. Es ist wirklich die höchste, die ich kenne . . .

Botanik treibe ich fast gar nicht, ausgenommen ist mikroskopische Phytotomie und Ansicht eines Herbarium Constantinopolitanum von Noë, welches eine russische Fürstin, Handjeri, die hier in der Nähe ein Gut hat und Corthens bekannt ist, auf die mir unbegreiflichste Weise mir zur Ansicht geschickt hat . . .

An Dich selbst den besten Gruß von Deinem Sohne

Ernst.

34. Ziegenrück, 4. 10. 1853.

Meine liebste Alte!

So ist denn nun die schöne Zeit unseres Zusammenseins einmal wieder vorbei und ich muß wieder an Dich schreiben, was mir anfangs immer recht schwer wird, weil ich Dir alles gar zu gerne gleich direkt mitteilen möchte. Indes hat mir doch das Zusammensein mit meinen beiden lieben Geschwistern die schwere Trennung von Euch diesmal etwas erleichtert, und es ist ja auch nett, wenn wir uns brieflich einander mitteilen können. Die ersten Tage nach Eurer Abreise wollte alles gar nicht recht gehen; Ihr fehltet uns überall; jetzt haben wir uns schon wieder eingelebt. Der Tag Eurer Abreise war für uns ein wahrer Pechtag. Nichts wollte recht gehen . . .

Den meisten Kummer und das größte Pech hatte aber ich. Denn erstens waren über Nacht wieder zwei von meinen so glücklich vermittels künstlicher Frühgeburt ans Licht der Welt beförderten Salamänderchen gestorben, so daß ich von meinen 30 Embryonen nur noch neun lebend habe. Zweitens hatte der eine Krebs während derselben Nacht seine edle Seele ausgehaucht und der zweite folgte ihm am Vormittag nach. Drittens endlich quälte ich mich den ganzen Vormittag vergeblich mit der Bestimmung eines allerliebsten Mooses ab, dessen Name ich heute noch nicht weiß. . . . Den folgenden Tag ging es schon besser. Er fing gleich für mich mit einem sehr schönen Ereignis an. Der Doktor schickte mir nämlich eine allerliebste Schlange, die er unterwegs gefangen hatte. Der Tierchen ist allerliebst und wird schon ganz zahm, säuft z. B. beim Kaffeetrinken sehr nett Milch aus der Untertasse. Nachmittag fand ich selbst auf einem Spaziergang in der Sornitz viele Salamander, so daß ich jetzt das ganze Waschbecken voll habe. Nach dem Regen kommen sie massenweis hervor. Wenn ich erst ein paar Dutzend voll habe, will ich sie einmachen (nämlich in Spiritus, um sie mitzunehmen). Am Sonntag fand ich wieder ein Paar in der dritten Biegung des Saaltals nach der Linkenmühle zu. Es war nachmittags sehr schön, und ich machte mit Karl einen sehr weiten Spaziergang in die Windungen des Saaltals hinter dem Conrad, wo unten die Fischerhütte liegt. . . .

Die täglichen Spaziergänge bekommen mir sehr gut. Ich fühle mich jetzt eigentlich sehr wohl, selbst abgesehen von dem allerliebsten Leben hier, dessen Herrlichkeit Ihr selbst nun kennengelernt habt. Es sollte mir orgentlich leid tun, wenn die Lieben nun schon so bald wieder aus Ziegenrück, diesem Urparadies der "unzivilisierten Menschheit", forkommen sollten, wie es bei dem schönen Anerbieten, das Karl heute erhalten hat, gar nicht unmöglich ist . . .

35. Ziegenrück, 13. 10. 1853.

Liebe Eltern!

. . . Wir befinden uns hier fortdauernd sehr munter und vergnügt; ich fühle mich jetzt gesünder und sorgloser als seit langer Zeit, woran die Ursache gewiß ebensosehr in der Abgeschlossenheit von allen äußern Menschentrubel als in der unerschöpflichen Herrlichkeit der Natur in dem hiesigen Bergparadies liegt; ja, die Hypochondrie ist jetzt stellenweis so in den Hintergrund gedrängt, daß ich wieder mit einer besonderen Art von Lebenslust und Sinn für die Zukunft in mein künftiges Leben, mag es nun fallen, wie es will, neugierig hineinzublicken wage, was mir seit langer Zeit vergangen war. Item, es ist hier mein Tusculanum! Wir haben nach Eurer Abreise, je nachdem die undurchdringlichen Nebel in den Tälern sich morgens senkten oder aufstiegen, abwechselnd noch mehrere wunderschöne Herbsttage, die sich von denen während Eures Hierseins nur durch größere Kälte, bunte Wälder und Herbstlichkeit unterschieden, und gelingen Landregen gehabt. An einem der erstern Tage, der wirklich ganz frühlingsmäßig war, machte ich mit Karl einen Ausflug nach der Hakenmühle, nach der wir Papa so gern einmal hingebracht hätten. Es ist allerdings ewas weit (wir gingen um 3 Uhr nachmittags aus und kamen erst abends um 7 Uhr wieder), aber der Weg dahin (über das Conrod und den Lasterberg, immer weiter westlich in die Schluchten hinein, längs der Saale hin) ist auch überaus lohnend; und wie herrlich liegt erst die Mühle selbst! in einer ganz engen, beiderseits von hohen Waldrändern eingeschlossenen, ganz einsamen Schlucht der Saale, über welche ein schwindliger Steg zu den Felsen des andern Ufers hinüberführt! Es ist ein sehr ansehnliches, hohes und mit vielen Nebengebäuden versehenes Haus, das einen in dieser Einsamkeit überrascht. . . .

Eine fast noch entzückendere Partie als diese (vorigen Sonnabend) machte ich vorgestern (Dienstag, den 11ten). Karl hatte nämlich früh Termin in der "Liebsten" (Liebschütz). Ich begleitete ihn früh um 7 Uhr über die Hemmkuppe und die Liebschützer Höhe (wo Papa ja wohl auch die schöne Aussicht nach Süden und Osten, namentlich in das Saaltal nach Lobenstein zu gesehen hat), auf welcher ich noch lange allein gemütlich herumbummelte und Moose und Flechten suchte. Dann ging ich auf dem alten Weg zurück und rutschte (halb kullerte ich) den nördlichen, der Hemmkuppe zugekehrten steilen Abhang herunter, wo ich unten an einen allerliebsten Bach gelangte, der sich hier in die Saale ergoß. Dann kletterte ich den steilen Abhang längs der Saale hin und gelangte so nach 2 Stunden an den Anfang des überaus herrlichen Ottergrunds, dessen Pracht mir schon Karl so schön geschildert hatte, der aber noch alle meine Erwartungen übertraf und sich dreist mit den schönsten und wildesten Bergbächen des Thüringer Waldes, ja sogar des Harzes vergleichen kann. Denn abgesehen von der reichen Flora der zierlichen Moose, dir mir den ganzen folgenden Tag Material fürs Mikroskop lieferten, besitzt dieser überaus schöne Ottergrund, der alle andern Naturschönheiten Ziegenrücks in sich vereint, eine solche Fülle und Abwechslung von prachtvollen Bäumen, düstern Bergabhängen, lieblichen Wiesengründen und romantischen Felspartien an dem Ufer seines wild über Blöcke dahintosenden und niedliche Kaskaden bildenden Bergbaches, daß ich mich kaum nach mehreren Stunden davon trennen konnte . . .

Am Sonntag haben wir mir Doktors "Steins Leben" zu lesen angefangen. Vorgestern abends waren wir unten, da der Frau Doktor Geburtstag war. Wir waren sehr vergnügt. Es sind doch ganz umgängliche Leute. Ich werde jetzt viel von ihnen mit meiner Misogynie aufgezogen. So veränderte der Doktor, als er mich gestern im Moose so vertieft fand, die Schöpfungsgeschichte folgendermaßen: "Und Gott sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; und er schuf um ihn Laubmoose und Lebermoose und Flechten und ein Mikroskop!"

Ich habe jetzt mit sehr viel Interesse und Nutzen die populäre Astronomie von Rauch, die Du, liebe Mitter, mir mitbrachtest, gelesen. Es ist ein sehr lehrreiches, vor allen sehr faßlich und verständlich für Laien geschriebenes Buch, das gewiß auch Dir, lieber Vater, die Hauptzüge der Astronomie vollkommen klar machen wird, was Du ja immer gewünscht hast. Lies es nur einmal. Ich hatte vorher auch kaum eine Idee davon und bin durch einmaliges Lesen dieses Buches sehr aufgeklärt worden.

Wenn Ihr Georg Quincke noch seht, so grüßt ihn herzlich und sagt ihm, er möchte doch, wenn es anginge, in Königsberg Physiologie bei Helmholtz hören. Er gilt in Würzburg für den exaktesten der jetzigen Physiologen, der namentlich alle in das Gebiet der Physik schlagenden Kapitel der Physiologie mit großer mathemathischer Genauigkeit behandelt hat . . .

Sehr viel haben wir an unsre arme, arme Tange B. gedacht und ihre Leiden von Herzen bedauert. Aber wenn ihr das nur etwas hülfe! Es ist doch gar zu hart und grausames Leid, nachdem es ihr im Sommer so viel besser gegangen, nun wieder ganz elend und flach dazuliegen. Da möchte man wirklich oft den lieben Gott fragen, wie er so etwas zugeben kann! -

Wir grüßen sie alle recht von Herzen und lassen ihr baldige Linderung der Qual wünschen, wozu Gott helfen möge! . . .

Die besten Grüße von Eurem alten Ernst H.

36. Würzburg, 26. 10. 1853.

Liebste Eltern!

. . . Ich fuhr vorgestern mittag von Z. ab mit dem Wagen des Rat Voigt aus Gesell, wo ich abends um 7 Uhr ankam. Ich besuchte erst den dortigen Apotheker Warnekroo, einen sehr netten und gebildeten jungen Mann, an dem mir der Doktor einen Brief mitgegeben hatte. Dann ging ich auch zu Frau Rat Voigt, welche mich ganz schrecklich freundlich aufnahm und verpflegte, auch partout wollte, daß ich zu Bette gehen sollte, was ich natürlich nicht annahm, da die Post um 1 Uhr weiterging. Ich verdämmerte die Nacht sehr gemütlich in der warmen Stube (während es draußen fror) bei einer hellen Lampe und einem wertvollen botanischen Werk (Krombholz', "Abbildungen der Schwämme" und Reichenbachs "Abbildungen der Gräser"), das mir der Apotheker geliehen hatte. Früh um 4 Uhr kam ich in Hof an, von wo der Zug um 6 Uhr abging. Die ganze Reise verlief ohne Merkwürdigkeiten, ausgenommen, daß ich zu derselben Strecke, zu der ich zu Ostern 2 Tage und 3 Nächte gebraucht, jetzt nur 1 1/2 Tag nötig hatte. Ich war bereits um 11 Uhr in Bamberg, um 1 Uhr in Schweinfurt und um 6 Uhr hier. Meine Wirtin empfing mich natürlich mit aller Zärtlichkeit und Freude, die ihrer echt bayrischen, gemütlichen Gutmütigkeit zu Gebote stand. Sie hatte schon seit 14 Tagen jeden Tag mich erwartet, mir schönes Obst gekauft und u. a. alle Schränke usw. mit den üppigsten Äpfeln und Weintrauben garniert, die ich mir nebst herrlichen Pflaumen heute bereits habe trefflich schmecken lassen. Das Obst ist hier ganz ausgezeichnet, wie alle Jahre, und ich will es recht genießen. Wie schade, daß Ihr es nicht mitgenießen könnt; es würde mir dann noch einmal so delikat schmecken. Ich schickte Euch gar zu gerne ein Kistchen mit Weintrauben, wenn nur nicht das Porto so exzessiv teuer wär'; auch würden sie wohl etwas zu sehr durcheinander geschüttelt werden. Eins der ersten Worte meiner Wirtin war: "O, Herr Doktor, über Ihre Kinderle werde Sie sich recht freue!" Es ergab sich, daß sie darunter meine Laubfroschfamilie verstand, deren Mitglieder von 1/2 Zoll Länge auch wirklich zu stattlichen Burschen von 1-1 1/2 Zoll herangewachsen und eine den ganzen Tag hell tönende Stimme erhalten hatten. Dafür hatten sie aber auch täglich Fliegen bekommen, die apart für sie en gros vom Bäcker geholt werden! . . .

Mein gestriger moralischer Katzenjammer hat schon heute einige Linderung erfahren, wovon zum Teil die bereits heute gemachten Antrittsvisiten Ursache sind. Es waren derer nicht weniger als fünf, und zwar: 1) bei Herrn Prof. Schenk, der mich wider Erwarten sehr freundschaftlich und wohlwollen empfing; 2) bei Herrn Prof. Kölliker; 3) bei Herrn Prof. Müller (einem jungen, sehr schüchternen, aber tüchtigen extraordinarius, der zusammen mit K. das Kränzchen dirigiert); 4) bei Herrn Dr. Gsell- Fels, einem sehr reichen jungen Schweizer, Dr. philos., der jetzt Medizin studiert, verheiratet und Büchernarr in einer Extension ist, wie ich sie noch nie gesehen. Alle neusten und kostbarsten Werke muß er gleich haben. Ich suche mir auch sein Wohlwollen möglichst warm zu halten, um seine exzellente Bibliothek benutzen zu können, die er mir ganz zur Disposition gestellt hat; 5) bei Herrn Dr. Leydig, einem sehr talentvollen, tüchtigen, netten und liebenswürdigen jungen Privatdozenten, der sich fast nur mit mikroskopischem Beobachten, namentlich der Gewebelehre und Entwickelung der Tiere, namentlich Salamander, beschäftigt. Mit diesem Dr. Leydig, stehe ich auf sehr freundschaftlichem Fuße, was wohl daran liegen mag, daß unsere Naturen manche verwandte Seiten zeigen; auch haben wir uns schon mehreremal unser Herz (nämlich das naturwissenschaftliche) ausgeschüttet. So ist er z. B. (trotzdem der in seinem Fach ein sehr tüchtiger und geschickter Beobachter ist) in seinem Äußern, namentlich hinsichtlich seines Umgangs mit Menschen, ziemlich unbeholfen und nicht selten so täppisch fast wie ich (woran wohl die überlangen Knochen seiner Extremitäten schuld sein mögen); ferner zeigt er gegenüber einer ungeheuren Liebe und Hingebung zur reinen Naturwissenschaft, namentlich der Anatomie und Physiologie, einen ebenso großen Abscheu gegen die Medizin überhaupt, vor allem aber gegen die ärztliche Praxis (er ist übrigens auch Dr. med.). Ferner liebt er ebensowenig wie ich den Trubel und die Faxen der zivilisierten Menschheit, ist am seligsten bei seinen Beestern und seinem Mikroskop, ist auch hypochondrisch, usw. usw. usw.

So schimpfte er z. H. heute, wo ich ihn unwohl antraf, sehr über die Scharlatanerie der Medizin, die andern Leuten zu helfen verspreche, aber sich selbst nicht einmal helfen könne. Er ist der Sohn ganz armer Eltern und hat sich aus den dürftigsten Verhältnissen so tüchtig herausgearbeitet; er war so arm, daß er während seiner Studienzeit ein ganzes Jahr nur von Brot hat leben müssen. Infolgedessen ist seine Stellung sehr abhängig; um nur nicht zu verhungern, muß er vor mehreren Professoren, die nicht halb so tüchtig sind als er, ergebene Kratzfüße machen und mühevolle Arbeiten für sie ausführen . . . Auch heute klagte er mir wieder sein Leid und wie sehr abhängig doch die Stellung eines armen Privatdozenten sei. Als ich ihn heute verließ, schenkte er mir zwei von seinen kleinen neuesten Abhandlungen, über die Anatomie und Histologie eines Fisches (Polypterus bichir) und einer Blattlaus (Coccus herperidum), wie er mir auch schon vor seiner Abreise die Beschreibung eines von ihm neu entdeckten, niedlichen Schmarotzerkrebses (Doridicola agilis) geschenkt hatte. Ich denke, mit diesem netten Mann noch recht bekannt zu werden und viel von ihm zu lernen . . .

37. Würzburg, 1. 11. 1853.

Meine lieben Eheleutchen!

. . . Meine neue Wohnung (Nr. 137 im II. Distrikt) gefällt mir sehr gut. Das Zimmer ist allerdings etwas klein, indes habe ich doch meine Sachen alle darin plazieren können und sogar eine Kiste noch unten behalten können. Um Euch eine genauere Vorstellung davon zu geben, füge ich einen Plan vom ganzen Ameublement mit bei, woraus Ihr sehen könnt, wie nett, gemütlich, klein mein jetziges Nest ist. Besonders gefällt mir darin, daß die liebe warme Sonne fast den ganzen Tag von früh 9 Uhr bis nachmittags 3 Uhr mit ihren besten Strahlen zu beiden Fenstern hereinscheint, da das ganze gegenüberstehende Haus klein ist und weit absteht. Dagegen habe ich in dem vorigen trüben und finsteren Loche, das ich eigentlich in einem Anfall von Melancholie bezog, den ganzen Sommer auch nicht eine Stunde die liebe Sonne gesehen. Auch zum Mikroskopieren habe ich jetzt schönes Licht. Mein Mikroskop hat hier riesigen Effekt gemacht und ich muß es aller Welt produzieren. Natürlich werde ich auch tüchtig darum beneidet. Die meisten meinen aber doch: Wenn sie ein ganzes Semester so hundemäßig leben sollten, wie ich getan, um dadurch ein Mikroskop von solchem Werte zu ersparen, so wollten sie lieber darauf verzichten! - . . .

38. Würzburg, 5. 11. 1853.

Mein liebes Pärchen!

. . . Die Würzburger sind im allgemeinen sehr außer sich, daß in diesem Semester so wenig "Herrn Doktors" kommen, kaum halb so viel als im vorigen Semester, nicht einmal 300 Mediziner! Es liegt dies daran, daß die beiden Hauptstellen im Juliuspital, die Professuren der Therapie und Chirurgie und der damit verbundenen Kliniken, immer noch von den alten, ziemlich untauglich gewordenen Leuten, dem stockblinden Marcus, und dem kindischen Textor, besetzt sind, welche jetzt endlich ganz abgesetzt werden sollen. Nun haben diese aber doch noch bleiben müssen, da Dietrich aus Erlangen und Ried aus Jena die Stellen abgelehnt haben. Deshalb kommen die Leute jetzt nur her, um Virchow (der wirklich in seiner Art ganz einzig und isoliert dasteht) und höchstens Kölliker zu hören, nicht aber wegen des schlecht besetzten Juliuspitals, das sonst die allermeisten anzog. Auch von meinen Bekannten sind viele nicht wiedergekommen, z. B. Bertheau, Zerroni usw. Dagegen habe ich an Hein, mit dem ich alle Kollegia gemeinschaftlich höre und meist neben ihm sitze, sowie an dem älteren Arnold von Frangue einen ziemlich nahen und netten Umgang sowie eine Masse äußerliche Bekannte. An einem rechten Intimus, den ich so sehr wünsche und vermisse, fehlt es mir dagegen noch gänzlich, und ich werde wohl nie einen finden. Frangue hat eine sehr schöne Tiroler Reise gemacht und mir dabei mit seinen Erzählungen wieder eine solche unruhige Reiselust und Alpensehnsucht, die ohnehin schon in den ganzen Ferien in mir rumorte, erweckt, daß ich törichterweise mir vornahm, es koste, was es wolle, nächsten Herbst, ehe ich für immer nach Norddeutschland zurückkehre, die Alpen sehen zu müssen und wäre es auch nur aus der Ferne, wie Moses das Gelobte Land! - . . .

Mit dem Moosesammeln ist es jetzt für einige Zeit vorbei. Die vielen Kollegien werden jetzt kaum Zeit genug bekommen können. In dieser Woche haben schon mehrere angefangen; die eigentliche Masse, und zwar das Grauenhafteste (nämlich spezielle Pathologie, wo ich auch anfangen werde, im chemischen Laboratorium bei Scherer praktisch zu arbeiten, d. h. zu kochen, Kleider anzubrennen, zu ätzen, zu explodieren usw. . . .

Seid herzlich umarmt und geküßt von Eurem treuen

Dankbaren Bruder Ernst.

39. Würzburg, Mittwoch 16. 11. 1953

Mein liebster Vater!

Dem Wunsche Mutters gemäß, die gern alles liest, was ich schreibe, und die mir schrieb, ich möchte alle nach Berlin an Dich gehenden Briefe über Ziegenrück schicken, erhälst Du auch Deinen Geburtstagsbrief diesmal nicht direkt von hier aus. Es ist dies nun schon das drittemal, daß ich an diesem Hauptfeste der Haeckelschen Familie persönlich nicht teilnehmen kann, Dir selbst, mein lieber Vater, nicht mit einem Kuß und einem Händedruck alles das sagen kann, was ich für Dich in Herz und Sinn trage und was noch so viele Worte doch nicht hinlänglich ausdrücken können. Aber auch so, denke ich, bauche ich nicht viel Worte zu machen über die innigen und treuen kindlichen Gesinnungen der herzlichsten Kindesliebe, die ich für Dich hege, und die grade an Deinem Geburtstage, als unserm höchsten Freudenfeste, sich zu besonderer Innigkeit steigern. Du weißt selbst, wie sehr ich mit Euch, liebste Eltern, mit meinen lieben Geschwistern, mit unserm ganzen teuern Familienleben innig verwachsen bin, ja, wie ich vielleicht zu einseitig und weltscheu im Zusammensein mit Euch mein höchstes Glück finde. Bei jeder neuen Trennung von Euch muß ich auch diesen Trennungsschmerz immer neu empfinden. Ich hatte nun gehofft, das Heimweh würde sich allmählich ganz geben. Aber immer und immer wieder, wenn ich diesen engen und heimischen Familienkreis verlassen habe, wird mir so weh ums Herz, ich bekomme eine so kindische und unnütze Furcht und Scheu vor der Außenwelt, daß ich mich oft selbst darüber schämen muß. So muß ich auch jetzt, nach diesen seligen ungetrübten Tagen der Freude, die ich in seliger Stille mit Euch verlebte, gar so sehnsüchtig nach diesem Elysium zurückdenken, obwohl mich der Trubel und die Ruhlosigkeit meiner neuen Zeiteinteilung auch kaum einen Augenblick zum Bewußtsein meiner Einsamkeit kommen lassen. O, wie schön ist doch das Familienleben, durch nichts zu ersetzen. Ich habe das jetzt so recht wieder bei meinem lieben glücklichen Bruder gesehen, über dessen Glück (auch über das Kommende) ich mich wirklich mehr freue, als ich es über ein eignes tun könnte. Was für eine hohe Freude muß es auch für Dich jetzt sein, noch hoffentlich glücklicher Großvater zu werden; ich gratuliere Dir dazu noch ganz besonders zu Deinem Geburtstag und wünsche recht von Herzen, daß Du noch an Deinen Enkeln die Freude Deines Alters erlebst und zur Freude der Enkel sowohl wie der Kinder noch recht lange und glückling als jugendlich frisches und muntres Familienhaupt fortlebst. Das einzige schmerzliche Gefühl (was mir aber auch oft sehr bittere und düstere Gedanken macht), das ich beim Ausspruch dieses Wunsches, ist das, daß ich selbst, mein lieber Vater, Dir bis jetzt noch so wenig Hoffnung und Freude verursacht habe, und daß mir dies wirklich um so weniger zu gelingen scheint, je mehr ich mir dazu alle mögliche Mühe und Sorge mache. Dessen kannst Du versichert sein und weißt es auch, daß es mein aufrichtiges und beständiges Streben ist, ein recht tüchtiger und braver Mann zu werden. Aber grade je mehr ich mit allen Sinnen und Gedanken darauf bedacht bin, destoweniger sehe ich irgendeinen Erfolg oder eine Aussicht dazu. Grade in dem wichtigsten Punkte, in der Einrichtung und Ausführung meines ganzen Lebensplans, stehe ich jetzt noch so ratlos und tatlos da wie nur je. Es wird jetzt, wie Du Dich vielleicht erinnerst, grade ein Jahr sein, daß ich Dir in der ersten Abneigung, die mir die Einsicht in das Studium der Medizin einflößte, in einem langen Briefe die Unmöglichkeit, Arzt zu werden und Medizin zu studieren, auseinandersetzte. Du suchtest mich damals mit mancherlei, zum Teil auch wohl ganz richtigen Gründen zu beschwichtigen, und diese hielten auch den Sommer über, wo ich mich mehr mit der reinen Naturwissenschaft beschäftigte, vollkommen vor. Ich hatte den bestimmten Vorsatz, das Studium, so schwer es mir auch werden würde, durchzusetzen. Jetzt aber, lieber Vater, stehe ich wieder auf demselben Standpunkt wie vor einem Jahr, wenn auch aus andern Gründen. Es liegt dies einfach daran, daß ich jetzt, wo ich einen tiefen Einblick in das Wissen und Treiben der praktischen Medizin zu tun anfange, die wahre Natur dieser edlen Kunst zu begreifen anfange. Früher war es, ich gestehe es gern zu, mehr ein äußerer, von reizbarer Nervenschwäche herrührender Ekel, der mir diese Seite des ärztlichen Lebens so traurig erscheinen ließ. Jetzt ist dieser zum größten Teil überwunden und würde sich vielleicht mit der Zeit noch mehr geben, wenngleich ich glaube, daß ich eine unbesiegbare Scheu vor vielen Krankheitsäußerungen nie überwinden werden. -

Aber eine ganz andere Ursache ist es, die mir jetzt mit voller Gewißheit die Unmöglichkeit, als Arzt zu wirken, vor Augen stellt. Dies ist nämlich die ungeheure Unvollkommenheit, Unzuverlässigkeit und Ungewißheit der ganzen Heilkunst, die es mir diesen Augenblick (es mag allerdings zu einseitig sein) fast unglaublich erscheinen läßt, daß ein gewissenhafter, sich selbst überall zur strengsten Rechenschaft ziehender Mann mit dieser "Kunst", die in hundert Fällen diese Wirkung, in hundert gleichen die grade entgegengesetzte hervorbringt, seinen Nebenmenschen quälen und mit ihnen gleichsam ins Blaue hinein experimentieren könne. In dieser Beziehung verhält sich die Medizin extrem entgegengesetzt der Mathematik. Hier ist alles in bestimmte, unveränderliche, ausnahmslose Formeln gebannt, dort ist von alledem nichts; jeder handelt noch seinem eignen Gutdünken; dem einen fällt dies, dem andern jenes ein; dort stirbt vielleicht ein Patient einem wissenschaftlich höchst ausgebildeten Arzte unter der Hand, während er hier von einem Quacksalber kuriert wird. Ich frage Dich selbst: Muß so nicht jeder Arzt in jedem Augenblick, wenn er an seine Pflicht und an sein Tun denkt, mit sich selbst in schweren Konflikt, in traurigen Zweifel geraten? -

Wenn ich meinen Bekannten dies exponiere, so lachen sie mich aus! Frage ich sie, was sie dagegen meinten, so sagen sie, ich sei nur tauglich, um natürliche Pflanzenfamilien zu schaffen und Moose zu mikroskopieren, oder Infusorienkrankheiten zu behandeln usw. Überhaupt scheinen auch sie sämtlich einig zu sein, daß ich zu nichts weniger als zum Arzt passe. Schon das ist ein großer Nachteil für mich, daß ich nicht von Jugend auf medizinische Gespräche mitangehört, mit einem Worte, mich in diese ganze Sphäre etwas hineingelebt habe, in welchem Falle sich meine meisten andern Bekannten, überhaupt, fast alle Studenten der Medizin befingen, sollten sie sich dies medizinische Begriffs- und Denkvermögen auch erst in den Kneipen erworben haben. Dadurch, daß ich viele Ausdrücke, die hier gang und gäbe sind und die die andern verstehen, ohne noch Pathologie gehört zu haben, ganz und gar nicht kenne und mit den gewöhnlichsten medizinischen Redensarten usw. noch gar nicht vertraut bin, geht mir zum Beispiel ein großer Teil des Virchowschen Kollegs verloren. Frage ich über so ewas andere, um mir Auskunft zu holen, so meinen sie, daß mir das doch nichts hülfe; ich könnte doch höchstens Professor werden; zu was Ordentlichem tauge ich gar nicht usw. Andre sind dabei wenigstens aufrichtiger und meinen: "Wenn Du Professor werden willst, ist das grade, wie wenn ein kleiner Junge König werden will." Dabei spreche ich gar nicht "Professor werden" und denke auch nicht daran. Nur kein Arzt! Lieber will ich den kleinen Jungens in der Klippschule das Einmaleins lehren. Eine andre Frage ist's freilich, ob ich das nun einmal begonnene Studium der Medizin auch trotz der gewissen Aussicht, es nie praktisch verwerten zu können, fortführen soll. Fast bleibt mir nichts andres übrig, da Ihr es nun einmal wünscht, und da es zu einer Umkehr, etwa zur Mathematik, um diese als Hilfswissenschaft der Naturwissenschaft zu treiben, fast wohl schon zu spät ist. Wenn ich ganz frei über mich selbst jetzt zu disponieren hätte, würde ich doch vielleicht noch das letztere tun, oder noch lieber mich mit aller mir zu Gebote stehenden Kräften einzig und allein auf das Studium der reinen Naturwissenschaft werfen, alle Zeit, die mir außer Essen, Trinken, Schlafen und Denken an Euch noch übrigbleibt einzig und allein darauf verwenden, mich ganz ex fundamento in ihr heimisch zu machen; und dann denke ich, müßte ich, bei der größten Liebe und Lust und der mir möglichsten (was freilich nicht viel sagt) Ausdauer es doch zu etwas Tüchtigem bringen. Die einzige Frage, und zwar die sehr schwere, wäre freilich, ob meine Kräfte dazu ausreichen. Nun bedenke aber dazu das ganze Feld der angewandten medizinischen Wissenschaft in seiner ungeheuren Ausdehnung, welches in der neuesten Zeit so ungeheuer ausgebildet und erweitert ist, daß die meisten in 4 Jahren sich nur einen ganz oberflächlichen Überblick erwerben können, bedenke den fabelhaften Wust von barbarischen Mitteln, Formen usw., die an sich schon ein Gedächtnis in Anspruch nehmende Massen rohen, halb unnützen, halb zweifelhaften, empirischen Materials - mir nebeln wirklich die Sinne, wenn ich daran denke, daß ich diesen ganzen ungeheurn, wüsten Kram, der noch dazu für mich speziell so manches Ekelhafte und Widerliche besitzt, zu dessen Aneignung ein halbes Leben gehört, wenn ich bedenke, daß ich dieses ganze ungeordnete Chaos mir ganz zu eigen machen soll - und zwar wozu? Um nichts und wieder nichts!! Denn einmal als Naturforscher große Reisen zu machen, hätte die Sache noch einigen Sinn. Aber so!? - Schade, schade, daß ich Dir nicht mündlich dies und vieles andre explizieren kann und schriftlich läßt sich die Sache nur so halb und unvollkommen darstellen! -

Nun vor allem eine herzliche Bitte, liebster Vater. Sei nicht im geringsten unwillig oder betrübt darüber, daß ich Dir so ganz offen und unverhohlen meine ganzen Empfindungen und Gedanken über diesen höchst wichtigen Gegenstand offenbart habe. Ich denke doch, es ist besser, ich spreche die Gesinnungen ganz offen aus, wenn sie Dich auch eben nicht erfreuen können (was mir herzlich leid und wehe tut), als daß ich sie Dir von Anfang an verberge und nachher Dir plötzlich andere zeige. Wenn Du es für das beste hälst, will ich ja gerne mit allen mir möglichen Fleiße (wenn auch ohne Lust und Aussicht auf Erfolg) das Studium der Medizin weiter fortreiben. Nur muß ich mich dann später, wenn es zu meinem entschiedenen Nachteil ausschlägt, vor jeder Verantwortung und vor jedem Vorwurf verwahren. Daß ich es mir übrigens angelegen sein lasse, die bestimmte Zeit gehörig zu benutzen, kannst Du aus folgendem Lektionsplan ersehen (pro Woche errechnet): 8-10 Sezierübungen (12), 10-11 materia medica (5), 11-1 praktisch (!) chemische Arbeiten im Laboratorium (8), 1-2 Mittagessen auf der Harmonie (auf Deinen ausdrücklichen Befehl; das Essen ist zwar teuer [21 Kr.], aber sehr gut, und ich lasse es mir so vortrefflich schmecken, daß meine Freunde meinen, der Wirt profitiere an mir keinen Kreuzer). 2-3 physiologische Chemie (2), 3-4 allgemeine Pathologie und Therapie mit besonderer Rücksicht auf pathologische Anatomie, bei Virchow (5), 4-5 theoretische Geburtshilfe bei Scanzoni (dem ersten deutschen Geburtshelfer) (5), von 5-6 ist die einzige freie Stunde am Tage; von 6-8 habe ich noch mikroskopischen Kursus in der Untersuchung normaler tierischer Gewebe bei Kölliker, Freitags und Samstags, an sich zwar höchst interessant und mir ganz besonders, jedoch aus dem Grunde weniger, weil ich fast alle die Sachen schon selbst mit meinem Mikroskop präpariert habe. Auch ist die Anleitung ohne systematische Regel und Ordnung; ich werde dabei nicht viel Neues profitieren. Alle diese Kollegia kosten zusammen nur 78 fl. Davon allein 25 das Laboratorium, 15 das Präparieren der Arterien, 12 der mikroskopische Kurs usw. über die einzelnen werde ich Dir später noch ausführlich schreiben. Sehr geistreich ist die Vorlesung von Scherer (einem der berühmtesten organischen Chemiker) über die medizinische Chemie, wo er die fabelhaftesten physiologischen und pathologischen Vorgänge im Leben des menschlichen Körpers auf die anorganischen, chemischen Gesetze zurückführt. Die materia medica (das einzige und erste Kolleg, das ich systematisch schieße, weil es gar zu schlecht ist) oder Heilmittellehre höre ich bei einem gewissen Rinecker, einem vollkommenen und ausgebildeten Hampelmann, Hanswurst, Scharlatan oder was Du sonst willst, dabei ein gräßlicher, oft ganz sinnloser Schwadroneur, Schwefler und Räsoneur, mit den komischsten Deklamationsbewegungen seinen schauerlichen Vortrag begleitend. Das einzige Gute an dem Kolleg ist, daß es sogleich in der ersten Stunde vollkommen geeignet ist, dem künftigen Arzt vollständig alle etwaigen, wenn auch nicht rosenfarbigen Illusionen zu vertreiben, die er sich etwa über seinen künftigen Beruf als Messias der leidenden Menschheit, über die Medizin oder Kunst zu heilen, machen könnte. Herr R. erklärt gleich bei der Eröffnung des Kollegs mit einer wirklich erstaunlichen und lächerlichen Naivität und Offenheit, daß sich doch niemand einbilden möge, die Ärzte seien dazu da oder beschäftigten sich damit, die Zahl der Krankheiten zu vermindern und sie zu vertreiben. Im Gegenteil, je höher die Medizin rationell steige, desto mehr vermehrten und vergrößerten sie sich. Die ganze Behandlung der Kranken sei eigentlich nur ein ganz unsystematisches Experimentieren, ein irrationelles Versuchen mit dem menschlichen Organismus, ein unnützes und wenigstens sehr zweideutiges Probieren, Hin- und Herraten usw. "Geht's mit dem Mittel nicht, geht's mit dem!" usw. Dabei erzählt er die gräulichsten Zoten und Geschichten, wie junge, nicht ganz sattelfeste Ärzte durch unüberlegte Dosen gesunde Leute krank und unglücklich gemacht haben, kurz, daß mein Herz und Gewissen schlägt, wenn ich daran denke. Daß eine solche Vorlesung geeignet ist, auch einen, der von vornherein mehr Neigung zur Medizin hat als ich, dieselbe gänzlich zu vertreiben, kannst Du mir glauben. Mir ist dabei manches neue Licht aufgegangen. Ich begreife jetzt wenigstens, wie die meisten Ärzte die Chirurgie, die mir früher das Schrecklichste war, wegen ihrer materiellen Sicherheit bei weiten diesem planlosen Spielen mit dem menschlichen Leben vorziehen können. Und diese materia medica, die Heilmethode ist es, auf die ich noch am meisten bei meiner ärztlichen Wirksamkeit gehofft hatte!!

Das Hauptkollegium in diesem Semester ist die allgemeine pathologische Anatomie bei Virchow, weswegen (sowie wegen der Sezieranstalten) ich auch allein hier geblieben bin. Dies Kolleg ist so einzig in seiner Art, daß ich Dir unmöglich jetzt schon ein vollständiges Bild davon geben kann. Jetzt nur einiges Äußerliche darüber. Das Kolleg behandelt größtenteils Sachen, die noch gar nicht gedruckt sind und die von Virchow selbst erst neu entdeckt sind. Aus diesem Grunde ist auch der Andrang dazu ein ganz ungeheurer. Der sehr große, amphitheatralische Hörsaal mit weit über 100 Plätzen ist vollständig gefüllt. Während die andern Kollegien meist periodisch geschwänzt werden, sucht hier jeder womöglich auch nicht einmal zu fehlen, weil er hier Dinge hört, die er sonst nirgends erfährt und liest. Trotzdem aber fast alle hier anwesenden Mediziner das Kolleg fleißig besuchen, möchte ich doch dreist behaupten, daß kaum der zehnte Teil ihn nur einigermaßen versteht. Wenigstens gilt dies von der überschwenglich philosophischen Einleitung, die er jetzt gegeben hat, und die das Phänomen des Lebens, der Krankheiten und des Todes behandelt. Der Vortrag Virchows ist nämlich schwer, aber außerordentlich schön; ich habe noch nie solche prägnante Kürze, gedrungene Kraft, straffe Konsequenz, scharfe Logik und doch dabei höchst anschauliche Schilderung und anziehende Belebung des Vortrags gesehen, wie sie hier vereinigt ist. Aber andrerseits ist es auch, wenn man nicht gespannteste Aufmerksamkeit, eine gute philosophische und allgemeine Vorbildung mitbringt, sehr schwer, ihm ganz zu folgen, den roten Faden, der sich so schön durch alles hinzieht, zu behalten; namentlich wird das klare Verständnis sehr erschwert durch eine Masse dunkler, hochtrabender Ausdrücke, gelehrter Anspielungen, allzu häufigen Gebrauch von Fremdwörtern, die oft sehr überflüssig sind, usw. Die meisten der Kommilitonen schauen nur starr und wie vernichtet dieses Wunder an; freilich fällt von so einem Reichtum für jedem ein Bissen ab; aber wieviel Kleinodien gehen da verloren. Mir selbst wird es nur mit der größten Anstrengung und auf eine Weise möglich, das in der Stunde mit fast stenographischer Eile (daß mir nachher die Hand ganz lahm ist) Wort für Wort fast sinnlos und mechanisch Nachgeschriebene nachher einigermaßen zu ordnen, zu verdauen und anzueignen. Ich setze mich nämlich, sowie ich um 5 Uhr aus dem Kolleg komme, hin und suche mit Anspannung aller mir zu Gebote stehenden Geisteskräfte durch sorgsames Durchdenken und Ausarbeiten des empfangenen Stoffs mir Verständnis und Vertrautheit mit diesem Reichtum tiefer Gedanken zu erwerben. Freilich kostet das viel Schweiß und Zeit; unter 3-4 Stunden werde ich nicht mit der einen Stunde fertig, und kaue und verdaue ich den ganzen Abend bis um 11 daran. Aber dann merke ich auch den sichtbaren Nutzen. Übrigens scheint mir nur der Anfang zu unendlich schwer gewesen zu sein. Jetzt, wo er mehr ins Spezielle, namentlich die mikroskopische Betrachtung der Veränderungen, die die Gewebe des Körpers durch die Krankheiten erfahren, kömmt, wird er weit angenehmer und leichter verständlich als in der wirklich ganz philosophisch gehaltenen, aber gedankenschweren Einleitung, die das Wesen des Lebens, der Krankheit und des Todes behandelte und mich im höchsten Grade interessierte, wenngleich ich keineswegs ganz damit einverstanden bin. Virchow ist nämlich durch und durch Verstandesmensch, Rationalist und Materialist; das Leben betrachtet er als sie Summe der Funktionen der einzelnen, materiell, chemisch und anatomisch verschiedenen Organe. Der ganze lebende Körper zerfällt danach in eine Summe einzelner Lebensherde, deren spezifische Tätigkeiten an die Beschaffenheit ihrer Elementarteile, also in letzter Instanz an die Zellen, aus denen der ganze Körper besteht, gebunden ist. So ist die Seelentätigkeit die inhärierende Eigenschaft der lebenden Nervenzelle, die Bewegung das Resultat des Baues der Muskelfaserzelle usw. Mit der normalen physikalischen und chemischen Beschaffenheit dieser feinsten mikroskopischen Formelemente ist also ihre gesunde Lebenstätigkeit unabänderlich verbunden. Mit ihr steht und fällt sie. Die von diesen Zellen als sebstständigen, aber einfachsten Wesen ausgehende Lebenskraft ist es, welche die toten oder vielmehr latenten Kräfte der Materie, die schlummernden Kräfte der feinsten materiellen Teilchen, der Moleküle, zur Tätigkeit erweckt, vorerst gleichsam in ihren Dienst nimmt, um den Organismus zu bauen. Das Leben ist also das Resultat der einzelnen Zellenkräfte und der mit ihnen verbundenen Molekülenkräfte usw.

Wie leid tut es mir, daß ich Dir nicht diese ganze, wirklich höchst geistreich durchgeführte Ansicht von Virchow mitteilen und vollständig exponieren kann. Aber schriftlich geht das eben nicht. Du findest übrigens diese durchaus materialistische Anschauung jetzt ziemlich allgemein unter den ersten Naturforschern Deutschlands verbreitet. Mich interessierte sie in der Schärfe und Klarheit, mit der ich sie hier durch und durch erkennen lernte, außerordentlich, und wenngleich ich namentlich ihre Konsequenzen nicht alle teilen kann, so frappierte mich doch eben die Konsequenz, mit der die Schlüsse durchgeführt waren. Übrigens ließ sich Virchow grade über den Hauptpunkt, nämlich das Verhältnis der Seele zu diesem organischen Komplex selbstständiger, aber an die Materie gebundener Lebensherde, nicht näher aus. Jedoch werde ich dabei nicht viel verloren haben. Nach seiner Betrachtungsweise des Lebens und Todes kann man freilich mit der Seele bis jetzt nicht viel anfangen. Den Tod definiert er nämlich als "das Zurückkehren der chemischen Elemente, welche sich bei der Konstitution des Organismus zu den kompliziertesten, zusammengesetztesten und feinsten und höchsten Atomenkomplexen vereinigt habe, zu den höchst einfachen, binären Verbindungen (Wasser, Kohlensäure, Ammoniak usw.) der anorganischen Natur". Diese rationalistisch materielle Anschauungsweise der ganzen Lebenserscheinungen ist übrigens durch und durch Virchows ganzem Wesen entsprungen. Überall tritt in seinem ganzen Wort und Werk Dir der absolute Verstandesmensch mit klarer und schneidender Schärfe entgegen; tiefe Verachtung und höchst feinwitzige Verspottung Andersdenkender, religiöser Rationalismus oder noch mehr, politischer Radikalismus usw. (bekanntlich ist V. wegen seiner radikalen politischen Ansichten aus Berlin, wohin er sehr gern möchte, förmlich verbannt!), dabei außerordentliche Festigkeit des Charakters. Mich erinnert er mit seiner klaren logischen Schärfe, mit dem feinen, aber beißenden Witz, mit dem hohen Selbstbewußtsein oft sehr an Hiecke. In der Ausführung des Vortrags übertrifft er ihn fast noch. -

Außerordentlich hat mich die Definition der Krankheit angesprochen, die Virchow in der Einleitung gab. Er betrachtet nämlich alle pathologischen Erscheinungen als durchaus nicht spezifisch oder qualitativ, sondern vielmehr nur quantitativ von den normalen physiologischen verschieden. Das Außerordentliche, scheinbar Naturwidrige (praeter naturam liegende) der ersteren besteht entweder nur darin, daß normale Vorgänge sich übermäßig vergrößern und erweitern, oder darin daß eine Bildung an einem andern Orte des Körpers und zu einer andern Zeit auftritt, als sie es normal eigentlich sollte. Das Pathologische, Krankhafte ist also durchaus nicht etwas Besonderes, Eigentümliches, sondern vielmehr nur ein Überhandnehmen, die Grenzen des Gewöhnlichen Überschreiten des Normalen, Heterotopien oder Heterochronien derselben. Grade mich spricht diese Auffassung sehr an, weil ich bisher immer das Gegenteil davon geglaubt, nämlich die Krankheiten für etwas ganz abnormes, für sich Bestehendes, als besondere feindliche Kräfte angesehen hatte, woher sich auch zum Teil mein übergroßer Ekel und Abscheu dagegen datiert. Dies sind sie nun aber nach Virchows überzeugender Argumentation nicht. Keine eigentümlichen Kräfte walten in ihnen, die äußeren Krankheitserscheinungen sind vielmehr nur die Äußerungen der normalen Lebenskraft, welche sie als Reaktion gegen die von außen einwirkenden, ihr entgegentretenden äußern Krankheitsreize (noxae) ausübt. Übrigens darfst Du ja nicht denken, daß ich dadurch, und daß ich mit dem Begriff der Krankheit nun etwas mehr ausgesöhnt bin, etwa nur im geringsten mehr Lust hätte, mich mit ihnen abzugeben. Davor muß ich mich eifrigst verwahren. Auch wird das schöne Virchowsche Kolleg wenig dazu beitragen, da es sich fast gar nicht mit den Krankheiten selbst beschäftigt, sondern nur mit den chemischen und physikalischen Veränderungen, namentlich aber (was mir immer das Interessanteste ist) mit den histologischen mikroskopischen Formveränderungen, welche die Gewebe des menschlichen Körpers und ihre Elemente durch allgemeine Krankheitsreize erleiden, wie z. B. Entzündung usw. Also wird das Kolleg ein sehr interessantes, naturwissenschaftliches; aber durchaus eigentlich nicht medizinisches, wie denn V. auch durchaus kein Arzt oder Freund der Ärzte und ihrer Praxis ist, sondern nur ein sehr tüchtiger Naturforscher, Chemiker, Anatom, Mikrokopiker usw.

Nächst diesem in seiner Art einzigen Kollegium, das es wohl wert ist, daß man ganz allein um seinetwillen ein ganzes Semester hierbleibt, sind es vorzüglich die praktischen anatomischen und chemischen Arbeiten, die mich viel beschäftigen. An dem Sezieren habe ich jetzt sehr viel Geschmack gewonnen, da ich jetzt erst die feineren Gegenstände, nämlich Arterien, Venen und Nerven, an Spirituspräparaten ausarbeite. Bis jetzt hatte ich bloß Muskeln, Eingeweide und dergleichen präpariert, was ziemlich grob und langweilig ist. Diese feinen Bauverhältnisse des menschlichen Körpers, welche die höchste Weisheit, womit sie in - und durcheinander gefügt sind, die größte Bewunderung erregen, sind dagegen höchst interessant. Auch die ganz genaue und sorgfältige Präparation derselben das einzige Mittel, um sich eine topographische Kenntnis des Körperbaus (was grad' das Wichtigste ist) zu erwerben. Ich nehme mich daher jetzt sehr zusammen, um meine Flüchtigkeit und Ungeduld zu überwinden und habe auch (freilich mit viel Zeitaufwand, seit 14 Tagen täglich 2 Stunden) wider mein eignes Erwarten mit Geduld und Sorgfalt ein so schönes Präparat eines Arms zuwege gebracht, daß meine Bekannten sich ebenso wie ich selbst darüber wunderten, und daß Kölliker sagte: "Sie verfolgen ja die Nerven bis in die feinsten Primitivfasern" (die man nämlich nur bei 300maliger Vergrößerung sehen kann). Kein einziger Nerv, keine Arterie ist durchschnitten worden und das Ganze so übersichtlich, daß ich Lust hätte, es als Andenken in Spiritus aufzubewahren. Dabei habe ich noch eine spezielle Freude gehabt. An der Hand findet sich nämlich eine sehr merkwürdige Varietät, die Kölliker selbst noch nie gesehen hatte (der ramus dorsalis nervi ulnaris fehlt ganz und wird durch den ramus superficialis nervi radialis vollkommen ersetzt, der quer über die Hand wegläuft und alle fünf Finger versorgt. Gleichzeitig hört die Vena basilica über die Hand auf und wird durch die Vena cephalica vertreten). Auf diese Art bekomme ich jetzt eine ganz genaue Kenntnis des menschlichen Körpers, wie man sie durch keine Vorlesung und kein Buch sich erwerben kann, und wie sie mir als Naturwissenschaftler von höchstem Interesse ist, wenn ich sie auch keineswegs praktisch zu verwerten wünsche (etwa als Chirurg usw.). Auch macht es die Hand viel geschickter. -

Viel Freude macht mir auch das chemische Arbeiten in Scherers Laboratorium. Bis jetzt analysiere ich nur unorganische Stoffe. Da mische, menge, mansche, plansche, glühe, sprühe ich denn so, daß es nur eine Art hat. Als chemisches Habit ist dabei der alte Überrock, den ich von Dir mitgenommen hatte, wieder zu Ehren gekommen. Auch in der Chemie kann man nur wenig aus Büchern lernen; man muß selbst durch Experimente und Analysen in sie eindringen, wenn man den wahren Zusammenhang dieser merkwürdigen Wissenschaft ganz erfassen will. Daß ich übrigens bei dieser Menge des zu bewältigenden Materials, das mich buchstäblich von früh 8 Uhr bis abends 8 Uhr beschäftigt, keine Zeit zu andern Beschäftigungen, auch nicht einmal zu meinen liebsten Lieblingsstudien, Zeichnen und Mikroskopieren, Malen, Botanisieren usw. behalte, kannst Du Dir leicht selbst denken. Der Abend, der auf diesen Tag voll Trubel und Mischmasch folgt, ist dann ohnehin noch mit der Ausarbeitung der Virchowschen Stunde besetzt, so daß ich eigentlich schrecklicheren Zeitmangel als je leide, gar nicht zur Besinnung komme und mich, wenn ich abends nach 11 Uhr zu mir selbst komme, kaum noch zu fragen Zeit habe, was ich denn nun eigentlich im Laufe des Tages getan. Jedoch hat auch grade diese perpetuierliche, angestrengte Beschäftigung ihre sehr guten Seiten. So zwingt sie mich z. B. meine Aufmerksamkeit einmal ganz auf andre Gegenstände zu richten, bewahrt mich vor allzu genauem und doch im Grunde fruchtlosem Grübeln und Nachdenken über mich selbst und meine Zukunft und schützt mich auch, wenigstens etwas, vor Hypochondrie, zu der ich mehr Neigung als je habe, weshalb mich meine Bekannten oft tüchtig heruntermachen. So hat z. B. neulich in der propädeutischen Klinik einer auf die Frage des Professors den Studiosus Haeckel als Beispiel eines Urhypochonders angeführt! . . .

40. Würzburg, Sonntag 4. 12. 1853

Meine Liebe Mutter!

Ich benütze heute gleich die erste Sonntagsfrühe, um Deinen lieben, sehnlichst erwarteten Brief, den ich gestern abend erhielt, zu beantworten. Auch wenn er nicht gekommen wäre, hätte ich doch am heutigen Tage geschrieben, da ich mir diesen als letzten Termin gesetzt hatte, bis zu welchem ich mit dem Antworten warten wollte, immer jede Stunde der frohen Hoffnung lebend, durch eine "Entbindungsanzeige" überrascht zu werden. Wie ich aber aus Deinem gestrigen Briefe sehe, macht das liebe kleine Balg (oder vielmehr Bälglein) schrecklich lange und ist auch noch nicht in nächster Zeit zu erwarten. Also habe ich bis jetzt vergeblich jeden Tag hundert- und x- mal gedacht: "Heute gewiß erblickt auf dem Ziegenrücker Bergschlosse mein erster Neffe das Licht der Welt!" und bin also auch vergeblich in voriger Woche fast in jeder Zwischenstunde von der Anatomie nach Hause gelaufen, um dort möglicherweise die frohe Botschaft von dem endlichen Erscheinen des Stammhalters der Haeckelei vorzufinden. Nun, das lange Warten, was freilich dem Ungeduldigen etwas schwer wird, macht nichts, wenn das so lange auf sich warten lassende Munkelchen (homunculus) nur ein recht tüchtiger, fester, männlicher Kerl wird (was sein Onkel leider nicht immer ist!). Ich tröste mich immer mir dem Spruch: "Was lange währt, wird gut!" Ein paarmal habe ich sogar schon von meinem kleinen, allerliebsten Neffen höchst lebhaft geträumt, das eine Mal sah ich ihn in seiner ganzen Lebensgröße leibhaftig vor mir, wie er grade mit meinem Schatz (das ist mein Mikroskop) die Zellentheorie studierte, und glaubte in seinem Antlitz die unverkennbare Anlage zu einem großen Naturforscher zu erkennen (was er hoffentlich auch wirklch wird), das andre Mal vermischten sich im Traume auf höchst komische Art und Weise die Begriffe, nämlich meine jetzigen chemischen Beschäftigungen im laboratorio und eine Stelle aus dem zweiten Teil des "Faust", wo Wagner (wenn ich nicht irre) einen homunculus künstlich durch allerlei chemische Operationen (Kochen, Destillieren, Filtrieren, Mischen usw.) darzustellen sucht. Indem nun der phantastische Traumgott diese und mehrere andere Reminiszenzen in meinem Gehirn zusammenbrachte, schuf er durch Mischung derselben wirklich ein lustiges und komisches Bild: - ich sah mich nämlich selbst im Traum in Scherers Laboratorio lebhaft und erfolgreich damit beschäftigt, durch chemische Operationen aus kohlensaurer und phosphorsaurer Kalk- und Talkerde, Leim usw. einen künstlichen homunculus darzustellen, der schließlich, durch allerlei Niederschläge, Destillationen, Kristallisationen usw. geläutert und rektifiziert, als mein allerliebster Neveu vor mir stand, und mich mit seinen holden Kinderaugen gar lieblich anlächelte. Dies alles träumte ich so lebhaft, daß ich den andern Morgen beim Erwachen wirklich glaubte, mein Neffe sei schon angekommen und heute werde ich die Nachricht erhalten! Ich schreibe Dir diesen Kohl, der mich höchlich amüsiert hat, nur, damit Du siehst, daß ich nicht nur im Wachen bei Tage jede Stunde, sondern auch im Traum mit meinen Gedanken bei Euch Lieben bin und allezeit Euch in Herz und Sinn habe. Nun wünsche ich mir, daß der erste Traum recht bald und glücklich in Erfüllung geht und wir alle durch die Geburt eines kleinen Haeckelius erfreut werden, der ein tüchtiger Mann, ein genialer Naturforscher und ein glücklicher Reisender wird (das trefflichste Gemüt nicht zu vergessen!) . . .

Ich lebe jetzt wirklich im ganzen ungefähr so wie der ewige Jude: "Keine Ruh' bei Tag und Nacht, nichts was mir Vergnügen macht" - ausgenommen etwa das chemische Laboratorium, wo mir das praktische Chemizieren (ebenso wie das "höhere Sezieren") außerordentliche Freude macht, und etwa den mikroskopischen Kurs bei Kölliker. Letzteren könnte ich mir freilich, abgesehen von einigen kostbaren Präparaten, die ich nicht besitze, ebensogut oder besser selbst geben, als ihn dort hören. Es ist auch eigentlich mehr ein Rücksichts- oder Anstandskolleg wegen Kölliker. - . . .

Dieser allgemeine Zeitmangel erlaubt mir z. B. auch nicht, die herrlichen, mich speziell ansprechenden Ideen, welche der Urquacksalber, Scharlatan und Hampelmann Prof. Dr. Rinecker in seinem Kolleg (materia medica) über die edle Heilkunst im allgemeinen und im besonderen äußert, weiter zu verfolgen und auszubrüten, obwohl sie sehr geeignet sind, meine Liebe zur ärztlichen Praxis ins Unendliche zu steigern und als solche sehr nützlich wären. Dieser edle Menschenfreund beginnt fast jede Stunde mit einer ähnlichen Apostrophe wie die folgende, fast wörtlich nachgeschriebene: "Meine Herren! Wir kommen heute zur konstitutionellen Anwendung des Quecksilbers! Auch hier, wie überall in der Heilmittellehre, fehlt es durchaus an bestimmten Vorschriften und an gewissen Erfahrungen über die Anwendung, den Gebrauch und Nutzen desselben. Jeder Arzt macht sich vielmehr seine Regeln erst selbst und probiert erst an seinen Kranken heraus, wieviel von dem und dem er grade geben kann, ohne grade die Krankheit bis zum Tode zu verschlimmern. Ja meine Herren, das ist grade das Schöne und Anziehende an der ärztlichen Kunst, daß sie so ganz ohne feste und allgemeingültige Regel und Ordnung dasteht, daß jeder Arzt seine Kranken behandeln und ruinieren kann, wie es ihm beliebt. Gäbe es ein corpus materiale medicinae (analog dem corpus juris), wonach jeder Arzt seine Kranken unfehlbar kurieren könnte, dann möchte ich um's Himmels willen beileibe kein Arzt werden; das wäre wirklich langweilig und die Krankheiten verschwänden am Ende ganz oder vielmehr die edle Zunft der Ärzte, weil da jeder Kranke nach solchen allgemeinen Vorschriften sich selbst heilen könnte! Aber so! wie schön ist das! Kein Arzt kann den andern zur Rechenschaft ziehen, da nie zwei oder drei über eine Behandlungsweise einig sind, sondern jeder auf seine Faust kuriert. Der eine gibt das, der andre das! Man schreibt ellenlange Rezepte, welche nach etwas aussehen und im besten Falle nichts schaden, und schließlich, wenn der Kranke trotz der Apotheke durch seine eigne Naturheilkraft wieder gesund wird, wer hat die Ehre und den Nutzen davon? - Allein der Arzt, der doch im Grund meistens nicht weiß, mit was für einer Krankheit er es zu tun hat, was er geben soll usw. Ist so die Arzneikunst nicht eine schöne Wissenschaft?!

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Sonntag abend.

Die Ausrufungs- und Fragezeichen am Ende des vorigen Blattes, liebe Mutter, versetzten mich heute früh dermaßen in Nachdenken über das, was sie eigentlich bedeuten sollten und könnten, daß ich schließlich in den gewöhnlichen Jammer von wegen des Medizinstudieren verfiel, von welchem ich Dir, da es nun ein ziemlich abgedroschenes und trauriges (aber leider wahres!) Thema ist, weiter nichts berichten will, da es doch zu nichts führen würde. Um mich also zu zerstreuen,nahm ich mein schatziges Mikrosköpchen vor und habe mich heute wieder einmal nach Herzenlust satt dran gesehen. Es ist doch ein gar zu herrliches Ding! . . .

Am Sonnabend vor 14 Tagen haben mich meine Bekannten nolens volens auf den großen Harmonieball (zu Ehren Seiner Majestät Geburtstag) geschleppt! Was ich da für eine durch und durch passive traurige Figur gespielt, könnt Ihr Euch denken; zum großen Glück verschwand ich ganz unter der Menschenmasse und den andern Studenten, die fast sämtlich da waren. Ich habe mir dabei eigentlich nur das mir noch unbekannte, wirklich sehr schöne Lokal angesehen und mich über die tanzverrückten Menschen amüsiert, namentlich über die bodenlos poussierenden Studenten, welche bei den Damen (jungen wie alten) alles andere Männervolk, als z. B. Offiziere (die hier einen weit niederen Rang einnehmen), Beamte, Referendare usw. ausstachen und sie ganz allein beschäftigten. Nichts sieht sich aber komischer und verrückter an als ein Tanz, wenn man sich dabei die Ohren zuhält, so daß man die Musik nicht hört und die Leute so taktmäßig, wie von einem Geiste besessen, herumspringen sieht. Ich machte dies alte Experiment mit dem schönsten Erfolge und ergötzte mich lange an den komischen, umherhüpfenden Figuren. - Im übrigen hat mich der Ball so wenig angesprochen, daß ich für lange Zeit genug habe und mich auch nicht auf der Harmonie abonnieren werde, was ich anfangs in diesem Semester zu tun Lust hatte, wegen der zahlreichen (ein paar hundert) Zeitungen und Zeitschriften, die dort zu lesen sind. Ein solches Lesen nimmt einem auch zu viel Zeit . . .

41: Würzburg, Sonnabend 10. 12. 1853.

Herzliebe Mutter!

Die herzlichen Glückwünsche, welche ich gleich nach Empfang von der freudigen, längst ersehnten Nachricht von der Geburt meines Neffen (die ich infolge der Postbummelei erst heute abend erhielt) an mein liebes Ehepärchen niederschrieb, kann ich unmöglich abgehen lassen, ohne auch an Dich in Deiner neuen, schönen Würde als "Großmutter" zu begrüßen. Die ganze Titulatur in der Haeckelei ändert sich nun mit einemmal. Ich selbst komme mir als Onkel nun plötzlich so alt und verständig vor, daß ich wirklich den guten Vorsatz zu fassen imstande wäre, mich von diesem Tage an wirklich als Mann zu betragen . . .

42. Würzburg, 21. 12. 1853.

Liebe Vater!

. . . Außer vielen andern Arbeiten, die ich für die Weihnachtsfeier aufgespart hatte, werde ich auch das Anerbieten Kölliker benutzen, auf seinem Zimmer zu mikroskopieren, wobei man sehr viel Material bekömmt. So sind jetzt mehrere Engländer (junge Dr. med) hier, welche den ganzen Tag nichts tun als in Köllikers Zimmer auf der Anatomie sitzen und mikroskopische Anatomie studieren. Sie haben dabei den Vorteil, daß ihnen alles möglich Material, was sie irgend brauchen und wünschen, sofort direkt zu Gebote steht, und daß sie in allem und wo sie irgendwie zweifelhaft sind, Kölliker, als den größten Histologen, gleich um Rat und Auskunft fragen können. Wie Du denken kannst, beneide ich diese Leute schrecklich und wagte dies auch gegen Kölliker zu äußern, als ich vorigen Sonntag vormittag auf seinem Zimmer mit ihm mikroskopierte und ihm ein mikroskopisches Präparat (Querschnitt durch den Nervus opticus) abzeichnete. Hierauf entgegnete er, daß mir diese Gelegenheit ja ebensogut geboten sei. Wenn ich nur Zeit hätte, sollte ich immer kommen. Freilich könne man diesen Zweig der Naturgeschichte (die Gewebelehre des Menschen und der Tiere) nur ex fundamento (wie eigentlich auch alle andern) inne bekommen, wenn man sich längere Zeit (etwa ein Semester) ganz ausschließlich und ununterbrochen damit beschäftige (wie es diese Engländer in der Tat auch tun). Ich habe nun dadurch den kühnen Gedanken bekommen, dieses freundliche Anerbieten anzunehmen und nicht nur nächste Weihnachts- und Osterferien, sondern auch den ganzen nächsten Sommer nichts als mikroskopische Anatomie zu treiben, höchstens dabei noch Chemie und die pathologische Anatomie bei Virchow (welche ebenfalls zum größten Teil mikroskopisch traktiert wird); wie gefällt Dir dieser Vorschlag? Ich würde es dann wenigstens in einem einzigen Fache zu etwas Ordentlichem bringen und jedenfalls, abgesehen von dem ungeheuren Vergnügen, den größten Nutzen davon haben. Ich glaube, daß grade das einer meiner Hauptfehler im Studienplan ist, daß ich mich mit zu vielerlei zugleich abgebe und alle möglichen Branchen gleich zusammen ganz erfassen möchte. Diesem Vorwurfe würde ich wenigstens in jenem Falle einmal entgehen. . . .

Ich gehe jetzt täglich um 8 Uhr früh von zu Haus fort und komme erst um 5 Uhr (und wenn ich Kurs bei Kölliker habe, gar erst um 8 Uhr abends) nach Hause, was mir, wenngleich ich mehr freie Stunden am Tage wünschte, doch auch ganz recht ist, da es mir zu Haus meist so schrecklich einsam vorkommt, ausgenommen bei meinem Schatz (d. i. mein göttliches Mikroskop) sitze oder Briefe an Euch schreibe. Die Abende verbringe ich mit Ausarbeiten des geistreichen Virchowschen Kollegs, welches mir aber lange nicht mehr so schwer wird wie anfangs. Wenn ich behaupten wollte, daß ich für den Stoff, alle die verschiedenen pathologischen Neubildungen, Geschwülste, Entartungen usw., irgendein Interesse hätte, so müßte ich dick lügen. Aber mit dem sensiblen Ekel davor macht es sich jetzt. Was soll man sich auch vor einem Geschwür, einer Eiterung usw. noch ekeln und verabscheuen, wenn man erfährt, daß diese schreckliche krankhafte Bildung doch nur einfach auf der Bildung und Vermehrung von Zellen in einem flüssigen Blastem beruht, was eigentlich eine höchst interessante Sache ist, wie das ganze Zellenleben. Ja, über die Zellentheorie geht nichts! Ich weiß nicht, was für eine sonderbare Anziehungskraft diese sonderbare Tatsache, daß die Zelle Ursprung und Konstituens aller organischen Körper ist, für mich speziell hat; aber es ist faktisch, ich betrachte dies wirklich als das größte Schöpfungswunder, über das ich mich gar nicht satt wundern und freuen kann. Eigentlich ist auch diese Zellengenese das, was alle Menschen am nächsten angeht, den wir alle, wie alle Pflanzen und Tiere, bestehen und entstehen ja nur aus Zellen. Das Ei ist ja nur eine einfache Zelle. Wie unbegreiflich stumpf und gleichgültig verhalten sich die meisten Menschen gegen diese wunderbare Tatsache, das Wunder aller Wunder. Für mich ist es das Anziehendste, was es gibt, und dem Studium und der Erforschung der Zelle möchte ich alle meine Kräfte widmen. Diese Neigung erscheint vielleicht allzu kühn, aber wenn ich mir nur in irgendeinem Punkte selbst vertrauen darf, so sagt mir ein geheimer dunkler Instinkt: "dies Feld ist das einzige, wo du es zu etwas bringen kannst!" Dieser Instinkt ist es, welcher mich von jeher so ungemein und extravagant zu den mikroskopischen Studien hinzog, welcher mir die Beschäftigung mit dem Mikroskop als das größte Glück und Vergnügen sein läßt. Und sonderbar, diese mikroskopische Anatomie, Gewebelehre, oder wie Du es sonst nennen willst, ist grade das, was die meisten Mediziner als eine lästige, schwere und unfruchtbare, wenngleich notige Disziplin verabscheuen und froh sind, wenn sie das Kolleg darüber los sind und in dem Kurs ungefähr gesehen haben, wie die Dingerchen aussehen. Und was das Sonderbarste ist, sie halten es für eine schwere Disziplin; das will mir aber nun erst gar nicht in den Sinn, denn mir erscheint es zugleich als die angenehmste und als die leichteste Sache. Ich weiß nicht, wie es kommt; aber ohne daß ich bis jetzt eigentlich mikroskopische Anatomie ordentlich geochst oder nur einmal Köllikers klassisches Buch durchgelesen hätte, weiß ich doch die Hauptsachen davon, als wären sie mir angeboren, als hätte ich sie im Kinderspiel relernt. Es ist sonderbar, aber wahr! Trotz meiner großen Ungeschicklichkeit, die mir auch hier beim feinen Präparieren oft sehr lästig wird, kommt mir doch im ganzen nichts leichter und lustiger vor als die Mikroskopie, während die andern darüber stöhnen und seufzen. Nein, über meine Zellen geht mir nichts! Halte diese Worte nicht für Eitelkeit oder Hochmut, lieber Vater! Wenn ich es mir in andern Stunden ruhig und kalt überlege, erscheint mir freilich diese ganze sanguinische Hoffnung, als Mikroskopiker (sei es nun der Pflanzen oder der Tiere; eher glaube ich noch letzteres) dereinst was leisten zu können, als törichte Vermessenheit. Denn wieviel der tüchtigsten Männer treiben dieses herrliche Fach! Verdanken doch Schwann, Schleiden, Kölliker, Virchow, Mohl, Schacht dieser köstlichsten aller Wissenschaften ihren ganzen Ruhm. Wieviel tüchtige Männer der jüngsten Epoche sind jetzt wieder an allen Orten mit der feinsten und sorgfältigsten Mikroskopie beschäftigt! Betrachte ich nur deren Leistungen, so sehe ich wohl bei ruhiger Überlegung ein, daß ich nie einen Platz neben ihnen würde gewinnen können; denn was wird so ein unselbstständiger, charakterloser und unbedeutender Schwächling, wie ich leider bin, der heut "himmelhoch jauchzt", morgen "zum Tode betrübt ist", was werde ich gegen und neben jener Anzahl ausgezeichneter sorgfältiger Forscher zuwege bringen! Sei dem, wie ihm will; jetzt will ich wenigstens den Rausch dieser Wonne ganz austrinken und mich in jeder Hinsicht in der Mikroskopie sattelfest machen. Ich will Euch wenigstens zeigen, daß ihr das herrliche, kostbare Mikroskop keinem geschenkt habt, der es nicht zu schätzen weiß. Mache ich damit auch keine neuen Entdeckungen, so gewährt es mir doch die seligsten Freudenstunden, Stunden, in denen ich mich ganz dem einen geliebten Objekte hingeben könnte!

Sehe ich mir nun morgen früh diese eben hingeworfenen Herzensergießungen an, so muß ich vielleicht wieder einsehen, daß eigentlich hinter all diesem Enthusiasmus für das Mikroskop und die Zelle nichts steckt als Lust und Freude an jener unermeßlichen und wunderbaren Welt des Kleinen, in der der große Schöpfer seine herrlichste Macht und Weisheit offenbart hat, eine Lust und Freude, wie sie am Ende jeder haben kann! - Nimm aber diese Worte für das, was sie sind, lieber Vater, für den Hauch einer vielleicht übertriebenen Begeisterung, welche mir von Zeit zu Zeit alle Glieder wie verzehrendes Feuer der Leidenschaft durchzieht, daß unwillkürlich meine Muskeln in tonische Kontraktionen geraten und ich in jauchzende Freudenrufe ausbreche, wie das z. B. der Fall vor ein paar Tagen war, als ich abends um 18 Uhr aus dem Kurs nach Hause kam, mit meinem Schieck einen sehr merkwürdigen, ganz durchsichtigen Hautbrustmuskel vom Frosch untersuchte und darin die schönsten Nervenendigungen (eins der subtilsten und feinsten Objekte) teil in Gestalt von Schlingen, teils feinen Spitzen fand. Ich war über dies Bild so entzückt, daß ich noch bis Mitternacht in der eiskalten Stube (wobei ich mich nebenbei noch etwas erkältete) mikroskopierte und zeichnete.

Solche herrlichen Augenblicke, worin ich die ganze edle Wissenschaft mit meinem ganze Sein und Wesen umfassen, in mich aufnehmen möchte, und wie sie mich jetzt öfter beglücken, sind wahre Sonnenblicke in meinem düstern Leben. Wie traurig und dunkel erscheint mir dagegen wieder am Tage das medizinische, praktische Treiben, die Behandlung der Menschen in den Kliniken usw., und wie sinkt mir da wieder aller und jeder Mut, und ich sehe mit nichts, als mit verzweifelten Aussichten, die Zukunft herannahen. Der einzige Trost ist dann der verrückte Gedanke, mich schlimmstenfalls mit meinem Mikroskop, das ich jetzt nicht mehr von der Seite lasse, in einen beliebigen Urwald von Guayana zurückzuziehen und dort nach Herzenslust Natur zu studieren. Vorige Woche machten mir z. B. mehrere Besuche in der Klinik und zufällig dabei stattfindende Vorgänge einen so heftigen und widerwärtigen Eindruck auf mein äußerst reizbares Nervensystem, daß ich mich ein paar Tage überhaupt unwohl fühlte und wirklich ernstliche Angst hatte, ich würde ein nervöses Fieber bekommen, was sich indes als überflüssige Hypochondrie herausgestellt hat. Und diese Kliniken und diese schreckliche spezielle Pathologie und Therapie sind es, die die meisten meiner Bekannten nächsten Sommer hören, und die ich eigentlich auch anfangen müßte. Wie glücklich wäre ich, könnte ich dafür ein Semester bei Kölliker ganz allein privatissime mikroskopieren. Mit dem letztern würden auch die Virchowschen Kollegien ganz harmonieren! Nein, noch einmal! Es geht mir doch nichts über die Zellentheorie und ihr Studium!

Vivat cellulae! Vivat Microscopia! - . . .

Lebe recht wohl, mein lieber Papa, nunmehr auch Großpapa, feire recht vergnügte und frohe Weihnachten mit den Lieben in Nr. 8 und vergiß dabei neben den Ziegenrücker Lieben auch nicht

Deinen Dich herzlich liebenden, alten Jungen

Ernst H.

Onkel, Dr. phil. et med. , Privatdozent der Mikroskopie.

43. Würzburg, am Neujahrsabend 1853

Meine geliebten Eltern!

. . . Unter den vielen Herzenswünschen, die ich stets, ganz besonders aber am Anfange dieses Jahres für Euch und Euer Wohlergehen hege, ist wohl der innigste und einer der am tiefsten gefühlten derjenige, daß Ihr an Eurem Jungen noch rechte Freude erleben möget! Das könnt Ihr versichert sein, daß er seinerseits alles, was in seinen Kräften steht, aufbieten wird, um dieser Pflicht möglichst nachzukommen und Eurer noch recht würdig zu werden! Bis jetzt habe ich Euch freilich noch viel Sorge gemacht und blicke noch selbst mit ebensoviel Sorge in die Zukunft. Allein ich fühle doch, daß ich in der letzten Zeit wenigstens etwas an Mut und Gottvertrauen zugenommen habe, und das wird mir ja schon weiter helfen . . .

Das Titelbildchen dieses Briefes stellt Ernst Heackel ungefähr so dar, wie er sich selbst vergangene Nacht in einem Traume - ob wirklich der wahren Zukunft? - erschienen ist. Ihr werdet Euch über den Wirrwarr und die sonderbare Komposition wohl nicht wenig wundern! Soviel ich daran ersehen kann, liegt die Medizin im Winkel, hinter dem Baum verborgen. "Des Lebens goldner Baum" ist und bleibt aber doch die Botanik! -

Er befindet sich gerade in dem klassischen Moment, indem er mit der rechten Hand und mit dem rechten Auge grade das zeichnet, was er im Mikroskop mit dem linken Auge (vor das er die Hand hält, um das Nebenlicht abzuschalten) sieht. Vor ihm auf dem Tische steht außerdem eine galvanische Batterie, Magnet, Pinzette, Deckgläser, chemische Reagenzgläser und dergl. naturwissenschaftlicher Hausrat mehr. Hinten links steht das Schreckbild der Zukunft, eine schwarze Schultafel mit einer ellenlangen mathematischen Formel, die noch auszurechnen ist. Im Vordergrund Berghaus' "Physikalischer Atlas", der überhaupt jetzt den ganzen Vordergrund von Ernst Haeckel selbst bildet! - . . .

Heute früh hörte ich wieder eine gute Predigt bei demselben alten Pfarrer, den ich schon am ersten Weihnachtsfeiertag gehört hatte. Er wandte den Text "Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir" auf die christliche und insbesondere protestantische Kirche, auf das Vaterland (unter der Voraussetzung, daß dieses Gott nicht verließe) und endlich auf die einzelnen christichen Brüder und Schwestern der Gemeinde an. Ich kann wohl sagen, daß dadurch wieder mancher erneute gute Vorsatz in mir weiter bestärkt und befestigt wurde, und ich in meinem festen Willen noch mehr beschloß, gewiß dieses Jahr mit mehr Charakterstärke und Gottvertrauen, wenn selbst unter noch ungünstigeren Verhältnissen als das vorige durchzuführen. Heute nachmittag machte ich, da es ganz außerordentlich mildes und warmes Maiwetter war, allein einen ziemlich großen Spaziergang. Ich ging über die Brücke und dann auf einen ziemlich hohen Berg, südwestlich von der Feste gelegen (nach Zell zu), von wo ich bei schönem Abendrot eine herrliche Aussicht über das Maintal genoß, und zwar über die Krümmung des Stroms, welche von der Stadt abwärts sich ganz westlich erstreckt und einen länglich- ovalen Talkessel bildet. Zu meiner Rechten lag hoch die Feste und weiter unten das Mainviertel, vor mir grade gegenüber ein bedeutender Höhenzug (auf dem rechten, jenseitigen Ufer), der an einer Stelle mit dunkelm Kiefernwald und einer alten Burgruine geziert war. Ganz links, wo der bedeutende Fabrikort Zell liegt, macht der Strom ein anmutige Krümmung wieder nach Norden und verliert sich dann in blauer Ferne (die mir immer das liebste ist, und die minutenlang sehnsüchtig ansehen muß) zwischen noch höheren Bergen. Die zwischenliegende Talsohle war schon ganz grün von junger Saat, wie auch die Bäume die schönsten Knospen haben und die Haselnüsse schon blühen. Es mochte ungefähr 8o R sein. Hätte man nicht ausdrücklich gewußt, daß es Neujahr wäre, so würde man eine April- oder Mailandschaft vor sich zu sehen geglaubt haben. Der Rasen ist überall schon ganz von Kotyledonen grün. Einen höchst anziehenden Eindruck machte die Ruhe, die über der ganzen Landschaft ausgebreitet lag und nur zuweilen durch das Läuten der Klosterglocken unterbrochen wurde. Was hier überhaupt zusammengeläutet wird, das glaubt Ihr gar nicht . . .

P. S. Indem ich Euch um Zusendung des Homer bat, hatte ich das griechische Original gemeint, das einen ganz andern Genuß gewährt als die Übersetzung. Indes lese ich ihn auch so einmal wieder ganz gern . . .

Herzlich Grüße an alle Freunde und Verwandte, die besten an Euch selbst, von Eurem alten

Ernst Haeckel.

44. Würzburg, 7. 2. 1854.

Liebe Eltern!

. . . Ich bleibe jetzt täglich bis 11 Uhr früh zu Haus und ochse wütend - Botanik! - Nämlich zu meinem Vortrag im physiologischen Kränzchen. Ich wollte anfangs einen Abschnitt der Pflanzengeographie nehmen (über den Einfluß des Klimas, namentlich der Wärme, auf die Pflanzenverteilung und ihre Verbreitungsbezirke), da habe ich eine Menge sehr interessanter kleiner Schriften durchgelesen, die zum Teil auch Dich, lieber Vater, sehr interessiert haben würden, da manche der hier einschlagenden Fragen von allgemein menschlichem Interesse sind. So ist es z. B. ein sehr wichtiger, in neuerer Zeit weiter ausgeführter Gedanke, daß die mit der Kultur Hand in Hand gehende Ausrottung der Wälder den allerverderblichsten Einfluß ausübt und nicht bloß auf die Existenz der die Wälder vernichtenden Völker selbst bedroht, sondern auch das davon betroffene Land ein für allemal unbewohnbar macht. Die Beispiele vom Orient, von den Heimatländern der alten Völker bestätigen dies in auffallender Weise. Indien (oder vielmehr Persien und Babylonien), Syrien, Palästina, Ägypten, Griechenland usw. waren im Altertum die reichsten und gesegnetesten Länder. Vergeblich sind aber alle Versuche, diese jetzt ganz verödeten und verwüsteten Ländermassen wieder fruchtbar und kulturfähig zu machen, da die Ausrottung der Wälder ein total anderes Klima nach sich gezogen hat, eine dürre, feuchtigkeitslose, trockne und heiße Atmosphäre, in der auf dem ausgedörrten Boden nur noch kümmerliche Wüstenpflanzen fortvegetieren können. Daß dies sich wirklich so verhält, ist historisch und naturwissenschaftlich nachgewiesen. Die ganz einfache Folgerung aber, welche wir daraus ziehen können, ist, daß es mit unserm westlichen Europa über kurz oder lang ebenso gehen wird; daß wir uns mit jedem neugefällten Wald (deren Zahl ohnehin schon so geschmolzen ist) eine neue wüste Landstrecke bereiten, auf der bald kein Getreide wegen Mangel an Feuchtigkeit (welche durchaus an die Wälder gebunden ist) mehr wird gebaut werden können; daß so mit der Zeit Hungersnöte und infolgedessen kolossale Auswanderungen in neue Länder (deren segensreicher Wälderschmuck noch nicht der Axt der Zivilisation erlegen ist) eintreten werden, und daß so die Masse der kultivierten Völker, dem ewigen Zuge und Drange von Osten nach Westen folgend, allmählich in den neuen Weltteil übersiedeln wird (die jetzigen starken Auswanderungen sind nur der Anfang dazu), bis endlich auch dieser demselben Schicksal wie Europa und vor ihm Asien erlegen sein wird. - Und was dann? - Ja, das kann freilich niemand sagen!

Es kommt bei der naturwissenschaftlichen (physikalischen und botanischen) Behandlung dieser Lebensfrage also dasselbe Resultat heraus, welches der alte Wieck immer aus historischen und philosophischen Gründen zog, nämlich daß es mit Europa und seiner Hyperkultur bald aus sei, und daß der Strom der unaufhaltsamen Völkerwanderung Europa bald ebenso einsam und wüst als ausgebeutetes Feld hinter sich lassen werde, wie es einst mit Asien geschehen sei. Wenn ich nicht irre, warst Du damals immer der entgegengesetzten Meinung und bis es auch wohl jetzt noch. Ich muß gestehen, daß ich nach dem, was ich darüber jetzt gelesen und gedacht, doch auch mehr zu der andern Ansicht hinneige (nämlich daß Europa sowohl durch jene physische Verödung, infolge der Waldausrottung, wodurch das Klima entschieden viel heißer, trockner, unfruchtbarer wird, als auch besonders durch seine moralische Verderbnis, die immer unausbleibliche Folge der Hyperzivilisation ist, in nicht so gar langer Zeit, wenigstens teilweis, zugrunde gehen wird) . . .

Am 28. Januar wurde hier ein junger Privatdozent habilitiert (Karl Gegenbaur), und zwar wieder für vergleichende Anatomie und Histologie! - Wenn nur nicht gar so viele Leute sich auf dies schöne Fach legen wollten! Da bleibt gar kein Platz für andere Leute, und was soll am Ende aus allen privatim docentibus werden? -

Übrigens ist jener Herr Dr. Gegenbaur ein recht gescheuter und geschickter Kerl, der hübsch zeichnet, mit Kölliker und Müller in Messina war und sich länger als 1 Jahr dort aufgehalten hat, namentlich um Medusen, Polypen und andre niedre Seetiere zu beobachten. Die Habilitationsschrift handelte über den Generationswechsel dieser Tiere . . .

Nun liebe Eltern, lebt recht wohl, grüßt alle Freunde und Verwandte und behaltet lieb

Euren alten Ernst.

45. Würzburg, 16. Februar 1854. E. H:

(Eigene Buß- Predigt des 20jährigen.)

Lieber Ernst Haeckel!

Du beginnst heute das dritte Dezennium deines irdischen Lebens, und es ist deine Pflicht, an diesem hochwichtigen Tage einen Blick auf dein vergangenes Dasein und deine zukünftigen Tage zu werfen, auf ersteres, um Gott für die unendlichen Wohltaten zu danken, die er dir hat zuteil werden lassen, und mit Reue zu empfinden, wie wenig du dich deren wert gezeigt hat, auf letztere aber, um hinfort andere Vorsätze für ein besseres, neues Leben zu fassen und dich ganz Gottes gnädiger Führung anzuvertrauen. Dein erster Gedanke am heutigen Tage muß inniger, aufrichtiger Dank gegen Gott sein, der dir die rauhe Bahn des Erdenlebens durch so viele große Güter Leibes und der Seele verschönert und erleichtert hat. Er hat dir die trefflichsten, rechtschaffendsten und liebevollsten Eltern geschenkt, die besten, treuesten, redlichsten Geschwister und Verwandte; er hat dir einen unendlich starken und süßen Trieb zur herrlichsten aller Wissenschaften, zur Erkenntnis seiner zahllosen Wunderwerke in der Natur, in deren wunderbarem Bau und Leben, im kleinsten wie im größten, sich seine Allmacht und Weisheit offenbart, eingeflößt; er hat dir die Kräfte, Mittel und Fähigkeiten verliehen, diesem tiefen Triebe folgend, dein ganzes Leben der herrlichen Naturwissenschaft zu weihen! Und wie hast du dich bis jetzt gegenüber diesen herrlichen Gottesgeschenken gezeigt? Undankbar, unerkenntlich, kleinmütig, verzweifelt, egoistisch! Du hast deine Eltern, die dich so herzlich und innig lieben, durch dein zweifelvolles, schwankendes Wesen öfters betrübt als erfreut; du hast die Freunde, die dir nahe treten wollten, durch dein einseitiges, eigensüchtiges und doch unentschiedenes, oft kindisches, unmännliches und lächerliches Treiben von dir abgestoßen!

Das muß alles von jetzt an durchaus anders werden! Du trittst heute dein 20. Lebensjahr an und wirst dadurch zum Mann! zum deutschen, christlichen Mann! Beweise dich aber auch dieser Ehre würdig. Lege das kindische, unentschlossene, unmännliche Wesen von dir ab; du machst dich dadurch lächerlich und verächtlich. Wozu gab dir Gott die freie Rede, deine unbeschränkte Freiheit als persönlicher Mensch? Gewiß nicht, um dich überall schwach und erbärmlich dem Trotz und der Willkür anderer zu unterwerfen. Denke an deinen Vater, wie er freimütig und unverhohlen Wahrheit und Recht verteidigt, wo und wann es gilt. Und wie zeigst du dich dieses prächtigen Mannes wert? Du schweigst, wo du reden solltest, zitterst, wo du vor edlem Zorn erbeben sollstest; wenn andere in deiner Gegenwart lächerliche, unwerte Reden führen oder Dinge tun, die dir dein Gewissen als Unrecht bezeichnet, so bist du still und unterwirfst dich der Menge oder stimmst gar gezwungen in ihr Unwesen ein. Einen solchen moralischen Zwang muß es aber für einen freien Jüngling nicht geben. Frei und ungehindert soll er vor den Niedrigsten wie vor den Höchsten Wahrheit und Recht verteidigen, keines Menschen Drohen und Rache fürchten. Denke daran, was Christus gesagt hat: "Wer nicht für mich ist, der ist wider mich!" Oder was ein andrer Spruch der Heiligen Schrift sagt: "Fürchte Gott, tue Recht und scheue niemand!" oder was dir dein trefflicher Freund Reinhold Hein immer zuruft: "Vor Menschen sei ein Mann, vor Gott ein Kind!" Ja, dies suche zu sein oder zu werden! Du hast dich bisher umgekehrt verhalten, wie alles verkehrt und am unrechten Ende angefangen ist, was du treibst. Während du dich den Menschen als schwaches Kind zeigtest, erschienst du vor Gott als Mann, aber nicht als der rechte, demütige, lautere Mann, sondern trotzig, undankbar, mürrisch, voll Selbstrechtfertigung, voll Vertrauenslosigkeit, ohne die rechte, christliche Hoffnung und Liebe. Auch hierin mußt du dich von Grund aus ändern!

Vor allem fasse Hoffnung, Mut, Zuversicht, das festeste Gottvertrauen und das rechte Selbstvertrauen. Wenn dir auch oft, nur allzuoft in vielen trüben, sorgenvollen Stunden die ganzen Aussichte, Umstände und verwickelten Kombinationen deines äußern künftigen Lebens ganz trost- und hoffnungslos erscheinen, wenn sich deinen Wünschen und allen Plänen, die du dir ausspinnst und mit den glühendsten Farben hoffender Jugend ausmalst, immer und immer wieder ein niederschlagendes und vernichtendes "Aber" entgegendrängt, so denke doch stets daran, daß nicht du, sondern Gott alle diese unentwirrbaren Knoten zu lösen hat und sie gewiß mit seiner wunderbaren Weisheit und Güte aufs herrlichste lösen wird. Und wenn dir aller Ausweg verschlossen scheint und du mußt dich doch entschließen, einen festen, bestimmten Weg ein für allemal zu wählen, dann flehe nur inbrünstig zu Gott; er wird dich nicht im Stiche lassen, sondern dich den besten, sichersten und passendsten Weg aus diesem Wirrsal hinausführen. Also nur Hoffnung und Glauben! Denke an den Wahlspruch Oliver Cromwells: "Derjenige kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin er will!" Vertrau auf Gott, er wird dich retten und führen, mit Sorgen und eigner Pein, mit eitler, schmerzensvoller und doch so unnützer Selbstquälerei läßt er sich gar nichts nehmen; es muß erbeten sein! -

Aber wie dir bisher der rechte, makellose und unumstößliche Glaube, die unbesiegbare, unerschütterliche christliche Hoffnung gemangelt haben, so ist es auch mit wahrer, reiner, christlicher Liebe, der Liebe gegen die Nächsten, gegen alle Menschen; deine Eltern und Verwandten liebst du freilich aufs zärtlichste und innigste; du möchtest gern Gut und Blut für sie aufgeben! Aber die Seinigen liebt auch der Schlechteste! Wie steht es aber mit deinem Verhalten gegen andere Menschen, die doch Gott auch zu deinen Brüdern in Christo gesetzt hat? Du mußt dir ohne weiteres gestehen, daß dein bisheriges Verhalten gegen sie nichts weniger als das rechte gewesen ist. Stets ist bei deinem Verhalten gegen andere, fremde Leute ein kalter, eigensüchtiger Egoismus, eine lieb- und rücksichtslose Verschlossenheit sichtbar geworden. Ist es da ein Wunder, daß du keinen rechten, aufrichtigen Freund finden kannst? Wirf einen Blick auf all dein Tun! Denkst du nicht immer zuerst mit sorgenvoller Selbstsucht an deinen leiblichen und geistigen Vorteil und erst nachher, oder auch dann nicht einmal, an die andern? Sollst du zum Vergnügen anderer, zu ihrem Nutzen beitragen, laden sie dich auf die freundlichste Weise ein, ihre Gesellschaft zu teilen, so ist dir das kleinste Opfer an Geld und vor allem an Zeit zu groß; immer denkst du; "Diese Zeit kann ich weit besser und für mich heilsamer anwenden! Was kann ich währenddessen alles tun und ausführen!" Allerdings kannst du die Zeit, die du andern Menschen widmen sollst, auch ganz allein für dich behalten und auf die Ausbildung deines Wissens und Verstandes wenden. Aber denke daran, daß auch ein anderes Gebiet des Geisteslebens kultiviert werden muß, und dies ist der Verkehr mit andern Menschen, unter welche uns Gott nicht ohne weise Absicht gesetzt hat, wie dir dein trefflicher Vater so oft sagt. Auch hier, im Umgang und Gespräch mit andern, bildest du deinen Geist aus, und zwar in der mannigfachsten, ausgebreitesten Richtung, wie es dir auf deiner trüben Studierstube, wo du dich nur zum Büchergelehrten ausbildest, nicht möglich ist. Allerdings hast du einen besonderen Trieb zur Einsamkeit, zur einsamen innigen Betrachtung der Gotteswunder in der Natur, in welcher du dich am wohlsten und ruhigsten fühlst. Aber bedenke, daß zu derselben Natur auch die Menschen gehören, gegen welche uns Gott, indem er uns in ihre Mitte setzte, mannigfache Verpflichtungen aufgelegt hat. Laß also jenes geizige, egoistische Wesen fahren, welches du dir selbst als Gewissenhaftigkeit vorspiegelst. Wenn du so auf dich selbst zurückgezogen bleiben willst, so wirst du nie deine Mission als Christenmensch gegen deine christlichen Mitbrüder erfüllen; und mit welchem Antlitz wirst du einst vor Gott treten, wenn er dir das anvertraute Pfund abverlangt, mit welchem du gewuchert haben sollst? -

Also noch einmal laß es dir gesagt sein: Liebe, Glaube, Hoffnung, diese drei köstlichen Wahlworte im Reiche Gottes, suche in dir zum Leben und Wesen zu bringen; laß fahren den Egoismus, den Kleinmut, die Selbstquälerei! Habe Gott stets vor Augen und im Herzen! Bete und arbeite! Dies ruft dir von ganzem Herzen beim Beginn deines 21. Jahres zu

Dein besseres Ich!

46. Würzburg, 17. 2. 1854.

Meine lieben, lieben Eltern!

Es ist dies der erste Brief, den Ihr von Eurem zwanzigjährigen Jungen, nunmehr Jüngling, bekommt. Wenn Ihr es auch diesen Zeilen nicht gleich ansehen solltet, daß sie mit dem gesetzten Verstande und der weisen Mäßigung eines Menschen, der bereits zwanzig Lebensjahre hinter sich hat, geschrieben sind, so müßt Ihr doch einstweilen den guten Willen für die Tat nehmen. Denn der Übergang vom Unverstand zum Verstand, von der Torheit zur Weisheit und vom Kinde zum Manne macht sich in der Tat nicht so plötzlich und rasch, wie man dies wohl wünschen möchte und sich vorsetzt. Daß aber der ernsteste und festeste Vorsatz, der beste und aufrichtigste Wille dazu bei mir vorhanden ist, daß ich jetzt ernstlich mit allen Kräften danach streben werde, ein recht tüchtiger, braver Mann zu werden, mir die Energie und Selbstständigkeit, die Beharrlichkeit und Zuversicht, die dazu nötig ist, zu erwerben, davon könnt Ihr vollkommen überzeugt sein und Ihr werdet Euch in Eurem alten Jungen nicht getäuscht finden. Es sind in der Tat noch viele und große Fehler, die ich an mir zu verbessern habe. Dahin rechne ich vor allem meine schwankende Unentschlossenheit und Unselbstständigkeit, die mich nie zu einem selbstständigen, freien und festen Entschluß kommen läßt, dann der hoffnungs- und zuversichtslose Blick in die Zukunft, der immer den schlimmsten und traurigsten Ausgang von jedem Unternehmen kommen sieht und die Tatkraft lähmt, indem er alles Selbstvertrauen raubt. Mein schlimmster Fehler ist aber vielleicht eine eigentümliche Art von Egoismus, der sich z. B. im Umgange mit andern Menschen, d. h. in meiner unüberwindlichen Menschenscheu, zeigt und auch wohl Ursache ist, daß ich bis jetzt immer vergeblich nach einem rechten Freunde mich umgesehen habe. Ihr seht hieraus wenigstens, liebe Eltern, daß ich meine schwachen Seiten recht wohl kenne; wie sollte ich dies auch nicht, da Euer treuer Elternsinn, Eure liebevolle Mühe, mich zu einem besseren und vollkommeneren Menschen herauszubilden, wofür ich Euch nie genug dankbar sein kann, mich stets auf diese Fehler aufmerksam macht, wie es auch die Bemerkungen meiner nähern Bekannten oft genug tun. Ein anderes ist es freilich, seine Fehler zu erkennen, ein anderes, sie wirklich zu bessern. Mit Gottes gnädiger Hilfe, denke ich, wird aber auch die wirkliche Besserung und Vervollkommnung der wahren Erkenntnis nachfolgen, und ich hoffe fest zu Gott, daß es mir unter seinem kräftigen Beistand gelingen wird, diese Schwachheiten immer mehr zu überwinden, endlich doch noch ein guter und tüchtiger Mann zu werden, und Euch, meine innigst geliebten Eltern, noch recht viele und große Freude zu machen, wozu er seinen Segen gebe! -

Eure liebevollen Briefe und Geschenke erhielt ich vorgestern früh und habe mich recht innig darüber gefreut. Wie bin ich doch vor so vielen anderen Menschen mit so guten, treuen Eltern beglückt, und welche hohen und reinen Genüsse sind mir in dem geistigen Umgang mit ihnen vergönnt, deren wohl die meisten andern, leider, entbehren müssen. Wie wenige von allen Altersgenossen, die ich hier kennengelernt habe, haben das Glück, in einer ununterbrochenen geistigen Gemeinschaft mit dem Elternhaus zu stehen und ganz mit ihm verwachsen zu sein, wie ich dessen stolz mich freuen kann. Was entbehren diese Armen nicht! Gewiß, liebe Eltern, dies sehe ich unbedingt als das höchste und nicht allein irdische, sondern auch ewige Gut, das mir Gott geschenkt hat, an, daß ich so unzertrennbar fest und innig mit Euch verwachsen bin und mir eine freie, geistige Mitteilung und Hingabe ohne Euch gar nicht denken kann. Da habe ich wohl täglich tausendmal Ursache, Gott inbrünstig für das Glück des Familienlebens zu danken und ihn zu bitten, daß er es mir noch recht, recht lange erhalten möge! Es hätte der äußeren materiellen Zeichen Eurer Liebe am gestrigen Tage wirklich nicht bedurft, um mich recht voll und tief des herrlichen Schatzes Eurer Elternliebe erfreuen und genießen zu lassen. Ich weiß, daß Ihr gewiß an meinem ganzen Festtage so mit Herz und Sinn bei mir gewesen seid, wie ich bei Euch, und daß Ihr mit mir für mich zu Gott bebetet habt. Doch auch für jene äußern Liebeszeichen habt den besten Dank; sie haben mich um so mehr erfreut, als sie ganz unerwartet kamen . . .

Du freust Dich, liebe Mutter, daß ich an Hein einen Herzensfreund, wie ich ihn mir längst gewünscht, gefunden habe. Zum Teil ist das allerdings richtig. Ich wenigstens wüßte unter allen Altersgenossen keinen, den ich in diesem Maße liebe und achte. Es ist wirklich ein gar zu lieber Mensch, für mich das wahre Ideal eines Studenten, wie er sein soll (wie ich aber leider gar nicht bin)! Was ich besonders an ihm bewundre, ist, daß er in allem das rechte Maß zu halten versteht, im Arbeiten wie im Vergnügen, in der Zeit, die er zu seiner eignen Ausbildung, wie in der, die er auf den Umgang mit andern Menschen verwendet. Trotzdem er grade kein besonders ausgezeichnetes Genie ist (obwohl ein sehr klarer und offner Kopf) und auch nicht einen unsinnigen Fleiß entwickelt (der durch zu große Anstrengung selbst wieder entkräftet), lernt und weiß er doch ungemein viel, kommt in allen Kollegien dem Vortrage vollständig nach und ist immer und überall bewandert und zu Hause, was man auch fragen mag. Dabei genießt er sein Studentenleben so recht mit jugendlicher Frische, mit immer heitern offnen Sinn, wie ich es mir immer als Ideal ausmale, das ich gar zu gern verwirklichen möchte, wenn sich mir nicht tausend "Abers" entgegendrängten . . .

Um meine Vorsätze auch wirklich einmal zu verwirklichen, habe ich gleich die ersten beiden Tage meines einundzwanzigsten Lebensjahres recht munter und hoffnungsvoll angetreten, wie ich überhaupt schon in den letzten Wochen immer in einer ziemliche fidelen Stimmung mich befand, was ich allein dem Vortrage verdanke, den ich im medizinischen Kränzchen zu halten gezwungen bin. Dieser hat mir nämlich nach langer Zeit, in welcher ich der Botanik, anderen Sternen, besonders der Zootomie folgend, etwas ungetreu geworden war, wieder einmal recht tief in diese herrliche Lieblingswissenschaft einzudringen Gelegenheit gegeben, und zwar grade in eins der interessantesten Felder, welches mir bisher ziemlich unbekannt war, in die subtile Kryptogamenkunde. Nachdem ich den Vortrag über Pflanzengeographie aufgegeben, wandte ich mich der Lehre von der Befruchtung dieser höchst interessanten Pflanzen zu, welche bis jetzt noch sehr in Dunkel gehüllt war und wo erst die neuesten Entdeckungen ganz neue und höchst glänzende und merkwürdige Resultate erzielt worden sind. Namentlich habe ich da ein ganz neues, von Schenk geborgtes Werk von Hofmeister studiert, welches mich in die höchste Bewunderung, das größte Staunen und Entzücken versetzt hat, sowohl durch die neuen, großartigen, darin enthaltenen Entdeckungen als durch den wirklich unübertrefflichen Grad von Gründlichkeit und Genauigkeit, der in der Untersuchung der Entwicklung jeder einzelnen Zelle sich zeigt und ganz für den deutschen, unermüdlichen Fleiß charakteristisch ist. Freilich hat diese klassiche Arbeit mit ihren höchst subtilen mikroskopischen Untersuchungen auch den Verfasser fast sein ganzes Augenlich gekostet, so daß er jetzt fast gar nichts mehr sehen kann. Nur gut, daß er wenigstens sehr vermögend ist! Dieser merkwürdige Mann war früher Buchhändler in Leipzig und besorgte am Tage seine Geschäfte, während er die Nacht durch zur mikroskopischen Untersuchung der Moose, Farnkräuter usw. und ihrer werkwürdigen Lebens- und Fortpflanzungserscheinungen verwandte. Später gab er sich ganz diesem herrlichen Fache hin, verdarb sich dabei aber durch allzu feine und anstrengende Präparationen die Augen. Dafür hat er freilich ein klassisches Werk geliefert.

Bei dieser Gelegenheit habe ich auch einige andere schöne, botanische Spezialwerke gelesen, namentlich Schachts "Pflanzenzelle", ein nicht minder ausgezeichnetes Werk, welches auf A. v. Humboldts Empfehlung die goldne Medaille erhalten hat und welches ich mir zum Geburtstag für die 5 Gulden, die ihr mir geschenkt, anschaffen will. Es war ein längst ersehnter Schatz, aus dem ich sehr viel lernen kann. Habt den schönsten Dank dafür! - Ich kann Euch gar nicht sagen, welche hohe Seligkeit das ist, wenn ich einmal, wie bei dieser Gelegenheit, mich ganz ungehindert in diese Schätze vertiefen kann. Es hüpft mir dann immer im eigentlichen Sinn des Wortes das Herz im Leibe, und ich möchte laut aufjubeln, vor allem aber Euch selbst diese reine Freude mitempfinden lassen. Solche Seligkeit habe ich jetzt auch öfter genossen, wenn ich mir auf der Universitätsbibliothek (wo ich täglich fast eine Stunde bin) kostbare Prachtwerke angesehen habe, z. B. Humboldts "Atlas pittoresque" von seiner Reise, "Vue des cordillres", Novae species plantarum", "Plantae aequinoctiales" usw., dann Cordas "Prachtflora der Pilze und Schimmelbildungen", vor allem aber ein Ding, was ich wirklich verschlungen habe und gar nicht satt kriegen kann. Es sind dies die wegen ihrer großen Naturtreue von Humboldt sehr gelobten "Vegetationsansichten von Kittlitz", 24 Stahlstiche in Atlasform, welche Landschaften aus dem Stillen Meer und überhaupt der Tropengegenden darstellen, und worin die wundervolle Tropenvegetation wirklich zum Verlieben schön und reizend dargestellt ist. Ich bin auch wirklich ganz vollständig verliebt in diese Pracht der Tropenpflanzen, kann mir mein größtes Glück nur darin denken, sie einmal von Angesicht zu Angesicht zu genießen, und bin dadurch wirklich in eine fixe Idee, wenn Ihr es so nennen wollt (meine Freunde nennen es "sanguinische Tollheit"), tief hineingeraten, welche mir, obgleich ich selbst an ihrer Ausführbarkeit zweifeln muß, doch insofern unendlich wert ist, als ich jetzt wieder darin einen festen Angelpunkt habe, um den sich alle meine Wünsche für die Zukunft drehen, und an dem sich die herrlichsten bunten Luftschlösser und Phantasiegebilde aufbauen können. Es will dieser kühne Wunsch, von dessen Ausführung ich Tag und Nacht träume, nichts mehr und nichts weniger, als wirklich die schon als Kind gehegten Träume von einer großen Reise in die Tropen verwirklichen, was also nichts Neues, sonders etwas ganz Altes ist. Nur treten diese Gedankenrezidive, wie alle Rückfälle, mit verstärkter Heftigkeit auf und sind jetzt nach dem Umständen in etwas eigentümlicher Weise modifiziert. Da mir nämlich mein Verstand folgendes bei ruhiger Überlegung sagt: "Du hast nicht die Mittel, eine solche Reise auf eigene Kosten zu machen, du hast nicht die Fähigkeiten und Talente, um sie auf Staatskosten (etwa vermittels eines Reisestipendiums) machen zu können, du hast endlich einen kranken Fuß, der dir diese Reise als Wanderung zu machen verbietet - auf der andern Seite siehst du wohl, daß mit dir in Deutschland, namentlich als praktischer Arzt, nichts zu machen ist" -, in Erwägung nämlich dieser kalten Gedanken habe ich folgenden heißen Plan entworfen (lacht nicht darüber!): Ich studiere jetzt notdürftig meine Medizin fertig, so daß ich den Dr. machen kann, vervollkommne mich in Botanik, Zoologie, Mikroskopie, Anatomie usw. soviel als möglich und suche dann eine Stelle als Schiffsarzt zu bekommen, um freie Überfahrt nach irgendeinem Tropenlande (nach Brasilien, Madagaskar, Borneo oder irgendein andres) zu erhalten, wo ich mich dann mit meiner Frau (nämlich meinem unzertrennlichen Mikroskop) in einen beliebigen Urwald hinsetze und nach Leibeskräften Tiere und Pflanzen anatomiere und mikroskopiere, alle möglichen zoologischen, botanischen, geographischen usw. Kenntnisse sammle, so daß mir diese Stoffe genug geben, um etwas Ordentliches zu leisten. Nahrungsmittel findet man dort hinreichend im Urwald (wie schon ein einziges kleines Stückchen mit Pisang bepflanzt für die Erhaltung eines einzigen Menschen genügt); nötigenfalls werde ich mir das Nötige durch Quacksalberei als praktischer Arzt (!), Wundarzt (!!) und Geburtshelfer (!!!) unter den Indianern verdienen. Habe ich mich dann ein paar Jahre lang hinlänglich an der herrlichen Flora und Fauna der Tropen satt gegessen und studiert, so versuche ich auf dieselbe Weise wieder zurückzukommen und kann dann entweder doch noch eine Privatdozentenstelle erhalten oder mir sonstwie durch Schreibereien ein notdürftiges Brot verdienen! -

Lache nicht, teurer Vater, ängstige Dich nicht, liebe Mutter, wenn Ihr diesen kollossalen Blödsinn lest. Noch ist die Ausführung desselben nicht da! Vorläufig male ich mir das Robinsonsche Projekt nur mit den schönsten, meiner Phantasie zu Gebote stehenden Farben aus, weil es mir die einzige Art und Weise zu sein scheint, in der noch etwas aus mir werden kann, obgleich ich selbst an der Möglichkeit der Ausführung zweifle. Dieser Traum, dies schöne, goldene Luftschloß befriedigt aber meinen Sinn gegenwärtig in jeder Weise. Er zeigt mir nämlich einen festen Zielpunkt, auf den ich lossteuern muß, er spiegelt mir die Verwirklichung meiner Lieblingswünsche vor, er spornt mich an, mich in den Lieblingswissenschaften möglichst zu vervollkommnen, er zwingt mich endlich moralisch, die verhaßte Medizin bis zu Ende fortzutreiben. In jeder dieser Hinsichten, namentlich aber in der letztern, kann diese schöne Traum mir nur nützlich sein, wenn auch aus ihm selbst nichts werden sollte, wie ich fast fürchte. Jedenfalls ist es noch lange Zeit bis dahin, wo ich mich definitiv entscheiden muß. Ich sehe aber wirklich nicht ein, wie ich anders zu etwas kommen sollte. Auch tritt mir diese fixe Idee mit jedem Male, wo ich irgend etwas dahin Einschlagendes sehe oder lese (wie z. B. gestern, wo ich mit dem größten Entzücken die Abbildungen tropischer Landschaften und Bäume in dem Prachtwerk von Martius über die Palmen angesehen habe), nur um so lebhafter und eindringlicher entgegen, so daß ich mich schon ganz darin eingelebt habe und wie vernarrt darin bin . . .

Nun liebe Eltern, nochmals für alle Eure Liebe und besonders noch dir, liebstes Mütterchen, den herzlichsten Dank von Eurem treuen

Ernst H.

47. Würzburg, 9. 3. 1854.

Meine lieben, lieben Alten!

. . . Die wahrhaft magische Beziehung, welche "daß trotz alles Dazwischenliegenden unvergessene und unvergeßliche Paradies der Kindheit, das Elternhaus, die Arme der Mutter" - (wie Schleiden sich am Schlusse von "Leben der Pflanze" ausdrückt) auf denjenigen ausüben, der von Gott mit guten, liebevollen, braven Eltern gesegnet ist, übertrifft wirklich alle andern Reize und Glückseligkeiten, an denen das arme schwache Menschenherz sich anklammert. Mir wenigstens geht es so, und zwar ebensowohl in trüben wie in guten Stunden. Habe ich eine recht große Freude, wie z. B. vor einigen Tagen, als ich unter dem Mikroskop einen Wald voll der reizendsten und zierlichsten Gestalten auf einer verfaulten Wurstschale voll Schimmeln entdeckte, so ist diese doch nie ganz rein und ungetrübt. Immer denke ich: ach, könntest du das doch deinen lieben Alten zeigen, damit sie sich mit dir freuen! - . . .

Ich habe einmal wieder recht gründliches Heimweh, wie ich es fast den ganzen Winter nicht so empfunden habe. Aber das hilft nun freilich nichts; der Entschluß, die Ferien hier zu bleiben, ist einmal gefaßt, und ich muß es versuchen, mir's so leicht wie möglich zu machen, wozu auch die tüchtige Arbeit, an der es nicht fehlen wird, gewiß das Ihrige beitragen wird. Außerdem werde ich aber, selbst abgesehen von der starken und tiefen Sehnsucht, die mich nach Haus zieht, wieder einmal von Unschlüssigkeit und Ungewißheit, was ich zunächst anfangen soll, gequält. Der Plan nämlich, den nächsten Sommer noch hier zu bleiben, ist in der neusten Zeit schwankend geworden, und zwar hauptsächlich aus zweierlei Gründen: erstens bin ich mit Virchow doch im ganzen nicht so zufrieden, wie ich erwartet habe und glaube auch nicht, daß seine Sommervorlesungen, die eigentlich erst für ganz eingefleischte ältere Mediziner ihren vollen Nutzen haben, viel eintragen und nützen werden. Zweitens ist es mir auch fraglich geworden, ob sich das privatissime Mikroskopieren bei Kölliker wird lange fortsetzen können. Trotz aller Bewunderung, die ich noch immer für Köllikers außerordentliche anatomische Talente und Fähigkeiten hege, hat doch der Wunsch, in nähere Verbindung mit ihm zu treten, ziemlich nachgelassen, wie es denn überhaupt das Schicksal aller meiner Ideale zu sein scheint, daß sie sich schließlich in ziemlich trübe Schatten auflösen. Außerdem würde ich auch noch, wollte ich nächsten Sommer fortgesetzt bei Kölliker mikroskopieren, ein privatissimum nolens volens bei ihm nehmen müssen, an dem im Grunde gar nichts ist, und wozu ich nicht die mindeste Lust habe. Kurz, dieses ganze Verhältnis ist mir mit einemmal in ziemlich unerfreulicher Weise dubiös und ungewiß geworden. Das ist doch wirklich recht traurig, daß einem so ein Ideal nach dem andern in des Lebens rauher, unerfreulicher Wirklichkeit zu nichts zerfließt. Mir ist es bis jetzt noch mit allen so gegangen, am meisten aber grade mit denen, von denen ich am meisten erwartet. So bin ich z. B. hinsichtlich Schleidens auf den Standpunkt aller andern deutschen Botaniker gekommen, den nämlich, daß an Schleiden, wie er jetzt ist, gar nichts, nicht das geringste zu rühmen und auszuzeichnen ist. Die ausgezeichneten und unübertrefflichen Arbeiten, durch die sich Schleiden als unbekannter junger Privatdozent so rasch und reißend einen großen, ewigen Namen verschaffte, werden in aller Zukunft unvergessen bleiben; aber seine Selbstständigkeit, und Originalität sind aufgeblasene Selbstsucht, dünkelvolle Verachtung aller andern, oft viel gründlicheren, genaueren, jedenfalls aber viel bescheideneren und umsichtigeren Forscher, und jetzt taugt Schleiden, dessen Originalität von Tag zu Tag mehr sinkt, nur noch dazu, um in möglichst groben Schimpfreden über alles, was ihm nicht von vornherein konveniert, loszuziehen, seine eignen ersten Ansichten, mögen sie längst durch spätere Untersuchungen vollkommen als unrichtig erwiesen worden sein, als unfehlbar festzuhalten und anzupreisen, kurz, um zu negieren und überall zu räsonieren. Doch ich komme da in meinem Traum über schöne luftige Ideale, die nachher in nichts zerfließen, ganz von meinem Thema ab. Ich wollte Euch erzählen, daß ich infolge jener obenerwähnten Umstande ein paar Tage ganz ernstlich daran dachte, den Sommer auf eine andere Universität zu gehen, und zwar entweder nach Berlin oder nach Breslau. Die meisten meiner Bekannten gehen jetzt nach ersterem; was ich selbst dort habe, brauche ich Euch mit keinem Wort weiter zu erwähnen; nur das will ich noch hinzusetzen, daß jetzt noch ein Magnet mehr mich nach Berlin zieht. Dies ist die Hoffnung, vielleicht durch Al. Braun, einen der ausgezeichnetesten Kryptogamenforscher, in dieses herrliche Gebiet der Naturwissenschaft, das mich bei Gelegenheit einer jetzigen Arbeit darüber ungemein stark angezogen hat, tiefer eingeführt zu werden. Außerdem hätte ich nächsten Sommer noch meinen Freund Hein da, und dann habe ich, wie ich Euch eigentlich nicht nochmals zu sagen brauche, wieder herzliche Sehnsucht, orgentlich mit Euch zusammen zu leben und Freud' und Leid mit Euch zu teilen. Nach Breslau würde ich wegen der medizinischen Klinik gehen, die dort, wie ich allgemein höre, ganz ausgezeichnet ist (bei Frerichs, bei dem ich dann auch spezielle Pathologie und Therapie hören würde), besonders für Anfänger. Es kommt nämlich, wenn man auf der Klinik zu praktizieren anfängt, sehr viel darauf an, daß die Zahl der Studenten möglichst gering ist, so daß die einzelnen sehr viel Fälle zu behandeln bekommen und auch spezielle Anleitung vom Lehrer selbst bekommen. Dies findet man nur in einer kleinen Universität vereint, und namentlich Breslau soll hierfür ganz ausgezeichnet sein. In Berlin findet man davon grade das Gegenteil; die Kliniken taugen hier für den Anfänger gar nichts. Wenn daher auch nächsten Sommer nichts aus Breslau wird, so wäre es nicht unmöglich, daß ich Sommer 55 dahin ginge. Jedenfalls würde ich mich noch näher erkundigen. Alle diese und andere dahin einschlagende Fragen habe ich mir in den letzten Wochen sehr viel und nach allen Dimensionen überlegt, mich auch viel bei ältern Medizinern erkundigt. Das Endresultat, was ich daraus ziehe, bleibt aber doch imer dasselbe, nämlich, daß ich den Sommer noch hier bleibe. Selbst wenn aus dem Mikroskopieren bei Kölliker nicht viel würde, bleiben mir doch andere, sehr nützliche Beschäftigungen im Überfluß. Als Hauptkollegia würde ich die spezielle pathologische Anatomie bei Virchow nehmen sowie dessen privatissime cursus, der nirgends seinesgleichen hat und die meisten hieher zieht. Um ihn aber gut benützen zu können, werde ich in den Ferien sehr viel spezielle Pathologie (wovon ich gar nichts verstehe) treiben müssen. In dieser letzen hoffe ich dann wenigstens insoweit heimisch zu werden, daß ich den Sommer auch mit der medizinischen Klinik anfangen kann. Dann würde ich auch vielleicht noch (ich zittre und schaudere, indem ich es hinschreibe) Chirurgie hören. Es kömmt nämlich an Stelle des ganz untüchtig gewordenen, alten Textor ein ganz junger Chirurg, Moravek aus Prag, her, der sehr gerühmt wird. Vielleicht könnte ich auch dann in dessen chirurgischer Klinik versuchen, meine schauderhafte Nervenreizbarkeit mir abzugewöhnen, was wirklich sehr not tut! Ihr seht also, daß sich schon gute Beschäftigung genug finden würde, abgesehen davon, daß ich noch viel präparieren will, und daß ich auch im Sinn habe, mich den naturwissenschaftlichen Fächern, namentlich Physik und Zoologie, zum examen philosophicum vorzubereiten. Letzeres würde ich dann Ostern 55 machen, nachdem ich im Winter noch Zoologie, Mineralogie, Materia medica und Philosophie in Berlin gehört habe. Jedenfalls bitte ich Euch, mir bald den Katalog der Berliner Vorlesungen vom vorigen Winter (53/54) sowie auch den vom nächsten Sommer herzuschicken . . .

Sehr hübsch ging es mir dieser Tage mit einem halb hypochondrischen Gedanken, dessen Geschichte vielleicht Papa amüsieren wird. Ich glaubte nämlich ein paar Tage nicht gehörigen Stuhlgang gehabt zu haben und verschrieb mir deshalb, um doch einmel meine großartigen (!!) medizinischen Kenntnisse praktisch zu verwerten, nachdem ich lange in meinem Rezeptbuch hin und her geblättert hatte, Pillen aus Rhabarber und Jalapawurzel zweistündlich zwei Stück zu nehmen, natürlich ganz nach der Vorschrift. Könnt ihr Euch aber meine lustige Überraschung denken, als meine Wirtin aus der Apotheke mit einer Schachtel voll Pillen von der Größe einer guten Flintenkugel zurückkam und fragte, ob die Ballen ein Pferd oder ein Ochse verschlucken sollte. Wo der Irrtum gelegen hat, weiß ich noch heute nicht; die Pillen waren ganz nach Vorschrift verschrieben. Genug Spaß habe ich aber damit gehabt, und wie meine Bekannten mich darüber geneckt haben, könnt Ihr Euch denken. Hoffentlich, mit Gottes Hilfe, nimmt meine ganze praktische Medizinerei ein so tragikomisches Ende wie dieser erste praktische Purgierversuch an meiner eignen Wenigkeit! -

Gestern abend war die Schlußsitzung unseres physikalischen und medizinischen Kränzchens, dessen Mitglieder von 60 auf 30 herabgeschmolzen waren. Unglücklicherweise mußte sich's auch grade noch so schicken, daß ich zu guter Letzt mit meinem Vortrag über die Kryptogamen drankam. Ich hatte schon ganz drum herum zu kommen gehofft. Übrigens ging's weit besser, als ich gedacht. Die ungeheure peinliche Angst, mit der ich mich fast 2 Monate täglich vor dieser Stunde fürchtete, war allerdings ziemlich überflüssig gewesen. Anfangs schien es zwar, als wollte mir die Stimme in der Kehle ersterben; nachdem aber erst die ersten auswendig gelernten Sätze heraus waren, ging der andre Teil ganz fließend und leicht ab; und zwar hielt ich den Vortrag ganz frei. Ich hatte mir bloß vorher das Gerippe im allgemeinen aufgeschrieben. Im übrigen hat mir, wie ich Euch schon schrieb, trotz der vielen Angst und Sorge die Geschichte auch viele Freude gemacht, indem sie mir Gelegenheit gab, die herrlichen Wunder im Leben der niedersten und scheinbar einfachsten Pflanzen näher kennenzulernen. - . . .

48. Würzburg, 20. 3. 1854.

Liebe Eltern!

. . . Hoffentlich wird es zu Ostern auch so herrliches Frühlingswetter sein, wie wir jetzt ein paar Wochen genossen haben. Ich habe dasselbe schon zu ein paar größeren Spaziergängen benutzt, z. B. am Sonntag (vor 8 Tagen) nach Versbach, wo ich im Wald zu meiner größten Freude ein paar allerliebste mikroskopische Moose, noch dazu eins mit schönen männlichen Blüten (Phascum cuspidatum) gefunden habe. Meinem Knie sind sie ganz gut bekommen. Ich suche es jetzt überhaupt wieder abzuhärten und an größere Touren zu gewöhnen, wenngleich es sich an und für sich ganz indifferent zeigt, weder besser noch schlechter wird. In der Stadt auf auf kleineren Spaziergängen gehe ich jetzt immer ohne Stock, was anfangs schwer war, jetzt aber ganz gut geht. Bei diesen mutigen Versuchen, das faule Knie wieder ordentlich in Gang zu bringen, treibt mich ein ungeheurer fester Stachel an; das ist nämlich die intensivste Sehnsucht, nächste Herbstferien die Alpen zu sehen. Ich weiß nicht, wie es zugeht; aber ganz wider Wissen und Wollen hat sich dieser ungeheure Wunsch schon so fest in mein Hirn eingenistet, daß ich ihn gar nicht wieder loswerden kann und meine Phantasie mir jetzt schon immer die schönsten Bilder der Alpenwelt, Landschaften, Pflanzen und Tiere vorspiegelt. Dabei denke ich: wird daraus diesen Sommer nichts, wo du noch in Süddeutschland bist, so stecke die kühne Idee nur ganz und gar auf! Ich bitte Dich wirklich, lieber Papa, Dir die Sache zu überlegen. Wird daraus diesen Herbst etwas, so will ich nachher mit der größten Geduld in dem sandigen, unerquicklichen Spree-Athen ausharren, solange Du willst. Kann ich dann doch an den süßen, unersetzlichen Reiseerinnerungen zehren! Da mir mein Knie aber eine eigentliche Alpenreise (wie sie Karl im Herbst 44 machte) unmöglich macht, so habe ich mir den Plan einstweilen in der Art ausgemalt: ich reise direkt von hier nach einer Südtiroler Alpe (in Südtirol finden sich nämlich die größten Pflanzenschätze vereint) und setze mich dort auf ein paar Wochen fest, lasse mich mit meinem Mikrsokop förmlich häuslich nieder. Von diesem festen Punkt aus veranstalte ich dann täglich kleine Streifzüge nach allen Himmelsgegenden, sammle Heu und Ungeziefer nach Herzenslust, zeichne, mikoskopiere mit aller Muße usw.; kurz, es soll himmlich werden! Einen festen Zielpunkt habe ich noch nicht, habe jedoch schon ans Fassatal, ans Schlerngebirge oder die Meraner Gegend usw. gedacht . . .

Daß du soviel schöne Konzerte hörst, lieber Vater, ist ja recht hübsch. Meine Bekannten haben mich vorige Woche auch in ein Harmoniekonzert geschleppt, wo ein berühmter ungarischer Violinist "Ernst" spielte, sehr bewundernswert namentlich Variationen des Karneval von Venedig. - Die einzige Musik, die mir aber eigentlich Freude machen könnte, ist das Volkslied mit Klavierbegleitung. Namentlich geht mir nichts über die sogenannten "Schnaderhüpfl", die herrlichen, naturfrischen Alpenlieder der Schweizer und Tiroler mit ihrem prächtigen Jubeln und Jodeln, daß einem das Herz hüpft. So hörte ich wieder gestern abend, wo ich mit Hein und Gerhard bei Schenks war, ein paar ganz reizende Liedchen dieser Art: "Von meinen Bergen muß ich scheiden" - "Wenn die Sonn' aufgeht" - "Der Frühling kommt" usw. usw. von jener jungen Dame (Freundin der Frau Professor Schenk), die auch vorigen Winter dort öfter uns oberbayrische Lieder vortrug. Das wäre wirklich das einzige von Musik, was ich selbst können möchte . . .

Am selben Tage war auch großer Maskenball auf der Harmonie. Als derselbe schon lange angefangen hatte, fiel mir plötzlich am Abend noch ein, mir auch den Kram einmal anzusehen. Einmal hatte ich noch nie einen Maskenball gesehen, und zweitens war mir grade an jenem Abend so traurig verstimmt zumute, daß ich zum Arbeiten gar nicht recht kommen konnte und dadurch etwas zerstreut zu werden dachte. Also gedacht und getan. Ich pumpe mir von einem Bekannten eine Eintrittskarte, gehe hin und amüsiere mich sehr gut über die verschiedenen Maskenaufzüge, komischen Tänze und die Abenteuer und Neckereien, in welche sich meine Bekannten verwickeln. Denkt Euch aber mein Erstaunen, als es gar nicht lange dauerte, bis ich selbst, der ich mir doch bewußt war, außer Frau Prof. Schenk und Frau Dr. Gsell-Fells keine weibliche Seele in ganz Würzburg nur dem Äußern nach zu kennen, von einem jungen, in eine schwarze Mantille, mit schwarzem Barett, zwei Rosen und zwei Straußenfedern darauf gekleideten, maskierten Mädchen angeredet werde. Sie warf mir vor, daß ich mich so wenig um die Damen kümmere, überhaupt so wenig unter die Menschen komme. Es sei dies durchaus gegen den Willen meiner Eltern, wie sie sehr wohl wisse usw. In dieser Weise ging es fort, wobei sie mir immer das abgeschlossenen tote Leben, in dem ich mich von allen Menschen scheu absondern solle, die Einseitigkeit und Traurigkeit desselben usw. usw. vorwarf und mir schließlich das Versprechen abnötigte, von nun an mehr unter die Menschen kommen zu wollen. Ich versprach es, wenn sie mir ihren Namen aufschreiben wolle, indem ich wirklich höchst neugierig war, dieses Wesen, von dessen wahrer Natur ich keine Ahnung hatte, wie ich auch in diesem Augenblick noch keine davon habe, kennenzulernen. Sie schrieb mir also ihren vermeintlichen Namen auf einen Zettel und verschwand dann im Gedränge, während ich den Namen zu lesen versuchte, den ich später als "Heiterkeit" entzifferte. Zu Anfang war ich natürlich schrecklich verblüfft und konnte kaum antworten. Nachher hat mich die Geschichte aber doch sehr amüsiert. Ich vermute, daß es eine Freundin eines meiner Bekannten (vermutlich von Frangué) gewesen ist, der sie mir auf dem Hals geschickt hat, um mir einmal die Leviten zu lesen. Denn sie erzählte mir auch mehrere Details, die nur einigen meiner Freunde bekannt waren. -

Übrigens will ich mir ihre Ermahnungen zu Herzen nehmen! . . .

Behaltet lieb wie bisher Euren treuen

alten Ernst.

49. Würzburg, Sonnabend 25. 3. 1854.

Meine herzlieben Eltern!

Was würdet Ihr dazu sagen, wenn ich nächsten Sommer nach Berlin käme? Hoffentlich freut Ihr Euch über diesen jetzt ganz unwiderruflich feststehenden Entschluß, der nicht das flüchtige Werk eines Augenblicks, sondern die Frucht monatelangen Überlegens ist, ebenso ungeheuer wie ich, der ich dies herrliche Glück, den nächsten Sommer wieder im lieben Elternhaus zu verleben, kaum noch fassen und mir denken kann. Wenn Ihr diesen Satz lest, werdet Ihr vermutlich kaum Euren Augen trauen und vielleicht sogar unwillig werden, daß ich den scheinbar so feststehenden Entschluß, nächsten Sommer noch hier zu bleiben, scheinbar so leichtsinnig aufgegeben habe. Dem ist aber nicht so. Erst hört und dann urteilt! Wie Ihr wißt, bewogen mit zum ferneren Hierbleiben namentlich drei Gründe: 1)das Virchowsche Kolleg, 2) die Aussicht, mich bei Kölliker privatissime in der Mikroskopie auszubilden, 3) endlich die Absicht, mit den Sezierübungen fertig zu werden. Die letztere ist dadurch erreicht, daß ich jetzt schon fast ganz fertig bin, jedenfalls in den nächsten 8 Tagen, wenn ich jeden Tag ordentlich benutze, damit fertig zu werden gedenke. Was die schönen Träume über privatissime bei K. Mikroskopieren betrifft, so ist es mit diesem für den nächsten Sommer jedenfalls Essig, aus triftigen Gründen, die ich Euch mündlich näher auseinandersetzen werden, drittens endlich das klassische Kolleg bei Virchow, namentlich der privatissime Kursus der pathologischen Anatomie (den man nur hier findet, sonst nirgends), war der Hauptmagnet, der mich hier noch festhielt; von ihm hoffte ich am meisten. Mit diesem aber verhält es sich folgendermaßen: nach dem einstimmigen Urteile aller älteren Studenten und Dr. med., die jenen Kurs gehört haben und ihn für das beste Kolleg, das es hier gibt, halten, mit einem Wort ganz entzückt davon sind, kann man den wahren Nutzen davon nur haben, wenn man bereits der speziellen Pathologie und Therapie vollkommen Meister ist und selbst schon Kliniker gehört hat. Bei mir ist aber, wie Ihr wißt, keines von beiden der Fall. Ich hatte die kühne Idee gehabt, diese nötigen Kenntnisse, zu deren Erwerbung Jahre gehören, mit gehöriger Ausdauer mir in der kurzen Ferienzeit einzupauken. Jetzt, wo ich diese Idee auszuführen anfing, bin ich von ihrer Unmöglichkeit überzeugt. Auch hatten mir andere dies schon vorher gesagt. Auch haben längst allem meine Bekannten einstimmig mir von jenem Wunsch, schon jetzt das Virchow-Kolleg zu hören abgeraten. Was mich aber jetzt definitiv bestimmt hat, es für jetzt aufzugeben, ist der (gewiß parteiische) Rat Virchows selbst. Jetzt würde ich gar nichts davon haben, als viel, viel verlorene Zeit und Mühe. Endlich hatte ich auch die Absicht, im Sommer die hiesigen Kliniken, sowohl medizinische als chirurgische, zu besuchen, ohne vorher die theoretischen Vorträge darüber gehört zu haben. Allerdings begehen diese Torheit sehr viele Kommilitonen; ich bin jetzt auch von der Unnützlichkeit dieser Absicht überzeugt. Um die Zahl der Umstände, welche mich von hier wegtreiben, vollzumachen, sind in der letzten Zeit hier unerwartete, mir sehr unangenehme Änderungen im Lektionskatalog des nächsten Sommers eingetreten, welche meinen ganzen, allerdings an sich schon sehr törichten Plan zerstört haben, und die Euch des weitern mündlich auseinandersetzen werde. Wenn aber auch alles dies nicht wäre, so sind noch tausend andere mehr äußere Umstände, welche mir das Hierbleiben gänzlich verleiden. Erstens gehen alle meine hiesigen Freunde jetzt fort, die meisten nach Berlin, vor allem mein Hein. Dann ist es aus der neuen Wohnung, die ich mieten wollte, nichts geworden und so noch viel andre kleine Umstände. Nun, meine liebsten Alten, nehmt auf der andern Seite die Vorteile Berlins. Vor allem mein teures, unendlich liebes Elternhaus. Wie ungeheuer ich mich freue, jetzt wieder mit Euch leben zu sollen, kann ich Euch gar nicht sagen. Seit mir diese köstliche Gewißheit geworden ist, befinde ich mich in einem so seligen Freudentaumel, wie ich ihn seit meines Neffen Geburt nicht genossen habe, so daß ich vor lauter purer Freude so in der Stube tollte und herumsprang, daß meine Wirtin ganz erschrocken herüberkam, indem sie glaubte, es sei mir etwas zugestoßen. Dann der Umgang mit den vielen, vielen lieben Freunden und Verwandten, vor allem Tante Berta, dem prächtigen alten Großvater, den ich, wer weiß wie lange noch, genießen kann. Endlich die unendlichen Schätze der Wissenschaft und Kunst, die mir in der "Metropole der Intelligenz" im reichsten Maße zu Gebote stehen, die Museen, die Königliche Bibliothek, der Botanische Garten, dann wieder der höchst anregende und nützliche Umgang mit naturforschenden Freunden, den ich hier fast ganz entbehre. Ferner die klassischen Kollegien, vor allem diejenigen von Johannes Müller, auf die ich wirklich brenne, dann von Weiß, Lichtenstein, Mitscherlich, Ehrenberg usw. usw. Ich bitte Euch, meine allerliebsten Eltern, nehmt dies alles zusammen, und Ihr werdet es unbegreiflich finden, wie ich so lange habe zaudern können, von hier wegzugehen, ebenso unbegreiflich wie alle meine Freunde und ich jetzt selbst . . .

Meine allerleibsten Eltern, antwortet umgehend, was Ihr zu meinem Entschluß sagt. Ich stehe darin meinerseits ganz fest und ändere ihn nicht mehr. Jedenfalls ist soviel wie möglich hier daran herum überlegt worden und schließlich ist er doch allgemein gebilligt worden. Ich denke, Ihr stimmt auch darin ein?! Oder wollt Ihr Euren treuen Jungen, der Euch so herzlich liebt, nicht gern einmal wieder längere Zeit bei Euch haben? . . .

50. (Helgoland) Donnerstag, 17. 8. 1854.

Liebste Eltern!

Ich bin selig!!! Dies vorläufig. Nächster Tage das Nähere über meine erste Seereise, auf der ich nicht die Spur von Seekrankheit empfunden, trotzdem ein ziemlich bedeutender Sturmwind fast alle (zirka 50) Passagiere (ausgenommen etwa 5) in den gräßlichsten Katzenjammer versetzte. Diese Seefahrtstunden von heute früh 8 Uhr bis heute abend 5 Uhr waren fast die schönsten Stunden in meinem Leben; ich möchte sie um nichts dahin geben! . . .

In herzlichster Liebe Euer äußerst muntrer und fideler, wirklicher seliger

Ernst H.

51. Helgoland, Sonntag, 20. 8. 54.

Meine liebsten Eltern!

Am Mittwoch, 16. 8., früh 8 Uhr verließ ich, wie Ihr wißt, Berlin mit meinem Reisegefährten, Adolph de la Valette Saint George, nebst 200 Pfund Übergewicht. Von der Fahrt selbst ist wenig zu berichten. Das Merkwürdigste war, daß wir durch ein Stück dänisches und mecklenburgisches Land fuhren und in letzterm einen Offizier mit großen Vatermördern sahen, eine ebenso seltne als sonderbare Abart des miles gloriosus. Sonst ist die Gegend sehr einförmig. Nur eine Strecke vor Hamburg beginnt schöner Laubwald, mit weiten Wiesenplänen abwechselnd. Sehr nett war es, daß in Berlin noch ein zweiter Bekannter zu uns in Coupé stieg, der Siebenbürger Theolog und Naturmensch Carodi nämlich, welcher mich einmal nachmittags besuchte. Wir waren sehr vergnügt und munter, endlich einmal der Berliner heißen Staubatmosphäre entronnen zu sein.

Um 4 Uhr langten wir in Hamburg an und stiegen, mit dem Plan, erst Sonnabend von da abzufahren, in Zinggs Hotel ab. Nachdem wir uns mit gebratener Seezunge, einem kostbaren Fisch (Solea) erquickt, traten wir beide, Valette und ich, unsere Wanderung durch die höchst merkwürdige Stadt an. Zum großen Teil besteht sie noch ganz aus altertümlichen Häusern, wie man sie in Frankfurt am Main so viel sieht, daneben aber viel schöne neue Häuser, denen in Berlin ganz ähnlich. Alle Straßen, durch die wir gingen, wimmelten von einem dichten Menschengedränge, wie ich es fast noch nie gesehen hatte. Fischer, Schiffer, Matrosen bildeten den Hauptkern, dazwischen sehr viel Ausländer, sonnenverbrannte Südländer, stattliche Kaufherrn und Schiffskapitäne und was sonst der ungemein großartige Handel hier alles an Menschen zusammenführte. Dazu sah man in den Straßen fast keine Häuser ohne mehrere Kaufläden, wohl aber viele, wo deren ein halbes Dutzend beisammen waren. Das Schreien und Lärmen, Kribbeln und Wimmeln, was zu einem solchen ungeheuren, regen Verkehr gehört, könnt Ihr Euch denken. Kurz, es war ein Leben und Treiben, wie man es nur immer von den lebhaftesten Handelsstädten geschildert findet. Besonders interessant waren uns viele Läden mit den merkwürdigsten und seltensten ausländischen Tieren und andern Naturprodukten. Prachtvolle Sammlungen von Käfern und Schmetterlingen, ausgestopfte Vögel und Fische, Kunstprodukte ferner Weltgegenden und dergleichen hingen und standen da in den Schaufenstern bunt durcheinander. Wir gingen zunächst durch die Admiralitätsstraße nach dem Hafen. Wenn ich Euch das ganz neue Leben, welches sich hier uns eröffnete, nicht ordentlich nach dem ungeheuren Eindruck, den es auf uns machte, schildern kann, so liegt dies größtenteils daran, daß dieser Eindruck noch um vieles durch die mannigfaltigen Genüsse, welche uns nachher zuteil wurden, übertroffen wurde. Zwar hatte ich aus Reisebeschreibungen und dergleichen schon vieles über das Leben in einem solchen Hafen gelesen und mir auch ein ziemlich richtiges Bild davon gemacht; dennoch aber wurden meine Erwartungen weit übertroffen. Einen solchen wirklichen Wald von Schiffen, Masten, Rahen, Tauen und Matrosen, die darin herumkletterten, hatte ich mir doch kaum vorstellen können. Wir waren ganz entzückt und wußten gar nicht, wo wir zuerst zu bewundern anfangen sollten.

Nachdem wir das Treiben eine Weile uns angeschaut, bestiegen wir die Elbhöhe oder den Stintfang, einen höhen Hügel am Hafen, von dem man einen schönen Überblick über denselben sowie über die ganze Stadt und das gegenüberliegende Ufer genießt. Dann bummelten wir allmählich über verschiedene Straßen der Stadt zurück und gelangten so über mehrere schöne Plätze, auf deren einem eine sehr schöne neue Kirche, ähnlich unserer Petrikirche, die Nikolaikirche erbaut wird, nach dem entgegengesetzen, nordöstlichen Ende der Stadt, wo wir auf dem Jungfernstieg von einem kaum minder schönen Anblick überrascht wurden. Da sind hintereinander zwei große, klare Wasserbassins, durch einen Brückendamm getrennt. Das innere Becken, die Binnenalster, ist auf drei Seiten (die vierte Seite des Vierecks bildet der Damm) von drei prachtvollen Häuserreihen, den drei Jungfernstiegen, umgeben. Hier sieht man, wie überhaupt in den meisten Stadtteilen, die vom großen Brande verschont wurden, nur lauter schöne, große Häuser von der neuen Schinkelschen Bauart. Eines derselben ist der "Basar", eine elegante lange, von Glas bedeckte Halle, ein Glaspalast en miniature, dessen beide Seiten von lauter aneinanderstoßenden Schauläden mit den herrlichstsen und kostbarsten Waren aller Art gebildet werden. Darunter befindet sich ein Erdkeller, wie bei Kroll, worin alle Stände und Geschlechter auf eine sehr süddeutsch gemütliche Weise bei Bier und Wein sich ihres Lebens freuen. Hier trafen wir auch unsern Siebenbürger nebst mehreren Landsleuten und Kameraden wieder, mit denen wir uns verabredeten, an den nächstfolgenden Tagen die Partien in Hamburgs Umgebung gemeinschaftlich zu machen. Kaum aber waren wir von diesen wieder weg, als la Valette, welcher sich schon vorher über das "gar zu naturwüchsige Wesen" dieser Leute, und darüber, "daß sie nicht einmal ein reines Hemd anhatten", stark beschwert hatte, erklärte, daß er unmöglich mit ihnen die verabredeten Partien machen könne und lieber sofort morgen früh abreisen wollte. Nach langem Hin- und Herdebattieren überredete er mich denn auch, ihm zu folgen, besonders, da er mir vorhielt, daß wir schon alles Merkwürdige gesehen hätten und was dergleichen mehr ist, worüber ich mich nachher, als ich erfuhr, welche schönen Partien die andern gemacht hatten, sehr ärgerte. Nach vielfachem Streit, in welchem ich zuletzt nachgab, beschlossen wir also, noch einmal nach dem Hafen, wo die andern wohnten, hinauszuwandern und es ihnen abzusagen. Dann sahen wir uns Hamburg bei Nacht an und bummelten noch bis zum Alsterbassin, wo sich die drei Jungfernstiege mit dem vielen Tausend im Wasser sich abspiegelnden Lichtern sehr gut ausnahmen.

Wohl haben wir so in den paar Stunden unsres Aufenthalts in Hamburg ein ganz übersichtliches Bild der großartigen Handelsstadt gewonnen, wenn es aber geht, wünsche ich doch bei der Rückreise noch ein paar Tage dort zu verweilen, um die zahllosen Merkwürdigkeiten mir etwas genauer und ausführlicher anzusehen, namentlich die prachtvollen Blumengärten zu besuchen und auch noch die ganz reizende Tour am rechten Elbufer nach Blankenese zu machen. Die größte Wohlhabenheit sieht übrigens der ganzen Stadt aus den Augen; auch ist das Leben äußerst komfortabel und luxuriös. Die Leute sorgen nur dafür, wie sie möglichst viel Geld zusammenscharren, dann, wie sie möglichst gut leben, d. h. in modum Horatii gut essen und trinken. Daß die Sitten auch demgemäß entartet sind, könnt Ihr leicht denken, und in dieser, wie in mancher andern Beziehung steht Hamburg wohl mit viel größeren Weltstädten auf einer Stufe.

Am Donnertag, 17. 8., verließen wir Hamburg früh 6 Uhr mit dem schönen dreimastigen Dampfer "Helgoland", mit zwei Maschinen und Schornsteinen und an Breite, Länge und Tiefe schon ein ganz ordentliches Seeschiff von wenigstens 8 Fuß Bordhöhe. Es ist in diesem Frühling eigens zu dieser Überfahrt von Hamburg nach Helgoland gebaut worden, besteht ganz aus Eisen und macht in seinem Ganzen einen sehr respektablen Eindruck. Das anfangs heitere Wetter wurde bald sehr trübe und es fing stellenweise ganz ordentlich zu regnen an, was uns indessen nicht abhielt, stets auf dem Verdeck zu bleiben und das prachtvolle rechte Elbufer uns recht ordentlich, soweit es die rasche Vorbeifahrt erlaubte, anzusehen. Dies ist wirklich ganz reizend. Beständig wechseln sehr zierliche, in antikem Stil gebaute und auf einzelnen Erhöhungen des mindestens 50-60 Fuß hohen Elbufers sehr romantisch gelegene, von reichen Blumengärten umgebene Landhäuser und Villen mit schönen grünen Baumgruppen und bunten Wiesenabhängen ab. So beginnt eine Reihe solcher Tuskulana gleich hinter Altona, welches eigentlich nur als Vorstadt an Hamburg sich anschließt und reicht fast ununterbrochen bis zu dem berühmten Fischerdorfe Blankenese. Dieses genießt mit wegen seiner berühmten Lage eines großen Rufs. Höchst malerisch sind die einzelnen, von Bäumen umgebenen Häuser auf Vorsprüngen und in Winkeln der roten Felsen angeklebt. Bald dahinter wird das hohe steile Ufer niederer und einförmiger und entzieht sich auch den Blicken mehr durch die nun sehr bedeutend werdende Breite des Elbstoms. Dafür fesseln andere Objekte das Auge, der beginnende Wellenschlag und die mit dem Seewasser sich einfindenden Seevögel, Möwen, Seeschwalben und Taucher. Namentlich umschwärmten große Mengen sehr zierlicher kleiner weißer Möwen in einem fort das Schiff. Ab und zu besteigen hier immer Lotsen aus nahegelegenen Orten das Schiff, um uns durch das sehr gefährliche, von vielen Klippen und Untiefen umgebene Fahrwasser hindurchzuleiten. Dies dauert noch bis eine gute Strecke hinter Kuxhaven, wo zuletzt angelegt wird und von wo aus rechts schwarze, links weiße Tonnen das Fahrwasser bezeichnen. Das rechte Elbufer ist schon lange vor Kuxhaven, hinter Glückstadt verschwunden und bald sieht man auch das linke nicht mehr. Statt dessen erscheint jetzt zur Linken die Insel Neuwek mit ihrem Leuchtturm und bald dahinter zur Rechten sieht man eine beständig hier stationierte Lotsengaliote und weiterhin noch ein rotbeflaggtes Feuersignalschiff. Dies bezeichnet die letzten Ausströmungen der Elbe und nun fährt man mit einemmal in das offene freie Meer hinaus. Mit welcher Spannung ich diesem Moment erwartet, kann ich Euch kaum sagen, und doch wurden diese Hoffnungen noch weit übertroffen. Wir hatten durchaus nicht das, was man sonst eine schöne, d. h. eine ruhige, sanfte Seefahrt nennt; sondern zu meiner größten Freude, ebenso wie zum Schrecken der andern Passagiere, unter denen sich auch Herr Prof. Poggendorf aus Berlin nebst Frau und Tochter befand, hatte sich bald nach unserer Abfahrt von Hamburg ein heftiger Nordwestwind erhoben, welcher schon bei Kuxhaven zu einem förmlichen Sturm sich steigerte, so daß nur mit der größten Mühe und wirklicher Gefahr die Passagiere in Booten ans Land gesetzt werden konnten. Die heftig tobenden Wellen warfen dabei den kleinen Nachen mit solcher Gewalt gegen die eisernen Schiffwände, daß man jedem Augenblick meinte, er müßte wie eine Nußschale auseinandergehen. Schon lange vor Kuxhaven von den Wellen der Elbe geschaukelt, lag der enge Kajütenraum voll von hysterischen Frauenzimmern und mit ihren Frauen sympathischen Männern, welche von dem horror der Seekrankheit, gewiß zum großen Teil aus bloßer Einbildung, ergriffen waren und nun von der miseria felina varietes marina ganz jämmerlich zugerichtet wurden, so daß man nicht wußte, sollte man darüber lachen oder mitjammern, endlich aber doch das erstere wählte. Ich meinesteils hatte mir vorgenommen, unter keiner Bedingung seekrank zu werden, und habe diesen Vorsatz auch getreulich ausgeführt. Und das will etwas sagen, wenn Ihr bedenkt, daß dies meine erste Seereise war und daß von circa 50 bis 60 auf dem Schiff befindlichen Passagieren etwa 4 oder 5 nicht seekrank wurden. Die meisten fürchteten sich aber schon vorher sehr davor, sie verkrochen sich noch dazu unten in der Kajüte, wo das Schwanken und Schaukeln allerdings am allermeisten fühlbar wird und ich selbst vielleicht auch seekrank geworden wäre. Wenigstens wäre das kein Wunder gewesen. So aber tat ich keins von beiden, sondern blieb, fest in meinen Paletot gehüllt und die Mütze kreuzweis über den Kopf festgebunden, trotz Regen und Sturm beständig auf dem Verdeck. Anfangs hatte ich den besten Platz von allen. Ich stand nämlich neben dem Kapitän hoch oben auf dem Räderkasten, wo man nicht nur das Verdeck, sondern über alles, was man wollte, weit ringsumher hinwegschauen konnte. Als wir aber erst ganz in See hinaus waren und die heftig brüllenden und brandenden Wogen jeden Augenblick über den 8 Fuß hohen Bord des Vorderdecks von beiden Seiten wegschlugen und dasselbe förmlich abspülten, wurde mir meine hohe Stellung da oben etwas langweilig und es deuchte mir viel schöner, das Beispiel einiger lustiger Musikanten zu befolgen, welche ganz vorn am Schiff auf dem Bugspriet, d. h. dem schiefgeneigten kleinen Mast am Schiffsschnabel, vorn saßen. Vor diesen nahm ich Platz und saß nun zu allervorderst auf dem ganzen Schiff, reitend auf dem Bugspriet, vorn geschützt und festgehalten von den Geländern beider Seiten, welche hier in eins zusammenkamen, und an denen ich mich ganz gemütlich und sicher festhalten konnte. Natürlich war die Bewegung des Schiffes, dessen Vorderteil und Hinterteil von den Wellen abwechselnd hoch in die Höhe gehoben und dann wieder tief wie in einem Abgrund hinabgeschleudert wurden, hier am stärksten. Aber es war nicht das unangenehme Hin- und Herwanken, das in der Kajüte den Damen Verderben brachte, sondern ein höchst angenehmes Schaukeln, wie auf einer großartigen Turmschaukel. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie ungeheuer wohl und lustig mir zumute war, und mit welcher Wonne ich die reine Seeluft einatmete und mich über die prachtvollen gigantischen Wogen freute. Ich hatte viel von haushohen Wellen von 20 Fuß und mehr Tiefe gelesen, hatte dies aber immer für Fabel und Übertreibung gehalten; nun wurde es aber vor meinen Augen vollständig erfüllt, und wie glänzend und großartig. Was war das für ein wonnevolles Gefühl, wenn der 12 Fuß hohe Bugspriet erst hoch in die Höhe sprang, so daß man vorn fast den Kiel vom Schiff sehen konnte, und dann wieder, wie ein Sturmvogel, tief kopfüber in die Fluttäler hinaubtauchte, daß die Wellen hoch über unsern Köpfen zusammenschlugen. Und welches Jauchzen jedesmal, wenn wir so total durchnäßt wurden. Nur zu früh für mich und für das Ende dieses unvergleichlichen Genusses erschien nach vierstündiger Fahrt, den armten Seekranken freilich äußerst erwünscht und heiß ersehnt, am Horizont der rötliche Streif, welcher sich beim Näherrücken immer deutlicher als das "heilige Eiland" erwies. Auch dieses Auftauchen aus dem einförmigen Zirkelstreifen des Horizonts war ein ganz eigentümlicher Anblick, wie überhaupt das Sein auf der ganz offenen See, wo man ringsum nichts als Luft und Wasser sieht, und nur hie und da einmal eine Möwe, eine Seeschwalbe oder ein Sturmvogel die ungeheure Wellenöde unterbricht und belebt, auf mich einen ganz unbeschreiblichen Eindruck gemacht hat. Ich halte diese erste Seefahrt, auf die ich mich so lange, lange vorher gefreut, unbedingt für eines der schönsten und genußreichsten Ereignisse meines ganzen Lebens.

Um 4 Uhr nachmittags ging der schöne dreimastige Dampfer zwischen Helgoland und der Düne (oder Sandinsel) vor Anker. Alsbald erschienen mehrere mit Helgoländern bemannte Boote, welche die armen, meist von der Seekrankheit jämmerlich mitgenommenen Passagiere dem kleinen langersehnten Eiland zuführten. Hier war aber noch eine harte Probe zu bestehen. Vom Strand nämlich bis zu den ersten Häusern, ungefähr 80 Schritt, wird bei jeder Ankunft des Schiffs eine Barriere aufgestellt, auf jede Seite des 3 Fuß breiten Wegs, den die Fremden passieren müssen. Hier versammelt sich nun, sobald drei Kanonenschüsse die Ankunft des Dampfboots gemeldet haben, die ganze Bade- und Einwohnerwelt von Helgoland, zählt die Neuankommenden der Reihe nach ganz laut und macht auf die unverschämteste und ungenierteste Weise ihre kritischen und sonstigen Bemerkungen über dieselben. Wenn man nicht vorher auf diesen schauderhaften Empfang gefaßt ist, weiß man wirklich kaum, wie man möglichst rasch und unbeobachtet durch diese wahre Spießrutengasse hindurch kommen soll. Nachdem wir nun den Bemerkungen und Witzen der resp. Badegäste glücklich entronnen waren, gingen wir sogleich mit unseren Sachen uns eine Wohnung suchen . . . .

22. 8., Dienstag abend.

Wenn Ihr Euch wundern solltet, wie dies blaue Briefblatt in die andern weißen hineinschneit, so diene Euch zur Erklärung, daß derselbe heute früh auf der Düne geschrieben ist, ganz ex tempore. Ich fuhr nämlich heut früh, wie gewöhnlich, um 6 Uhr mit dem ersten Boot, mit welchem die Badefrauen und Badegehilfen hinübersegeln, nach der Düne hinüber. Als ich nun gebadet hatte, erhob sich ein so fürchterliches Unwetter, Regen und Sturm, daß ich mich schleunigst in den dort befindlichen Pavillon rettete und hier vergebens über eine Stunde auf ein Boot zum Zurückholen wartete. Als nun aber immer keines erschien, setzte ich mich aus Verzweiflung hin und fing diesen Brief an. Das Lob auf das überaus herrliche Seebad ist freilich nur schwach im Vergleich zu der unaussprechlichen Wonne, welche ich dabei sowie überhaupt bei dem mir so ganz neuen und wunderbaren Seeleben, das wie in eine ganz neue fremde Wunderwelt mich einführt, empfinde. Überhaupt müßt Ihr von meinen hiesigen Briefen, liebste Eltern, nicht allzuviel erwarten. Die Hauptschilderung meines hiesigen Lebens und Treibens kann ich Euch erst mündlich geben. Ich kann zum Briefschreiben hier absolut keine Zeit (die hier, wenigstens für mich, noch teurer als alles andere ist) gewinnen, noch weniger aber die nötige Ruhe, welche mir, wenn ich sie überhaupt jemals zu besitzen das Glück gehabt hätte, hier jetzt gänzlich abhanden gekommen ist. Kaum habe ich jemals solche beständige hastige Angst und innere Unruhe gespürt wie hier, trotzdem mir der hiesige Aufenthalt, wenn ich nur weniger leidenschaftlich wäre, ein wahres Paradies sein könnte und müßte. Das Leben kömmt mir aber hier wie eine wahre Hetzjagd vor. Doch davon später mehr. Jetzt fahre ich im Tagebuche fort.

Am Freitag, 18. 8., war mein erstes Geschäft, zum Baden nach der Düne oder Sandinsel, einem schmalen, langen Sandstreifen, etwa eine Viertelstunde von der Insel entfernt, hinüberzufahren. Hier wird nämlich, da der Meeresboden ganz eben und sandig und der Wellenschlag sehr regelmäßig ist, fast täglich gebadet. Nur an ganz stürmischen Tagen, wenn das Landen der Boote auf der Badeinsel wegen der zu wilden Brandung unmöglich ist, wird ausnahmsweise auf einem Fleckchen von Helgoland selbst gebadet. Die Badezeit dauert von 6-2 Uhr mittags, und ist es im ganzen, wie ich auch schon gefunden habe, ziemlich einerlei, ob man bei Ebbe oder Flut badet. Der Wellenschlag ist in beiden Fällen ziemlich gleich stark; bei Ebbe ist sogar noch das Angenehme, daß man, um in tiefes Wasser zu kommen, nicht so weit vom Strand hinauslaufen muß. Die Badeplätze der Herren und Damen liegen an den entgegengesetzten Punkten der Sandinsel. Hier stehen je 30-50 Badekarren, in denen man sich auskleidet und dann ein Stückchen in die See hinausgeschoben wird, nebeneinander. Wenn man mit dem Baden fertig ist, wird der zweirädrige Karren wieder ans Land zurückgeschoben. Ich bin bis jetzt immer nur 2 bis höchstens 5 Minuten im Wasser geblieben, und habe dann vollständig genug. Anfangs beim Hineinsteigen empfinde ich immer einen sehr unangenehmen Frost, der aber nachher einer um so angenehmeren Wärme Platz macht. Einige Stunden nach dem Baden, gegen Mittag, spüre ich sogar am ganzen Körper, namentlich am Kopf, eine bedeutende Hitze. Mit welcher ungeheuren Wonne ich mich jedesmal in die brausenden, meist 3-4 Fuß hohen Standwellen stürze, kann ich Euch kaum beschreiben. Ihr selbst habt das Seebad so angenehm gefunden. Wie viel herrlicher muß es noch für mich Amphibium sein!

Nachdem ich am Freitag, 18. 8., ganz früh mich durch das erste Seebad erquickt, sammelte ich nun am Strande den ersten besten ausgeworfenen Seetang samt einer Menge herrlicher daran und dazwischen sitzenden Algenpflänzchen und Schmarotzertierchen, Krusten, Würmer, Weichtiere usw., um auf die erste schöne Bekanntschaft mit der See als Bad gleich die zweite mit den wunderbaren, mannigfaltigen und prachtvollen Bewohnern der See folgen zu lassen. Um zu vermeiden, daß ich dieselben Ausdrücke des höchsten Entzückens bei der Schilderung jedes Tagewerk wiederhole, bemerke ich in Hinsicht auf die Seetiere und Seepflanzen, wegen deren Studium ich doch hauptsächlich hierherging, ein für allemal, daß alle meine Erwartungen und Hoffnungen, von denen Ihr doch selbst wißt, wie hoch sie gespannt waren, nicht nur erfüllt, sondern auch noch weit übertroffen worden sind. Ich kann Euch das Entzücken und die Seligkeit, in welche mich das Beobachten und Bekanntwerden dieser herrlichen Seenatur mit ihren zahllosen Wundern täglich, nein! stündlich versetzt, gar nicht im geringsten deutlich zu machen versuchen. Nur das eine kann ich sagen, daß ich mit einem Schlage in eine ganz neue Welt, etwa wie auf einen andern Planeten versetzt bin. Es ist wirklich alles hier anders! Die Tiere, die Pflanzen, die Erde, das Wasser, die Luft, ja sogar die Menschen, alles ist für mich anziehend und merkwürdig. Kurz, ich sage Euch ein für allemal, daß ich in wissenschaftlicher Beziehung mit dieser ersten See-Expedition auf das vollkommenste zufrieden bin. Außer unsern ersten mikroskopischen und anatomischen, zoologischen und botanischen Studien besuchen Lavalette und ich auch gleich am ersten Tage die beiden oder vielmehr die drei Männer, an welche mir wegen der Sammlungen, Herbeischaffung von Tieren und Pflanzen usw. von Joh. Müller usw. empfohlen worden waren. Es ist das ein älterer Insulaner, welcher sich immer nur mit Sammlung von Seepflanzen und -tieren abgegeben hat und jetzt mein spezieller Freund und Gönner ist (oder umgekehrt), und zwei jüngere Fischer, Schiffer und Naturaliensammler, welche eine sehr schöne Sammlung von allerhand Seemerkwürdigkeiten besitzen: die beiden Gebrüder Öllrich Änkens. Diese drei bilden unser naturwissenschafliches Hilfskontingent, sind unsere dienstbaren Geister und Leibpagen und bringen uns jedem Tag geschleppt, was nur unser Herz begehrt: Seesterne, Krabben, Polypen usw. Mit den beiden Änkens gingen wir gleich selbigen Abend noch auf Fischfang, von 9-12 Uhr. Es war eine ganz finstere, sternlose und wildstürmische Nacht. Ich half abwechselnd mit der Laterne leuchten, das Netz heraufziehen usw., was mir sehr viel Spaß machte. Das Ganze machte sich sehr romantisch. Wir fingen bei dieser Gelegenheit eine Unmasse gewöhnlicher Krabben und einige merkwürdige Fische, namentlich Cottus scorpius, Aspidophorus cataphractus, Syngnathus Acus, Zoarces viviparus usw. Auch sahen wir einige phosphoreszierende Tierchen . . .

Am Sonnabend nachmittag empfing ich meine beiden Siebenbürger Freunde am Dampfschiff, welche ich schon in Hamburg getroffen und welche jetzt auf einen Tag herüberkamen, um sich die sehr merkwürdige Insel, welche auch wirklich schon an und für sich eines Besuches wert ist, auf einen Tag anzusehen. Mit ihnen, und mit ihrem Reisegefährten, einem Finanzrat aus Stuttgart, welcher auch Algen botanisierte, machte ich am Sonntag früh beim schönsten Wetter eine ganz reizende Fahrt um die Insel herum. Diese ist aber auch wirklich ein wunderbarer Bau! Ein ganz nackter kahler Felsen von rotem Sandstein steigt mehrere 100 Fuß hoch senkrecht aus der Meerefläche auf. Nur hie und da wächst etwas Grün, nämlich der gewöhnliche Gartenkohl (wild) auf der steilen Felswand. Dagegen ist der Rücken des Felsens oben ganz flach, mit Kartoffeln bebaut und trägt einen Leuchtturm sowie das eigentliche Fischerdorf, das sogenannte Oberland. (Ich wohne im Unterland, einem angespülten Sandhaufen der Südostküste, wo nur Wohnungen für Badegäste und Gasthäuser stehen.) Die Westküste des Felsens bietet herrliche Felspartien dar, Tore, Gewölbe, Mauern, Türme und andre Felsgestalten, alle durch die Arbeit der nagenden Meeresflut entstanden. Wir wußten im eigentlichen Sinne in unserm kleinen Schiffchen nicht, wo wir zuerst den Blick hinwenden sollten, ob auf diese grotesken, malerischen Felsgestalten, oder das prachtvoll blaue Meer und seine Horizontgrenze, oder die tobende, hoch aufspritzende Brandung am Fuß der Klippen, oder endlich auf die reizenden Wunder aus dem Tier- und Pflanzenreich, welche in unserer Nähe herumschwammen. Vor allem entzückten mich die Quallen oder Medusen, welche ich hier zuerst sah, große (1/2 - 1 Fuß im Durchmesser) Glasglocken von höchst wunderbarem Bau und Form. Daneben saßen an schwimmenden Tangen die kleinen Polypenkolonien fest, aus denen die Quallen entstehen. Das reizendste waren aber Schwärme kleiner Quallen mit langen Fangfäden, von denen Euch beifolgendes Bild (doppelte natürliche Größe) eine Idee geben soll. -

Am Sonntag nachmittag, 20. 8., machte ich mit dem Stuttgarter Finanzrat und den beiden Siebenbürgern einen Spaziergang längs des Strandes bei der niedrigsten Ebbe um die halbe Insel herum. (Bei ganz niedriger Ebbe soll man um die ganze Insel herumgehen können, weil dann der etwas breitere Fuß des Felsens zutage kömmt.) Ich fand die ersten Seesterne (schön violettblau), außerdem mehrere Seeschnecken und eine Seeanemone, ein ganz prächtiges Polypentier, so groß wie eine Rose (deshalb hier Seerose genannt) und von der Form einer Anemonenblume. Es war die merkwürdige Actinia holostica. Dann saßen auch auf den von der Flut entblösten Steinen ganz prächtige, rote, violette, braune und grüne Tangarten, über welche wir uns gar nicht satt freuen konnten. Kurz, wir waren ganz selig über den Reichtum der wunderbaren neuen Geschenke, mit welchen uns die alma mater natura hier wieder überraschte. Abends sah ich meine Freunde noch einmal und zwar in der hiesigen Volkskneipe "Zum grünen Wasser", wo die Helgoländer Einwohner ihre sonderbaren Nationaltänze aufführten und sich überhaupt den Fremden in ihrer ganzen Eigentümlichkeit zeigten. Über dieses merkwürdige Seevolk, das wirklich ganz allein schon wert ist, daß man um seinetwillen einmal herkömmt, schreibe ich euch ein andermal mehr; es ist noch ein ganz herrliches norddeutsches Kernvolk, trotzdem der Fremdenverkehr schon viel sogenannte Sitte (d. h. Unsitte) hier eingeschleppt hat. Am Montag früh fuhren meine Bekannten wieder ab. Ich machte mit la Valette und Änkens eine Bootfahrt nach dem Meere nördlich der Insel, wo wir einen Haifisch (Galeus canis) und mehrere Dorsche mit niedlichen kleinen Schmarotzerkrebschen im Maule angelten und mit dem eisernen Schleppnetz, welches auch zum Austernfang gebraucht wird, mehreremal große Stücke Meeresboden abkehrten und den Kehricht heraufbrachten. Da fanden sich denn die merkwürdigsten Algen (Cruoria, Laminaria, Phyllitis, Polysiphonien) mit allerliebsten Polypen (Flustra) bewachsen usw. und sehr niedliche kleine Würmer mit prächtigen, bunten großen Federbüschen (Kiemen) am Kopf, welche in festen Kalkröhren leben und in diese sich ganz zurückziehen können (Serpula triquetra sive tricuspis); auch viele andere kleine Seetierchen, besonders Kruster. Das schönste waren aber mehrere prächtige faustgroße Seeigel (Echinus esculentus), welche einen ganz prächtigen Anblick gewährten, wenn sie im Wasser mit ihren niedlichen kleinen Fußreihen herumspielten. Außerdem fischten wir auch mehrere der ganz allerliebsten kleinen Quallen, die ich schon am Sonntag kennengelernt. Ihr könnt es Euch leicht denken, daß wir mit diesen Schätzen sowie mit den am Sonntag gesammelten die folgenden Tage alle Hände voll zu tun hatten. Von Arbeiten will ich gar nicht reden; denn dazu ordentlich zu kommen, ist hier bei der Unmasse von Material, welche denjenigen, der das Meer und seine Wunder noch nicht kennt, von allen Seiten in der fabelhaftesten Ausdehnung überflutet und überwältigt, ganz unmöglich. Das einzige, was man tun kann, ist, die Sachen einmal kurz anzusehen, dann möglichst rasch von anhängendem Schmutz und Seewasser zu reinigen und dann sogleich in Spiritus zu setzen oder zwischen Löschpapier zu trocknen. Wie Ihr leicht denken könnt, ist das keineswegs ein sehr angenehmes oder süßes Mußestudium, wie ich mir mein hiesiges Leben überhaupt viel zu idyllisch ausgemalt, sondern es ist ein höchst ungemütliches und unruhiges Drängen und Treiben ohne bestimmte Zwecke und Ziele; die Masse erdrückt, erstickt einen im eigentlichen Sinne, so daß man nicht zu inniger, ruhiger, freudevoller Betrachtung der einzelnen Naturwunder, geschweige denn zu einem gründlichen durchdringenden Studium derselben, welches doch allein die wahre Befriedigung gewährt, gelangt. Von Zeichnen, Malen, Beschreiben, Zergliedern, Mikroskopieren usw. der einzelnen Tier- und Pflanzenformen, wie ich mir das anfangs so reizend und genußvoll vorgestellt, ist nicht die Rede. Kaum reicht die Zeit hin, die erworbenen Schätze zum Konservieren einzupacken, die Tiere in Spiritus, die Pflanzen in Löschpapier. Das Mikroskop kann eben dazu dienen, die kleinen Seewunder der Tier- und Pflanzenwelt flüchtig und rasch durchzumustern. Ich werde recht ordentlich froh sein, wenn ich erst wieder daheim sitzen kann und meine gesammelten Schätze recht mit Lust und Muße ansehen und studieren kann. Dabei wird man von dem ewigen Umlegen und Aufkleben der stinkenden, aber sehr schönen und merkwürdigen Seetange ganz kaputt. So habe ich mit diesem edlen Geschäft fast den ganzen Dienstag und Mittwoch zugebracht . . . Gestern früh brachte mir Tein Taten ein paar Pieren (Arenicola Piscatorum), sehr interessante Kiemenwürmer und Sandhechte (Ammodytes Tobianus), gestern Mittwoch, 23. 8. nachmittag, aber einen wahren Schatz, den er mir vom Austernfang verschafft, eine ganze Schüssel voll der herrlichsten Seesterne (Solaster papposus) von einer prachtvollen Purpurfarbe und 1/2 - 3/4 Fuß Durchmesser, dann die herrlichsten Polypen, Krebse, die in Muscheln wohnen, usw. usw.

53. Helgoland, 30. 8. 1854.

Liebste Eltern!

Das Tagebuch, das ich über meinen Helgoländer Aufenthalt zu führen angefangen, und von dem noch ein Blatt hierbei folgt, wird Euch nachgerade wohl ziemlich langweilig werden. Eigentlich kann es auch weiter nichts enthalten als immer ein und dasselbe, nämlich meine ungeheure Freude an der See und ihrem Leben, ihren Bewohnern und Geschöpfen, der prachtvollen unvergleichlichen Mannigfaltigkeit der niedlichsten Pflanzen und Tiere und was dergleichen mehr ist. Ich kann Euch das so gar nicht schreiben, wie ich es Euch mündlich aussprechen möchte und werde; nur das eine statt alles andern, daß mein Entschluß, künftig als Naturforscher, namentlich Zoolog, tropische Seeküsten zu untersuchen, jetzt feststeht (soweit nämlich der menschliche Entschluß ohne die göttliche Zustimmung hierbei etwas hilft!), und daß die Zoologie jetzt definitiv und für immer die Botanik aus meinem Herzen verdrängt hat. Das Weitere darüber setze ich Euch bald mündlich auseinander, wie es denn wohl überhaupt das beste für mich sein wird, das weitläufige Briefeschreiben jetzt etwas zu beschränken, da ich doch nicht die rechte Ruhe und Muße zu irgend etwas, am wenigsten zu vernünfigtem Briefschreiben finden kan und gern noch zehnmal so viel Zeit aufs Mikroskopieren verwenden möchte. Auch ist in der Tat von meinem Leben sehr wenig Merkwürdiges, d. h. für Nichtnaturforscher Interessantes zu berichten. Es geht jetzt ziemlich ein Tag wie der andre pfeilschnell vorbei. Ich stehe früh um 1/2 6 Uhr auf, gehe entweder gleich zum Bade oder mikroskopiere bis dahin. Nach dem Bade, das ich untr die höchsten körperlichen Vergnügungen rechne und das mir außerordentlich gut bekömmt, trinke ich Kaffee, d. h. drei Tassen Runkelzichoriendekokts und esse dazu ein ganzes Weißbrot mit göttlichem Appetit. Mit ebensolchem wird das Mittagbrot verzehrt, welches ich mir von meinem früheren Wirt, Joachim Stolt, holen lasse. Es kostet freilich einen halben Taler, ist aber ganz ausgezeichnet, sehr wohlschmeckend und so außerordentlich reichlich, daß meine große Studentenmagentonne bis auf das Spundloch ganz angefüllt wird, so daß ich mit Behagen nachher durch Perkutieren die völlige Füllung desselben konstatieren kann. Trotzdem in Berlin wir vielleicht alle drei an der riesenhaften Portion satt werden könnten, lasse ich hier allein gewöhnlich kein Brosämlein von der Ganzen Mahlzeit (Suppe, Braten mit Gemüse, Fisch mit Kartoffeln, Mehlspeise), welche ich mit dem größtmöglichen Wohlbehagen verzehre, übrig. Solchen gigantischen Appetit macht das köstliche Seebad. Dafür esse ich auch gewöhnlich abends gar nichts, sondern gehe nach einem Abendspaziergang mit Vallette oder Esmarch herzensvergnügt, aber mit schon wieder ziemlich leerem Magen um 1/2 10 Uhr zu Bett, wo ich dann musterhaft meine 8-9 Stunden abschnarche. So könnte ich hier körperlich und geistig ein wahres Schlaraffenleben führen, wenn ich nur Ruhe und Muße hätte. Übrigens komme ich bei dieser Art zu leben immer noch am billigsten und besten weg. Die ersten Tage aß ich im Speisehause nach der Karte, kriegte für viel mehr Geld doch nichts Rechts und mußte schließlich den ganzen Tag hungern, was ich bald satt wurde. Überhaupt ist das Leben hier sehr teuer, grade dreimal so teuer als in Würzburg. Alles nämlich, was dort einen Kreuzer kostet, kostet hier grade ganz genau 1 Schilling, was das Dreifache ist. Aber wenn auch der Aufenthalt hier noch dreimal so teuer wäre, so würde er mich doch nicht reuen, er ist mir gradezu unbezahlbar. Was ich hier jeden Tag Neues sehe und lerne, könnt Ihr Euch gar nicht denken; noch weit weit über meine kühnsten Erwartungen und Hoffnungen hinaus. Alles, was ich jahrelang vorher in Büchern studiert, sehe ich hier nun mit einem Male mit eigenen Augen wie hingezaubert, und jede Stunde wird künftig die herrlichsten Erinnerungen bereiten, wie sie mir jetzt Überraschung und Belehrung bringt. Übrigens ist hier auch wirklich alles interessant (weshalb natürlich die langweiligen Badegäste, welche mir wie Buttermilchsuppe vorkommen und mich ebenso anwidern und verscheuchen, alles ohne Ausnahme hier langweilig finden). Selbst der Charakter des Volks ist ganz eigentümlich. Durch den Fremdenverkehr wird er natürlich jährlich mehr und mehr verdorben. Vor diesem muß es aber ein ganz prächtiges nordisches, urdeutsches Kernvolk gewesen sein, wovon noch jetzt die Spuren überall sichtbar sind. Zum Beispiel findet Ihr unter all den Männern und Frauen kein einziges flaches schmales Gesicht, wie sie bei uns zu Tausenden herumlaufen. Alle haben einen bestimmt ausgeprägten Charakter und scharfe, aber feingeschnittete Züge . . .

Eben fällt mir ein, daß ich am Tagebuch fast die Hauptsache vergessen habe, daß nämlich am Dienstag abend Grottenerleuchtung stattfand, welche aber im ganzen ziemlich schwach ausfiel; das Ganze bestand in 10-12 bengalischen roten Flammen, welche die grotesken Felsengruppen und Höhlen an der Südwestseite des Felsens sehr romantisch erleuchteten. Die Hauptfreude machte mir dabei das Seeleuchten, welches ich in der stockfinsteren Nacht zum ersten Male sah. Zwar leuchtete nicht das ganze Meer, aber hinter jedem Ruderschlag und hinter meiner immer plätschernden Hand zog ein schöner Silberstreif blitzender Funken hin. Heute habe ich übrigens die allerliebsten kleinen Tiere (Noctiluca, Beroe usw.), die das Seeleuchten bewirken, mikroskopiert. Am Donnerstag, 24. 8., erhielt ich durch Tein Taten wieder Tiere vom Austernfang, prachtvolle große Seesterne, Polypen, Muscheln, Schnecken, Krabben usw. usw., worüber ich mich gar nicht genug freuen konnte. Diese hier in der See so gemeinen Dingern könnten durch ihre Schönheit und durch ihren wundervollen Bau, wenn sie mehr beachtet würden, die schönsten Muster für Kunstwerke usw. abgeben. Besonders entzückten mich die prachtvollen, wie Rubin und Smaragd grün und rot glänzenden Augen, welche am Mantelrand einer Muschel (Pekten) zu mehreren Dutzend angebracht sind. . . .

Als wir Dienstag nachmittag in der "Lästergasse" die mit dem Dampfboot neu angekommenen Passagiere musterten, bemerkten wir unter diesen zu unserer nicht geringen Freude und Überraschung Johannes Müller, unsere größte und erhabenste Autorität, deren Hiersein wir uns so sehr gewünscht, aber kaum noch gehofft hatten. Er kam mit seinem Sohne, Max Müller, welcher Dr. med. ist, um hier die Larven und Entwicklungstufen der Echinodermen, d. h. der Seesterne, Seeigel usw. zu studieren. Die Entdeckung der Entwicklungsgeschichte dieser höchst merkwürdigen Tiere hat Müller seinen Ruhm nicht zum kleinsten Teil verschafft, und das Material dazu hat ihm schon seit vielen Jahren Helgoland geliefert. Als wir sie begrüßten, bewillkommneten sie uns sehr freundlich und verabredeten sogleich mit uns, unsere Ausfahrten zum Seetierfischen usw. gemeinschaftlich zu machen. Dadurch hat nun unsere ganze Beschäftigung und Zeiteinteilung mit einem Male eine ganz andere Richtung bekommen. Das Sammeln, Tangetrocknen, Tiere-Einlegen und Sezieren hat aufgehört, und wir fahren statt dessen täglich früh mit beiden Müllers auf das offne Meer 1-2 Stunden hinaus, wo wir mit dem Schöpfnetz in kurzer Zeit Tausende der reizendsten Seegeschöpfe, meist Entwicklungsstufen wirbelloser Tiere, Radiaten, Würmer und Krustazeen fangen, zu deren Mikroskopieren wir nun die ganze übrige freie Zeit verwenden und doch lange damit nicht fertig werden können. Das Nähere darüber kann ich Euch nur mündlich ausführlich erzählen.

53. Helgoland, Sonntag abend, 10. 9. 54.

Meine lieben Alten!

Zunächst herzlichsten Dank für Euren letzten Brief, den ich sehnlichst erwartet hatte. Die Briefe von Haus sind hier, wo man so von aller Welt isoliert ist, wirklich immer die Glanzpunkte des Gemütslebens, und wenn das Dampfschiff angekommen ist und die Lästergasse sich verlaufen hat, hört man an allen Ecken und Enden nichts als Fragen, ob noch kein Brief angekommen ist. Mir ist es in der letzten Woche, wie auch in den beiden früheren, ganz vortrefflich gegangen, sowohl was den Körper, als den Geist betrifft. Körperlich fühle ich mich, abgesehen von dem alten bösen Knie, auf das das Bad keine Wirkung ausübt, wie es denn überhaupt gegen alle Reize schon abgestumpft zu sein scheint, äußerst wohl und munter, wie seit langer Zeit nicht, was ich hauptsächlich der ganz herrlichen Seeluft zuschreibe, die ich mit wahrer Wonne einatme, und die sich zu der schrecklichen Berliner Staubluft wie Tag und Nacht verhält. Auch die Temperatur ist hier äußerst angenehm, immer dieselbe angenehme Kühle. Von Hitze und Schwitzen ist noch nicht die Rede gewesen. Das Bad tut meinem corpusculum ebenfalls äußerst wohl, und ich stürze mich immer mit lautem Jauchzen in die Wellen. Dagegen ist die geistige Beschäftigung, Arbeit und Belustigung in dieser Woche wesentlich anders als in der vorigen gewesen. Seit nämlich Johannes Müller nebst Sohn hier ist, beginnt unser eigentliches Tagwerk damit, daß wir in Gesellschaft dieses Leitsterns in der vergleichenden Anatomie um 8 Uhr auf 1-2 Stunden in die See hinausfahren und die Oberfläche der See mit einem Schmetterlingsnetz abfischen, wo wir denn immer eine reiche Auswahl der allerreizendsten Geschöpfchen zum Mikroskopieren erhalten. Übrigens sind diese Fahrten nicht nur sehr lehrreich, sondern auch amüsant, indem der alte Müller uns fast beständig sehr lustig und geistreich unterhält. Da uns aber die so erhaltenen zoologischen Schätze dann den ganzen Tag am Mikroskop vollauf beschäftigen, so kommen wir zu wenig andern Sachen, und namentlich ist von der Beschäftigung mit Seetangen und größeren Seetieren seither nicht viel die Rede gewesen. Andere Seefahrten habe ich auch wenig gemacht. Jedoch fuhr ich am Montag mit Dr. Esmarch, einem Freunde desselben, Pastor Henel aus Göttingen und Herrn Kaufmann Weber aus Hamburg um die Insel. Gestern früh machte ich bei Springebbe mit la Valette und Tein Taten eine Fahrt nach den Seehundsklippen, nach welchen ich schon längst gern hingewollt hatte. Diese Klippen liegen östlich von der Insel, sind nur bei dieser niedrigen Ebbe eine Stunde von Wasser entblößt und ganz mit Tang bewachsen. Von diesem letzteren fand ich ein paar hübsche Schmarotzerarten. Zwischen dem Seetang saßen aber viele der allerniedlichsten Tiere, namentlich reizende Polypen (Tubularia, Eudendrium, Actinia), Seespinnen (Pycnogonum littorale) und ein sehr merkwürdiges Manteltier (Amaroecium rubicundum). Außerdem sahen wir in nicht allzu großer Entfernung ein paar Seehunde. Gestern abend fuhren wir mit Änkens nach der Düne zum Fischfang. Es war eine ganz herrliche Vollmondnacht, warm und schön, und wir fischten da bis gegen 12 Uhr. Das Merkwürdigste, was wir bekamen, war der schöne grüne Hornhecht (Belone vulgaris) mit grünen Knochen, an dessen höchst sonderbaren Eiern ich heute den ganzen Tag gesessen und mikroskopiert habe; außerdem Schwimmkrabben, ein paar Garneelen, die hier sehr selten sind, Seeteufel (Cottus Scorpius), Sprotten, eine Masse verschiedene Schollen und Dorsche nebst andern Fischen. Damit haben wir denn unsere Blechbüchsen und Gläser so ziemlich voll gemacht, und unser Zweck in dieser Hinsicht wäre erreicht. Dagegen will ich in der kommenden letzten Woche mich noch hauptsächlich mit Algen beschäftigen, wovon ich schon einen tüchtigen Stoß gesammelt habe. Mit solchen Beschäftigungen vergeht hier die Zeit, ich weiß nicht wie. Übrigens wird mir die nächste Woche etwas einsam werden, da alle meine Bekannten, la Valette, Esmarch, der sich Euch bestens empfehlen läßt, und Herr Weber morgen abreisen und ich ganz allein zurückbleibe. Johannes Müller geht nächsten Donnerstag weg. Ich will morgen, Montag, über acht Tage absegeln. Ich bin dann vier Wochen hier gewesen und habe gerade 30 Bäder gebraucht. Übrigens muß ich die Reise nach Aurich leider aus verschiedenen Gründen aufgeben. Der hauptsächlichste ist, daß ich meine hier gesammelten Schätze baldmöglich in Ordnung bringen muß, da mir die lieben Tierchen in dem schlechten Spiritus sonst ganz und gar verderben. Auch bin ich das Herumbummeln jetzt ziemlich satt und sehne mich recht wieder nach Hause und nach einer ordentlichen regelmäßigen Tätigkeit . . . Wenn Ihr also nichts dagegen habt, meine lieben Alten, denke ich Mittwoch oder Donnerstag über acht Tage wieder in Berlin einzutreffen. Bis dahin denkt noch fleißig an Euern alten

Ernst.

54. Ziegenrück, 25. 4. 1855.

Meine lieben Eltern!

Wie Ihr Euch gewiß schon von selbst gedacht habt und wie es auch nicht anders zu erwarten ist, habe ich hier bei meinen lieben Geschwistern in der herrlichen Gebirgsnatur sehr glückliche Tage verlebt, so daß es mir recht leid ist, morgen dieses mein Sanssouci schon wieder verlassen zu müssen. Nachdem ich nun ein volles Jahr lang keinen Berg und auch keinen ordentlichen Wald gesehen, tut der ungestörte Genuß dieser Hauptzierden der Natur unendlich wohl, und ich sehe jetzt wieder recht, wie eng mir die Natur auch im großen und ganzen ans Herz gewachsen ist. Die schöne freie Zeit, welche mir jetzt zu Gebote stand, habe ich teils zum frischen, frohen Genuß der Gebirgswälder, teils dazu benutzt, wieder einmal etwas im Zusammenhang zu lesen, wozu ich jetzt so lange Zeit nicht gekommen war. Zu letzterm Zweck hatte ich mir Karl Vogts "Lehrbuch der Geologie und Petrefaktenkunde" (nach Elie de Beaumonts Vorlesungen bearbeitet) mitgenommen, welches ich mit dem lebhaftesten Interesse von A bis Z durchstudiert habe. Ich hatte bisher über Geologie bloß immer zerstreute Einzelheiten (das mit der gewohnten Klarheit und Eleganz der Feder, welche Karl Vogts Schriften überhaupt einen hohen Reiz verleihen, sehr hübsch geschrieben ist) trat mir zum ersten Male die herrliche Wissenschaft der Geologie im großen und ganzen entgegen. Wie sehr bedaure ich jetzt, nicht früher in Berlin daran gedacht zu haben, mich mit disem Felde der Naturforschung näher bekannt zu machen, wo mir die schöne geologische Sammlung so sehr zustatten gekommen wäre. Wo soll man aber auch die Zeit hernehmen, in alle die verschiedenen Fächer der alma scientia tiefer einzudringen, von denen jedes einzelne schon ein Menschenleben für sich in Anspruch nimmt! Mit der Geologie muß ich aber durchaus noch näher vertraut werden, und ich habe mir vorgenommen, daß dies die erste Aufgabe sein soll, wenn ich wieder in Berlin bin und die verhaßte Medizin im Rücken habe. Natürlich ist es vorzüglich der paläontologische Teil der Geologie, die Petrefaktenkunde (die Lehre von den Tieren und Pflanzen, welche vor der jetzigen Bildungsepoche der Erde dieselbe bevölkerten, und deren Reste nur noch versteinert da sind), welcher mich besonders anzieht und welcher auch eine notwendige Ergänzung der systematischen Zoologie und Botanik ist, indem man ohne die Kenntnis dieser vorweltlichen Organismen, welche vollständig und wesentlich die Reihe der jetzt noch lebenden Tiere und Pflanzen ergänzen, sich keinen ordentlichen und vollkommenen Überblick über den Kreis der letztern erwerben kann. Viel weniger zieht mich natürlich der eigentlich geognostische Teil oder die Lehre von den verschiedenen Gesteinen, die unsere feste Erdrinde zusammensetzen, an, da mir hier leider die notwendigen Kenntnisse aus der Mineralogie fehlen, welche wiederum ohne mathematische Vorkenntnisse nicht betrieben werden kann. Der Mangel an letztern ist ein Hauptfehler meiner ganzen naturwissenschaftlichen Ausbildung, und ich habe namntlich in letzter Zeit, wo ich dies mehr eingesehen, recht oft die starre Einseitigkeit des Merseburger Gymnasiums verwünscht, wo wir, statt ordentlichen Unterricht und Anleitung in Mathematik zu empfangen, mit unverdaulichen philosophischen Brocken und höchst unfruchtbaren und dürren lateinischen Stilübungen gequält wurden. Dieser große Mangel wird aber schwerlich noch zu ersetzen sein, und ich werde wohl Zeit meines Lebens in anorganicis ein Stümper bleiben, zu meinem großen Nachteil!

Übrigens war mir auch in der andern Beziehung, als in der paläobotanischen, das Studium des geologischen Lehrbuches höchst anziehend, lehrreich und wichtig, indem ich darin ausführliche Belehrung über viele Naturwunder gefunden habe, welche ich auf meiner Alpenreise antreffen und nun mit noch einmal soviel Verständnis werde anschauen können, so namentlich die Gletscher und die allgemeinen orographischen Verhältnisse der Tal- und Gebirgsbildung . . . Das Studium dieses höchst anziehenden geologischen Lehrbuchs nahm bis heute fast alle Vormittage vollständig ein, so daß mir außerdem zum Lesen fast keine Zeit blieb, und ich nur abends noch etwas Goethes Leben von Viehoff durchlaufen und einzelne Episoden aus "Wahrheit und Dichtung" rekapitulieren konnte. Auch dies hat mir, nachdem ich so lange nichts derart gelesen hatte, großen Genuß gewährt, namentlich aber dazu beigetragen, meinen nun schon seit einem halben Jahre in beständigem Wachsen und Aufblühen begriffenen Lebensmut von neuen zu stählen und anzufachen. Wenn ich sehe, wie selbst ein so eminenter Genius wie Goethe so lange, lange Zeit, und grade auch seine schönsten Jugendjahre hindurch, bis nach der Universitätszeit, in beständigem Kämpfen und Ringen mit der umgebenden Außenwelt sowohl als auch mit seinem eignen Innern über sich selbst im unklaren war und lange Zeit hin und her schwankte, ehe er zu einer festen und gewissen Richtung seines Strebens und Handelns kommen konnte, und wie dann doch zuletzt seine reichen Geistesblüten sich auf herrlichste entfalteten, dann fange auch ich an, neuen Mut und neue Kraft zu schöpfen und zu hoffen, daß in dem allmählichen Entwicklungsgange meiner Natur auch mein ernstes und dauerndes Streben, wenn ich es mit männlicher Energie verfolge, nicht fruchtlos sein wird . . .

Die Nachmittage meines hiesigen Aufenthalts habe ich meistens zu Exkursionen in die so mannigfaltig reizenden Waldtäler der schönen Umgebung benutzt . . .

Die bedeutendste und lohnendste Exkursion, welche fast einen ganzen Tag in Anspruch nahm, machte ich Montag (23. 4.), wo ich den reizenden romantischen Otterbach, welcher bei mir unter allen den schönen, wilden Gebirgsbächen in der Umgebung, selbst meinen Liebling, die Sornitz, nicht ausgenommen, den ersten Rang einnimmt, bis nahe an seine Quellen verfolgte . . .

Ich wünschte, Großvater hätte noch einmal seinen kleinen, lieben Urenkel sehen können, der jetzt gar zu allerliebst ist. Durch die Stube läuft er so munter und flink wie ein Wiesel. Sprechen kann er aber freilich noch wenig. Nur die Stimmen der verschiedenen Haustiere ahmt er höchst possierlich nach, woraus ich, wie aus seiner Freude an Tieren überhaupt, auf große zoologische Talente schließen möchte. Außerdem spricht er noch sehr nett "Papa", - "da-da" (womit er alles mögliche bezeichnet) und "Eis", wobei er das s gerade so lispelnd ausspricht wie das englische th. In seinem ganzen, höchst munteren und liebenswürdigen Benehmen, Gebärden und Pantomimen ist er äußerst nett und possierlich und macht uns fortwährend die größte Freude. Daß wir (namentlich Mimmi) es an allen möglichen Späßen mit dem kleinen homunculus nicht fehlen lassen, könnt Ihr Euch denken. Ganz besondere Freude macht es ihm, wenn ich ihn auf die Schultern nehme und damit durch die Stube trabe, wobei sein ganzes, höchst schlaues und niedliches Gesichtchen lacht. Er kennt mich sehr gut, wie er überhaupt alle einzelnen Personen genau unterscheidet und auch alles versteht, was man mit ihm spricht. Sein ganzer Charakter ist sehr liebenswürdig, immer munter und vergnügt (wie Mimmi), daneben auch gehörig hitzig und ungeduldig (wie alle echten Haeckels). Wie letztere, will er auch beständig beschäftigt und unterhalten sein. Der allerliebste kleine Pussel wird mir jetzt recht fehlen. Ich habe mich ordentlich an ihn gewöhnt und manche liebe Stunde mit ihm totgeschlagen. Ihr werdet auch rechte Freude haben, wenn Ihr ihn wiederseht. Überhaupt ist das hiesige, glückliche Familienleben doch gar zu allerliebst, und ich fühle mich allemal, so oft ich hier bin, so äußerst wohl und glücklich darin, daß oft der sehnsuchtsvolle Wunsch, der doch schwerlich erfüllt werden wird, sich regt: Ach, wenn du doch auch mal solch Glück genießen solltest! . . .

55. Würzburg, 28. 4. 1855.

. . . Ich ging am Donnerstag (26. 4.), begleitet von einem einarmigen Invaliden, der meine Sachen trug, am Nachmittag von Ziegenrück fort. Wie ich mich überhaupt allemal so schwer von diesem mir liebgewordenen Ort trennen konnte, so ging ich auch diesmal sehr ungern von meinen lieben Geschwistern und der schönen Gebirgsgegend fort. Mein treuer, guter Bruder begleitete mich noch ein Stück. Da ich sehr rasch ging, so kam ich schon um 5 Uhr, statt um 6 Uhr in Schleiz an, wo ich nun noch die Muße genug hatte, mir die Residendenzstadt des größten deutschen Fürstentums von innen und außen genügend zu besehen. Sie ist häßlich und winklig gebaut, höchst kleinstädtisch und macht im ganzen ncihts weniger als den Eindruck einer Residenz. Nur das kleine, aber ganz nette Schloß liegt leidlich hübsch auf einer Anhöhe, von der man einen Überblick über das ganze ärmliche Nest und über die nächsten Höhen hinweg nach den lieben Ziegenrücker Bergen hat. Wie recht kleinstädtisch auch die Bewohner dieser mit schwarz-rot-goldnen Schlagbäumen verzierten Residenz sind, erfuhr ich auch selbst noch an diesem Abend. Nachdem ich genugsam mich umgesehen, suchte ich vergebens an der alten Mauer des Schlosses nach einem Moose oder einem andern Pflänzchen, das ich als botanische Erinnerung an das Fürstentum Schleiz meinem Herbarium einverleiben könnte. Endlich fiel mein Auge auf einen alten Brunnen, der in der Mitte eines Halbzirkels kleiner Ställe, die den Marstall darstellen sollten, in einer kleinen dunklen Grotte befand. Äußerlich war nichts daran zu sehen; innen aber, wo das Wasser beständig in ein Bassin plätscherte, schien mir ein grünes Moos zu flottieren, bei dessen Anblick ich sehnsüchtig dachte: Ach, wenn es doch das Conomitrium Julianum wäre! Es ist dies zugleich eines der schönsten und der seltensten deutschen Moose, welches bisher nur in zwei Brunnen, in Pirna und in Stuttgart, gefunden worden ist. Ich mußte fast über die Kühnheit dieses Wunsches lachen. Wer beschreibt aber mein Erstaunen und meine freudige Überraschung, als ich in dem kleinen, grünen Moose wirklich das bezeichnete, vo mir längst ersehnte Pflänzchen fand. (Wenigstens glaube ich mit bloßem Auge es bestimmt dafür erkannt zu haben. Absolute Gewißheit kann mir erst die mikroskopische Untersuchung geben, welche ich leider noch nicht anstellen konnte.) Natürlich hatte ich nun nichts Eiligeres zu tun, als meine Pinzette herauszuholen, und teils in Gläser zu stopfen, teils auf Papier zu ziehen, was sich nur von dem reizenden Möschen im Brunnen fand. Da dies nicht viel war, so dachte ich, vielleicht auch in andern Brunnen der Stadt dasselbe wiederzufinden und war auch wirklich, nachdem ich fast alle durchsucht hatte, bei dem zweitletzten so glücklich. Als ich nun hier dasselbe Manöver wiederholte und möglichst viel davon in einer Flasche sorgfältig sammelte, bildete sich bald ein Kreis zahlreicher Kinder, die mit Erstaunen das sonderbare Beginnen betrachteten. Nicht lange dauerte es, so gesellten sich auch Gruppen von Erwachsenen hinzu und bald waren fast alle Fenster des kleinen Marktplatzes mit neugierigen Menschen besetzt, die in der Dämmerung mein wunderliches Tun betrachteten und sich in herrlichen Hypothesen darüber ergingen, über die ich mich köstlich amüsierte. "Er hat die Neugierigen zum Narren", sagten die einen, "er sammelt heilsame Kräuter", die andren usw. usw. Endlich konnten es doch ein paar alte Weiber nicht unterlassen, mich zu fragen, "zu was um Himmels willen der grüne Schlamm nur sein sollte", worauf ich ihnen dann mit sehr geheimnisvoller Miene sehr ernsthaft exponierte, daß diese Kräuter, wobei ich auf ein paar andere, unschuldige, im Brunnen befindliche Wasserpflanzen deutete, das wahrhafte und echte Kraut seien, aus dem die Frau Gräff (die Schleizer Wunderdoktorin) ihr Lebenselixir und ihre alle Krankheiten heilenden Kräuterbäder bereitete. Anfangs wollten sie es nicht recht glauben, als ich aber immer sehr eifrig einzupacken fortfuhr und mich dann mit meinen Schätzen entfernte, fielen sie über den armen Brunnen her, den sie bald gründlich von allen Kräutern gereinigt hatten, bis auf mein Moos, das ihren gierigen Händen durch seine Kleinheit entging. Wohl bekomm's ihnen! Jedenfalls hilft's und schadet's den gläubigen Leuten nicht mehr und nicht weniger als die meisten anderen Pflanzen unsres Arzneischatzes. Vielleicht komme ich sogar unschuldigerweise dazu, einige Kranke durch den festen Glauben an Veronica Beccabunga, Nasturtium amphibium und ein paar andre unschuldige Wasserpflänzchen zu heilen! . . .

In aller Liebe Euer treuer

Ernst.

56. Würzburg, 5. 5. 1855.

Liebe Eltern!

Vorgestern früh erhielt ich Euren Brief, in dem Ihr mir den Tod unseres lieben, guten Großvaters meldet. Die Trauernachricht kam mir nicht unverhofft. Ich hatte grade die vorangehenden Tage noch recht viel an ihn gedacht und ihm baldige Erlösung von seinem schweren Leiden gewünscht. Ich sah mit einer ängstlichen Unruhe einem Briefe von Euch entgegen, weil ich bestimmt glaubte, daß er das für uns so betrübende und doch für ihn so wünschenswerte melden würde. Es ist aber doch ein sonderbares Ding um das menschliche Herz. Wenn man die letzten Lebensmonate des herrlichen Mannes betrachtete, die ihm nach einem so langen Leben voll soviel Glück, so rastloser, fruchtbarer Tätigkeit, auf die er mit dem glücklichen Bewußtsein, sie immer nur möglichst zur Förderung des Guten angewandt zu haben, zurückblicken konnte, noch soviel Schmerz und schweres Leid bereiteten, die ihm die irdische, schlechte Hülle, in die der unsterbliche Geist hier gebannt ist, noch so recht bitter verleiden mußten, so konnte man ja doch nur den stillen Wunsch hegen, daß er von dieser drückenden Last baldmöglichst befreit würde; und das war auch insbesondere mein Wunsch, daß ich oft gern dem lieben Gott einen Vorwurf daraus gemacht hätte, daß er den prächtigen Greis so lange und schmerzlich leiden ließ. Und doch, nun er wirklich von uns genommen ist, kommt mir das als ein schwerer und unersetzlicher Verlust vor, wie ich es nie vorher gedacht haben würde! Der Großvater bildete doch eigentlich immer noch den Kern der ganzen Familie. Sein Haus bildete das Zentrum, in dem sich alle einzelnen, weit verstreuten Familienglieder immer von Zeit zu Zeit wieder sammelten. Er ragte noch als ehrwürdiger, alter Stammvater, als einziges überlebendes Glied aller meiner Ureltern, aus der grauen alten Zeit in die jüngere, schwächere Generation hinein, der er wohl lebenslang als das würdigste Muster und echteste Vorbild eines echten deutschen Mannes und wahren Christen, ohne viele Worte, aber mit desto mehr Taten, vorschweben sollte. Ein solcher leuchtender Leitstern in der düstern Nacht dieses ärmlichen, dürftigen Erdenlebens, auf dem wir so oft im Finstern herumtappend straucheln und dem Fall nahe sind, und so oft und vielfach irren, soll der herrliche Großvater auch mir beständig sein. Und wenn mein schwacher, schwankender Charakter, der jetzt noch so wenig Festigkeit und Stetigkeit besitzt und durch unnötige Zweifel und Besorgnisse bald hier, bald dorthin getrieben, unsicher und zweifelvoll hin und her schwankt und nicht weiß, wie und wo er das Rechte finden und ergreifen soll, dann soll mir immer sein starker, männlicher Charakter zum leitenden und ermutigenden Beispiel dienen, wie ich auf dem einzigen und rechten Wege zwischen Klippen auf beiden Seiten mutig und hoffnungsvoll durchschreiten soll. Wie zerrissen und zersplittert kommt mir jetzt mit einemmal die ganze große Familie vor, wie abgerissene Glieder eines ganzen Leibes, dessen Haupt gefallen und so die zusammenhaltende Einheit verloren ist. Ich glaube auch in der Tat, daß nun die einzelnen Familien sich immer mehr voneinander verlieren und absondern werden. Der Stamm, in dessen Zentrum alle ihren Halt hatten und sich sammelten, ist ja dahin. Desto inniger und fester wollen aber wir engere Familienglieder zusammenhalten und nicht voneinander lassen. Erst jetzt bei meinen lieben Geschwistern habe ich wieder recht gesehen, was für ein großes, herrliches Glück das ist, mit so guten, lieben Menschen sich innig in brüderlicher Liebe verbunden zu wissen. Gebe Gott seinen Segen dazu, daß wir auch in dem fernern Leben, je weiter wir durch äußere und innere Verhältnisse voneinander entfernt werden, desto fester einer auf den andern bauen und sich ihm ganz anvertrauen . . .

Noch jetzt macht es mir das lebhafteste Vergnügen, an die schöne Wanderung durch den ganzen Ottergrund (am 23. 4.) zurückzudenken. Selten habe ich so innig und tief die unnennbare Macht empfunden, mit der ich untrennbar an den Wunderbau der organischen Natur gekettet und auf innigste mit ihr in meinem ganzen Denken und Treiben, Dichten und Trachten verwachsen bin, als an jenem herrlichen Tage. Machte es nun das schöne Frühlingswetter, oder das Erwachen der jungen Natur aus dem langen Winterschlaf (was für mich immer einen ganz besonderen Reiz gehabt hat), oder die tiefe, von keinem Menschenlaut gestörte Waldeinsamkeit des wilden Felsentales, in dessen Mitte der brausende Gebirgsbach dahinstürzte, oder mochte es endlich die glückliche Kombination aller dieser und noch mehrerer anderer Momente sein, kurz, ich bin selten noch so innig froh in einer selbst schöneren Natur gewesen, habe mich selten in einer so tiefen harmonischen Einheit mit meiner Natur gefühlt. Doch trugen auch wesentlich meine Fortschritte in der Naturwissenschaft im vergangenen Jahr dazu bei, dieses Gefühl zu erhöhen. Konnte ich mir doch von jedem, auch dem kleinsten lebenden Wesen, was mir begegnete, Rechenschaft ablegen, was es sei, oder wenigstens, in welche Klasse, Ordnung, Familie usw. des so unerschöpflich mannigfaltigen Tierreichs es gehöre. Waren mir doch alle die unendlich verschiedenen Pflanzenformen, denen ich aufstieß, so vertraute, alte Bekannte, von denen ich auch mehr als die bloßen Namen wußte. Und grad das, was die Menschen als verächtlichen, schlechten Schmutz verachten und zertreten, der grüne Schlamm an altem Holz im Wasser, der trübe Schaum auf der Oberfläche der Pfützen, weist mir das nicht mein Mikroskop als die gerade herrlichsten und wunderbarsten Gebilde der Schöpfung nach? Nie hatte ich übrigens bis jetzt auch mein treues Mikroskop so schmerzlich vermißt, als in jenen Tagen, wo mir die Gebirgswässer so vieles neues tierisches und pflanzliches interessantes Material zum Mikroskopieren darboten. Auch habe ich mir dort heilig gelobt, nie, wenn es irgend möglich ist auch auf Reisen, meine treue Lebensgefährtin, die mir ein unendliches organisches Leben erschließt, wo das unbewaffnete Auge nur Schutt und Moder sieht, von meiner Seite zu lassen. Übrigens habe ich auch jetzt noch in dem mitgebrachten Schlamm mehrere höchst interessante kleine Tier- und Pflanzenformen aufgefunden.

Ihr könnt kaum glauben, welche Sicherheit und Zuversicht, welchen Lebensmut und Trost mir das Bewußtsein dieser innigen Vertrautheit mit der Natur einflößt. Kaum könnte ich ein anderes geistiges, selbst moralisches Element diesem an die Seite stellen. Ich glaube nicht, daß ich ohne diesen Trost, dessen ich ganz fest versichert bin, den Vorsatz, dies Studium der Medizin durchzuführen, ausführen würde. Das habe ich in der letzten Woche (der ersten meines Hierseins) gleich recht empfunden, wo in der Tat nur wenig fehlte, daß ich ganz in die alte verzweifelte Kleinmut zurückgesunken wäre. Ich hatte in der Tat nicht gedacht, daß der wirkliche Angriff des medizinischen Studiums mir jetzt noch eine so harte und bittere Nuß sein würde. Ich will Euch jetzt mit einer Schilderung der verschiedenen, verzweifelten Stimmungen, die mich namentlich beim Besuch der Kliniken hier wieder befielen, verschonen. Auch braucht Ihr nur meine früheren (namentlich die ersten) Briefe, die ich von hier aus in betreff meines Studiums, meinen horriblen Abscheu vor der praktischen Medizin usw. an Euch schrieb, wieder nachzulesen, um ein deutliches Bild von der "Lust und Liebe" (?) zu bekommen, mit der ich auch jetzt die Sache ansehe und betreibe. Nur ein Unterschied findet sich im Verhältnis gegen damals; aber der ist auch zu groß. Damals gab ich mich ohne festen Halt und Willen aller verzweifelten Stimmungen, die die augenblicklichen Eindrücke hervorriefen, ohne allen Widerstand hin. Jetzt habe ich mir wenigstens einen Anfang von einem ordentlichen ernsten Willen angeschafft (dank sei es dem charakterbildenden Verkehr mit vielen verschiedenen Menschen, den ich im vergangenen Winter genoß), und mit dessen Hilfe (die ja bei jeder Selbstüberwindung stets wächst) denke ich, soll es mir gelingen, den begonnenen Vorsatz, wie schwer es auch werden mag, durchzuführen. Und daß mir das nicht leicht wird, könnt Ihr mir schon glauben. Jetzt, wo ich mit einem Male vollständig in die praktische Medizin hineinkomme, merke ich erst, daß ich eigentlich noch gar nichts davon weiß, und was es heißen soll, all dies scheußliche, geistlose, langweilige und doch auf der andern Seite so schwierige und verantwortungsvolle praktische Zeug zu erlernen! Man muß in der Tat schon eine gute Portion Mut (wie ich ihn mir jüngst erst angeschafft)! besitzen, wenn dieser nicht gleich unter Null sinken soll! Das erste, was ich tun mußte, war der feste Vorsatz, für jetzt, d. h. für die nächsten zwei Jahre, bis wohin ich mit Promotion, Doktorexamen und Staatsexamen (!?), kurz, dem sämtlichen ekelhaften medizinischen Wust fertig werden zu sein, und zwar hoffentlich ihn für immer und ewig los zu sein hoffe, alle ernsten geologischen und botanischen Studien, überhaupt die ganze reine, geliebte Naturwissenschaft vollständig aufzustecken und an den Nagel zu hängen und alle Zeit einzig und ausschließlich auf die widerliche Quacksalberei zu wenden . . .

Ein großer Trost ist es mir, daß ich in Ziegenrück noch den ersten Teil von Goethes Leben (bis nach den Universitätsjahren) gelesen habe, wo durchaus ähnliche Situationen vorkommen. Übrigens besuchte selbst Goethe in Straßburg Kliniken, bloß um sich an den ihn immer höchst unangenehm affizierenden Anblick solcher affröser Geschichten zu gewöhnen. Schon aus diesem Grunde wird der streng durchgeführte Besuch der Kliniken auch mir gewiß nicht ohne Nutzen sein, wenn er mir auch gegenwärtig noch widerwärtiger als alles andre ist. Übrigens, denke ich, wird sich das mit einigen Wochen wohl geben. Goethe sagt: "Geht's doch mit allem wie mit dem Merseburger Bier: anfangs schaudert man davor zurück und dann kann man's nicht mehr lassen!" Dieser Trost, den die Macht der Gewohnheit gibt, soll auch mich ermutigen. (Übrigens bin ich nicht einmal bei einer neulichen großen Operation in Ohnmacht gefallen wie mehrere meiner Kollegen!) Über die Kliniken, Kollegien usw. selbst werde ich Näheres im nächsten Briefe schreiben . . . Übrigens hebt meine Briefe ordentlich auf, welches zugleich mein Tagebuch sein soll. - . . . .

Herzliche Grüße von Eurem alten treuen

Ernst H.

56. Würzburg, Himmelfahrtsnachmittag, 17. 5. 1855.

Meine lieben Eltern!

. . . Das Studium der Medizin macht sich viel besser, als ich je hoffen konnte. Ich fange jetzt an, einzusehen, daß ich eigentlich mit schrecklich viel Vorurteilen und zu ängstlicher Besorgnis an die Sache herangegangen bin. Das jahrelange, unnütze Ängstigen davor ist im Grunde recht überflüssig gewesen . . .

Der hoffnungsvolle Gedanke an die künftige Tropenreise als Ziel aller meiner Wünsche und die eigentliche Bestimmung meines Lebens und die feste Hoffnung, daß meine innigst geliebte Natur mich einst gewiß nicht im Stiche lassen wird, und daß mir die reichste Befriedigung und der höchste irdische Genuß daraus erwachsen wird, trösten mich genug darüber, daß ich jetzt auf ein paar Jahre einmal ernstlich von der Lieblingsneigung mich abwenden und mit ganz andern, mir meinem inneren Wesen nach viel ferner liegenden Sachen beschäftigen muß. Dieser trostreiche Gedanke an eine freudigere Zukunft gibt mir jetzt hinlänglichen Mut, tapfer und frisch jetzt in den sauren Apfel des Äskulap zu beißen, und daß dies mit der gehörigen Intensität und Ausdauer geschehe, dafür bürgt mir das schauerliche Gespenst des Staatsexamens, welches ich jetzt öfter als wohltätig mahnenden schwarzen Mann heraufbeschwöre. -

Daß ich jetzt mit einem Male so rasch und leicht mich in diese Notwendigkeit gefunden habe, und daß ich, einmal davon überzeugt, mit der gehörigen Ausdauer mich dahinter setzen werde, habe ich lediglich den Verhältnissen zu danken, in die ich jetzt hier hineingeraten bin. Und das sind einmal die hiesigen Kollegia und die in ihrer Art wirklich vollkommene Art und Weise, in welcher die verschiedenen Fächer der Medizin hier einheitlich und in sehr gut zusammenpassender Harmonie betrieben werden (in Berlin wäre das nie möglich gewesen, da dort grade hiervon nicht die Spur zu finden ist), - und andrerseits der enge Kreis medizinischer Freunde, in dem ich mich hier schon ganz eingelebt habe. In beiden Beziehungen habe ich es jetzt hier so gut getroffen, wie ich es nur irgend wünschen konnte. Was zunächst den letzteren betrifft, so besteht er, me inclusive, aus einem halben Dutzend Leuten, von denen wieder je drei enger verbunden sind. Der vortreffliche unter allen ist der kleine Beckmann, welcher nebst Hein mein Hausbursch ist. Über diesen höchst ausgezeichneten und liebenswürdigen jungen Mann, der für mich wirklich in jeder Beziehung ein Muster sein kann, und in dem ich das Ideal eines Studenten und Menschen, wie ich es von Rechts wegen sein sollte, verwirklicht vor Augen habe, könnt Ihr Euch von Lachmann näher erzählen lassen, auch werde ich Euch künftig noch viel von ihm zu schreiben haben. Für jetzt nur das, daß er auf mich von allerwohltätigstem Einfluß ist, den ich schon in den wenigen Wochen unserer engern Bekanntschaft (oberflächlich lernte ich ihn schon im Winter 1852/53 kennen) nicht hoch genug anschlagen kann. Dieser mein Mentor hat ganz dieselben Lieblingsneigungen wie sein folgsamer Telemach (denn das werde ich in jeder Beziehung zu sein mich bemühen); er war früher eifriger Botaniker und Zoolog, vergleichende Anatomie und Physiologie, überhaupt das Studium des normalen Organismus ist seine wie meine Lieblingsneigung; auch er treibt die Medizin eigentlich ursprünglich nur aus Not (da er ein ganz armer Kerl ist!); aber einmal davon überzeugt, daß dies notwendig sei, hat er sie mit solcher Gründlichkeit und Energie sich angeeignet, daß er den vorigen Winter hier in der Poliklinik der erste und beste Praktikant war. Ist das nicht für mich ein sehr nachahmenswertes Beispiel? Auch er hofft einst als Lebensberuf sich allein die reine Naturwissenschaft erwählen zu können, treibt aber jetzt, um sich dazu die Mittel und Wege zu verschaffen, die Medizin höchst gründlich und gewissenhaft. Übrigens geht er mir nicht nur so selbst mit einem vortrefflichen Beispiele voran, sondern hat mir schon ein paarmal sehr gründlich das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Medizin und den wirklichen Wert der letztern (den ich in der Tat in meiner Einseitigkeit viel zu gering angeschlagen) so auseinandergesetzt, daß ich ihm nur vollkommen mich unterwerfen konnte. Vor allem wies er mich, worin er gewiß sehr recht hat, auf den hohen Wert hin, den die Ausübung der praktischen Medizin für die Entwicklung der allgemein menschlichen Seite unsres Geistes hat, welche ich bisher viel zu sehr vernachlässigt, und überzeugte mich in einem weitern ernsten Gespräche so sehr von der großen Einseitigkeit meiner ganzen bisherigen Richtung, daß ich mir vornahm, schon bloß deshalb einmal mich in der praktischen Medizin zu versuchen, um mir auch diesen höheren, allgemeinen Standpunkt in der Ansicht des menschlichen Lebens anzueignen. In der Tat, schon die ersten Wochen meiner näheren Bekanntschaft mit diesem herrlichen, in jeder Beziehung musterhaften Jüngling haben mehr über meinen starren Sinn vermocht als alles Predigen vieler andern Freunde; überhaupt sind meine neuen Freunde, mit denen ich täglich fast fortwährend, sowohl in den Kollegien als bei Tisch als abends, zusammen bin, möglichst bemüht, einen Menschen aus mir zu machen und meine vielfachen scharfen Kanten und Ecken durch wohlwollenden, freimütigen Tadel möglichst abzuschleifen, mit einem Worte, den Philister aus mir auszutreiben . . .

Wenn ich so in Hinsicht des näheren Umgangs gleich bei meiner Ankunft diesmal (recht im Gegensatz zu meinem frühern Aufenthalt, der doch im ganzen höchst versiegelt und philiströs war) außerordentliches Glück gehabt habe, so ist dies fast noch mehr hinsichtlich der Kollegia der Fall, die ich grade für meinen jetzigen Zweck wohl nirgends passender hätte zusammenfinden können, als es hier der Fall ist. Wenn ich in Berlin geblieben wäre, so wäre auch nicht im entferntesten daran zu denken gewesen, daß ich so weit mit einem Male in die Medizin als Ganzes hineingekommen wäre, wie dies hier der Fall ist. Abgesehen davon, daß grade in Berlin nur ganz vereinzelte Professoren in der Medizin für Anfänger brauchbar sind, würde man doch wohl auch auf jeder andern deutschen Universität jetzt vergebens nach einer medizinischen Fakultät suchen, die so die Theorie und Praxis in der schönsten Harmonie vereint zeigte. Und grade das ist für mich, dem die Wissenschaft erst schmackhaft und annehmlich gemacht werden soll, so äußert wichtig. Nur dadurch, daß ich der theoretischen Medizin, die hier von Virchow gewiß glänzender, naturwissenschaftlicher und geistreicher als irgendwo repräsentiert wird, ein hohes Interesse abgewinne, kann ich zum Betreiben der praktischen gebracht werden. In der Tat habe ich bis jetzt in der Wahl meines Studienorts allemal ein ganz besonderes Glück gehabt, indem mich eigentlich mehr eine dunkle Ahnung als ein deutliches Bewußtsein von dem, was mir geboten werden würde, erst im Winter 52/53 hieher und dann vorigen Sommer wieder nach Berlin zurückleitete. Niemals ist mir dies aber deutlicher gewesen als jetzt, wo ich es für die Durchführung meines nächsten Planes wirklich als das höchste Glück betrachten muß, gerade jetzt wieder hieher verschlagen worden zu sein. Das Ausführliche darüber kann ich Euch erst später schreiben, wenn ich mit Virchow noch mehr vertraut geworden bin. Für jetzt kann ich Euch nur sagen, daß mir die rein wissenschaftliche Richtung (zunächst in der pathologischen Anatomie), in der Virchow, auf das Mikroskop gestützt, die Medizin verfolgt, die eigentümliche Zellularpathologie, die er jetzt geschaffen hat (und in der er alle krankhaften Prozesse des Organismus, ebenso wie es die normalen Naturforscher tun, auf das Leben der Zellen [für mich das mächtigste Wort!] zurückführt), für mich im höchsten Grade anziehend ist, wie ich es nie nur im geringsten geahndet hatte; denn als ich damals ein theoretisches Kolleg bei ihm hörte, verstand ich ihn noch gar nicht. Diesen höchst geistreichen Virchow-Kollegien verdanke ich es hauptsächlich, daß es mir möglich geworden ist, mich von meinen botanisch-zoologischen Studien jetzt eine Zeitlang loszureißen und mich mir aller mir zu Gebote stehenden Kraft auf die Medizin zu werfen . . .

Von 11-1 Uhr dreimal wöchentlich ist das Kolleg, welches mich vollkommen für alle praktischen Qualen entschädigt, und das ich zu den besten und lehrreichsten zählen muß, die ich je gehört habe. Dies ist das berühmte Privatissimum bei Virchow: demonstrativer Kursus der pathologischen Anatomie und Mikroskopie - wir sitzen zu 30-40 an zwei langen Tischen, in deren Mitte in einer Rinne eine kleine Eisenbahn verläuft, auf die die Mikroskope auf Rädern rollen und von einem zum andern fortgeschoben werden. Da bekommt man denn oft in einer Stunde die merkwürdigsten und seltensten, sorgfältig für das Mikroskop zurechtgemachten pathologischen Präparate in Menge zu sehen, während Virchow dabei ganz ausgezeichnete (natürlich dem grade in die Hände kommenden Material von der Klinik angepaßt) hält. Diese setzen dann meist die Fälle, die man vorher auf der Klinik lebend beobachtete, ins klarste Licht, wie dies auch die abwechselnd mit dem Kursus von Virchow gehaltenen Lektionen tun, bei denen er zuweilen auch seine Schüler selbst die Obduktion durchführen läßt. Grade dieser Zusammenhang zwischen dem klinisch- pathologischen, anatomischen und mikroskopischen Befund, wie man ihn so auf die klarste und bequemste Weise als ein ganzes, einheitliches Krankheitsbild erhält, ist äußerst interessant, lehrreich und wichtig. Und so etwas sucht man in Berlin, wo überhaupt an pathologische Anatomie nicht zu denken ist, ganz vergebens! Das ist nur hier! - Wieviel ich jedesmal in diesem Kursus lerne, kann ich selbst kaum hoch genug anschlagen. Überhaupt nehme ich jetzt täglich hier eine fabelhafte Masse mir ganz neuen, ungewohnten (leider nur zum Teil mir sehr widerwärtigen Wissens auf, daß ich oft ganz schwindlig werde und alle Mühe habe, nicht verwirrt zu werden. Fast ist's zu viel. An den drei Tagen, wo ich von 11- 1 Uhr keinen Kursus bei Virchow habe, schieße ich bei Kölliker die Entwicklungsgeschichte, welche ich schon einmal gehört habe und mir so ziemlich alles angeeignet habe. Nur das außerordentliche Interesse dieser unstreitig anziehendsten und wichtigsten aller organischen Naturwissenschaften, auf der die ganze neue vergleichende Anatomie ruht, sowie der außerordentlich klare und morphologisch anschauliche Vortrag Köllikers, von schönen Zeichnungen begleitet, haben mich bewogen, den Vortrag dieser Sachen, die ich fast auswendig kann, noch einmal anzuhören. - . . .

Von 4-5 Uhr kommt nun das theoretische Kolleg von Virchow über spezielle pathologische Anatomie, was zwar nicht so ausgezeichnet schön, aber doch sehr gut, ansprechend und belehrend ist. Virchows Vortrag ist zwar nicht sehr fließend und glatt, aber frisch, kompakt und durch einen eigentümlichen höhern und allgemeinen Standpunkt, von dem aus er alle Dinge betrachtet, und so auch das trockenste, einzelste Detail anziehend macht, ausgezeichnet. Oft ist er dazu noch ausgezeichnet witzig und amüsiert uns dadurch sehr. So fing er z. B. neulich seinen Vortrag so an: Meine Herren! Sie sehen hier zunächst den gewichtigen Schädel eines Wächters der allgemeinen und öffentlichen Ruhe (d. h. Nachtwächters) mit einem starken Hieb, den dieser edle Staatsbürger in der Ausübung seines gefühlvollen und sinnigen Amtes erhielt. Da er glücklicherweise die Heilung der sehr tiefen Wunde, die bis auf das Gehirn ging, bloß seiner Mutter Natur überließ, so heilte sie sehr gut. Nach zwei Jahren war er aber so töricht, als ihn ein leichter Schnupfen befiel, sich zur Kur desselben einem Medicus practicus anzuvertrauen, an dessen kunstgerechter Behandlung er denn auch bald glücklich zugrunde ging! usw. usw. - Um 5 Uhr ist nun die Kollegienreihe, die mit einer Stunde Mittagsunterbrechung von 7 Uhr früh an dauert, glücklich vorüber. Nur an zwei Tagen habe ich noch mit meinen Bekannten einen "physiologischen Experimentierkursus" von 5-7 Uhr bei den Professoren Kölliker und Heinrich Müller, eigentlich nur als Anstandskolleg, angenommen. Viel lernt man grade nicht darin, da beide weder Experimentatoren noch Physiologen (im eigentlichen Sinn) sind. Jedoch kann man sich doch mit den Leuten über allerlei unterhalten und lernt nebenbei auch selbst etwas Geschicklichkeit in der Anstellung physiologischer Experimente . . .

57. Würzburg, 3. 6. 1855.

Meine lieben Eltern!

Gestern abend erhielt ich Euern lieben Brief nebst dem Nekrolog vom Großvater, der mir sehr gefallen hat. Nur hätte ich gewünscht, lieber Vater, daß Du etwas ausführlicher gewesen wärst und außer seinen Verdiensten um den Staat und seinem herrlichen Charakter auch namentlich seine liebenswürdige Einfachheit als Privatmann sowie den bewundernswerten Reichtum an Kenntnissen aller Art etwas mehr hervorgehoben und dies vielleicht durch eingehende, so zahlreiche und interessante Einzelheiten seines reichen Lebens belegt hättest. Freilich war der gesteckte Raum für eine so ausführliche Charakteristik viel zu eng. Aber hoffentlich gibst Du den Gedanken nicht auf, später ein ausführliches Charakterbild, eine ordentliche Biographie des einzigen Mannes zusammenzustellen. Grade in unserer schwachen und entarteten Zeit, bei der allgemeinen Flauheit und Charakterlosigkeit, der Kleinlichkeit und dem Eigennutz, der überall herrscht, ist es doppelt notwendig, daß der kommenden Generation solche hehre und erhabene Vorbilder aus der jüngsten Vergangenheit anschaulich und lebendig vor Augen geführt werden, daß sie daran lernen und sich erbauen können. Wie wenig solcher trefflichen Charaktere, wie Großvater war, gibt es jetzt, und wie nötig brauchen wir sie doch grade jetzt! -

Was nun mein Tun und Treiben in den letzten Wochen betrifft, so habe ich Euch zunächst von meiner Pfingstreise zu erzählen, die wirklich glücklich zustande gekommen ist, wenn auch in bedeutend anderer Art und Weise, als ich gedacht hatte. Es wurde nämlich daraus nicht die zoologisch botanische Naturforscher-Fußreise, wie ich sie von jeher gewohnt war mit dem größtmöglichen Naturgenuß zu machen, sondern eine echte, sogenannte "Studentenspritze", wie ich sie noch nie gemacht hatte und hoffentlich auch nicht wieder machen werde. Denn wenn ich dies eine Mal auch recht munter und fidel dabei gewesen bin und in der Tat einmal die wahren Bummelwanderungen der Studenten kennengelernt und selbst mitgemacht habe, so bin ich doch durch diese Tour ein für allemal befriedigt und wünsche nie wieder in den Fall zu kommen, eine solche mit durchmachen zu müssen (wozu übrigens auch gar keine Aussicht ist). Dem Sinn und der Anschauungsweise der andern Studenten mag eine solche Art zu reisen wohl entsprechen; aber mit meiner Art, die Natur zu genießen und auszudeuten, ist diese Manier vollkommen unvereinbar, und ich mußte diesmal gleich von vornherein alle meine Wünsche und Pläne aufstecken, um nur in die Möglichkeit mich zu versetzen, eine solche Bummelei vier Tage lang aushalten zu können. Während ich bei meinen Fußreisen immer gewohnt war, die ganze Natur der durchwanderten Landstriche möglichst genau von innen und außen kennenzulernen, selbst ganz abgesehen von den speziellen botanischen und zoologischen Liebhabereien, wenigstens die schönsten Gegenden vor allem aufsuchte, hier mich möglichst überall umsah, nach der Natur zeichnete usw., war von alledem hier nicht die mindeste Rede. Nicht einmal die Aufsuchung der interessantesten Aussichtspunkte oder der anmutigsten Wälder und Berge usw. war hier erstes Prinzip, sondern lediglich das beste Bier und der beste Wein, und wenn sie diesen nur vollauf hatten, waren die Leute vollkommen zufrieden, und wenn diese höheren Genüsse nur reichlich zu Gebote standen, dann sah man sich in zweiter Reihe auch beiläufig nach der schönen Gegend um; aber auch diese wurde nur dann aufgesucht, wenn der Weg nicht zu weit und zu beschwerlich war. Während mir auf meinen Fußreisen es immer eine Hauptsache war, mich recht müde und kaput zu laufen, womöglich den ganzen Tag recht einfach und wenig zu essen und noch weniger zu trinken, so wurde hier immer fein eben und glatt Schritt für Schritt auf der Chaussee fortgehaspelt - in jedem Wirtshaus, wo am Wege "der liebe Gott seinen Arm herausgestreckt hatte", mußte eingekehrt und gekneipt werden. Dabei wurde immer doppelt so lange ausgeruht wie gegangen. Daß man bei einer solchen Manier zu reisen nicht weit kommt, könnt Ihr leicht denken, und daß sie nicht die billigste ist, ist ebenso klar. Wäre ich allein gereist, so hätte ich die ganze Strecke, die wir in diesen vier Tagen zustande brachten, in einem, höchstens zwei Tagen ganz bequem, und zwar mit dem vierten Teil des Geldes gemacht. Dazu hätte ich noch nach Herzenslust in Heu und Bestien geschwelgt, nach der Natur gezeichnet usw., was ich hier alles nur ganz verstohlen unter der Hand tun durfte. Natürlich kam mir diese Art zu reisen, die meine Bekannten als die einzig wahre und gemütliche bezeichneten, höchst ungemütlich und unsinnig vor. Auch werde ich mich nie wieder einem solchen Zwang unterwerfen. Diesmal habe ich mich aber trotz alledem möglichst gut dabei amüsiert, indem ich, schon im voraus ahnend, daß die Dinge ähnlich kommen würden, gleich von vornherein meine ganze Individualität mit ihren speziellen Neigungen und Ansichten aufgegeben und fest bei mir beschlossen hatte, mich einmal ganz der Majorität (gegen die ich als einziger Vertreter der Minorität doch nicht aufgekommen wäre) zu fügen und was die andern tun würden, mitzutun. So ist denn auch diese Bummeltour, wenngleich nicht in der gewöhnlichsten Art, von großem Nutzen für mich gewesen, und ich habe dabei manche scharfe Kante meines eckigen Charakters etwas abschleifen und mich in den Sinn und die Wünsche ganz anders denkender Leute fügen lernen, was ich wohl noch öfter müssen werde. Auch abgesehen davon, daß ich so etwas mich andern Köpfen anpassen und meinen Eigenwillen aufgeben lernte, habe ich viel dabei profitiert, indem ich einmal eine ganz andere, mir freilich durchaus nicht zusagende Art, sich seines Lebens zu freuen, mit ansah, überhaupt einmal eine total verschiedene Art, das ganze Leben anzusehen, kennenlernte. Jedenfalls habe ich daduch meinen alten Wunsch, einmal eine ordentliche "Studentenspritze" zu machen, vollständig befriedigt . . . Übrigens muß ich meinen Bekannten doch auch nicht Unrecht tun und ihre Verdienste gehörig ins Licht setzen. Denn was sie (mir wenigstens) durch das ewige Kneipen verdarben, das ersetzten sie zum Teil reichlich durch eine Fülle sprudelnden Witzes und einen unerschöpflichen Reichtum an lustigen Streichen und fidelen Einfällen, daß wir gewöhnlich den ganzen Tag über nicht aus dem Lachen und Necken herauskamen und einer den andern immer zu überbieten suchte, wodurch der Witz wirklich nicht wenig geschärft wurde. Mir fielen dabei immer Mephistos Worte ein: "Ich muß dich nun vor allen Dingen in lustige Gesellschaft bringen, damit du siehst, wie leicht sich's lebt und leben läßt. - " . . . [ Große Lücke ]

Im ganzen habe ich auf dieser Pfingstreise, wie unvollkommen in meinem Sinne sie auch war und wieviel mehr Nutzen und Genuß ich, wenn ich allein gereist wäre, auch davon hätte haben können, doch ziemlich viel gesehen und mich auch nach Möglichkeit recht gut amüsiert, bin einmal "fidel" im studentischen Sinne gewesen. Dafür schmeckten auch die Kollegia nachher um so besser, und ich bin jetzt schon wieder ganz im alten Zug . . .

Ehe Ihr nach Ziegenrück geht, möchte ich Euch bitten, mir noch mehreres zu besorgen, was Du, lieber Vater, ja wohl mit herbringen kannst. Bei Dietrich Reimer bitte ich, den ersten, dritten und vierten Band von A. Schaubach, "Die deutschen Alpen", Jena 1846, zu bestellen, wenn diese einzeln zu haben sind, sonst auch das ganze Werk, das aus fünf Bänden besteht, wovon jeder (herabgesetzt) 1 Gulden kostet. Es ist ein ganz ausgezeichnetes Werk und zu einer wissenschaftlichen Alpenreise durchaus notwendig, wie Euch Richthofen nötigenfalls bezeugen kann. Ich möchte Dich aber bitten, es gleich zu bestellen, damit Du es noch mitbringen kannst . . .

58. Würzburg, 17. 6. 1855.

Liebe Eltern!

. . . Ich freue mich ungeheuer auf Euren Besuch, lieber Vater, und Bruder; dann werde ich einmal mein volles Herz so recht ausschütten können. Denn so voll wie jetzt, ist es noch selten gewesen, und grade jetzt habe ich hier doch keinen Menschen, dem ich es anvertrauen könnte und möchte. Die Hauptsache ist, daß in den letzten Wochen eine sehr bedeutende und, wie ich hoffe, recht günstige Umstimmung und Veränderung in meinen speziellen Lebensansichten eingetreten ist. Vor allem betrifft diese Metamorphose meine früher höchst einseitige und vorurteilsvolle Anschauung über das Studium der Medizin, mit welchem ich jetzt - dank sei es Virchows unvergleichlichen Kollegien und der guten Klinik Bambergers - so ziemlich ganz ausgesöhnt bin, wenigstens so weit, daß ich nun bestimmt und selbst mit einem gewissen Interesse dasselbe von Anfang bis Ende durchführen werde. Hoffentlich seid Ihr darüber nicht weniger als ich erfreut. Mein ganzes Innere hat dadurch wirklich eine wesentlich beruhigendere Umstimmung erfahren. Was ist das doch für eine große Beruhigung, wenn man sich ein bestimmtes, festes Ziel gesteckt hat, auf das man nach Kräften und mit Ruhe hinarbeiten kann. An der Aufwendung aller meiner Kräfte soll's dabei gewiß auch nicht fehlen, zumal mir dabei im Hintergrunde als herrlichster Lohn aller Mühen immer die Palme einer naturwissenschaftlichen Reise in tropische Meere vorschwebt, die ich als die Krone aller irdischen Wünsche ja doch nur auf diese Weise zu verwirklichen hoffen darf. Mit der nötigen Ruhe ist es aber freilich eine ganz andere Sache und je mehr ich mich diese mir anzueignen bemühe, desto unruhiger und stürmischer wird der wilde, ungestüme Kampf der widerstreitenden und wetteifernden Gedanken und Bestrebungen in meiner Brust. Namentlich ist es die alte, liebe Not mit dem Zeitmangel, die mich jetzt entsetzlicher denn je quält. Wie gerne möchte ich alle die zahlreichen Wissenschaften und Künste, durch deren Komplex die Naturwissenschaft (zu denen ich als nur angewandten Zweig auch die Medizin rechne) aufgebaut wird, mir ernstlich und gründlich aneignen und doch reicht die so äußerst karg und spärlich zugemessene Zeit kaum hin, um mir das Allergeringste, Oberflächlichste von allen und nicht einmal in einem einzigen etwas Vollständiges zu erfassen. Wenn mich die Wahrheit dieses schrecklichen Gedankens ergreift, wie das jetzt natürlich täglich der Fall ist, dann möchte ich allemal verzweifelnd, und das ungenügende Maß meiner Kräfte verwünschend, die Hände in den Schoß legen. Was soll ich jetzt auch anfangen, wo ich Tag für Tag von früh 7 Uhr bis abends 7 Uhr (mit nur einer, höchstens zwei Stunden Unterbrechung) durch Kollegien (freilich meist nur praktische Kurse, die nicht halb soviel Kraft und Tätigkeit des Geistes als die theoretischen Vorlesungen erfordern) gefesselt bin? . . .

Meine Kollegiennot, die ich Euch neulich schon schilderte, ist noch dadurch komplettiert worde, daß nachträglich noch, was mir freilich sehr erwünscht und eigentlich die reinste Erholung nach den medizinischen Strapazen des Tages ist, ein zootomischer Präparierkursus zweimal wöchentlich abends von 5-7 Uhr zustande gekommen ist, wo ich mit noch sieben andern, meist sehr netten Leuten bei meinen speziellen Gönnern und Freunden, den beiden Privatdozenten der Zoologie und vergleichenden Anatomie, Dr. Leydig und Gegenbaur, niedere Wirbeltiere sezieren lerne. (Für mich freilich fast nur Repetitorium, wobei ich aber doch manche hübsche kleine Handgriffe lerne.) . . .

Auch die beiden einzigen Wochentage, die ich noch abends von 5-7 Uhr frei hatte, sind jetzt dadurch ausgefüllt worden, daß Kölliker mir auf höchst zuvorkommende (und für ihn fast unbegreiflich liberale) Weise das vergleichende anatomische Museum eröffnet hat. Ich darf mir jederzeit von ihm den Schlüssel dazu holen und dann nach Lust und Belieben mir alle Präparate ansehen. Selbst die Schränke mit den sehr interessanten und lehrreichen Spirituspräparaten stehen mir offen und ich darf mir diese wenigstens von außen ansehen (was ich nicht einmal in Berlin bei Müller konnte, der mir bloß die Skelette usw. zur Disposition stellte). Daß ich nun eine so herrliche, günstige Gelegenheit, soviel Seltenes und Merkwürdiges zu sehen (was in der Naturwissenschaft wirklich die Hauptsache ist, da hier die eigne Anschauung über alles geht), nicht unbenutzt vorübergehen lasse, könnt Ihr denken. Aber sonderbar! Während früher, und namentlich noch im vorigen Semester, mir dieses Ansehen der höchst interessanten zoologischen Präparate, der höchste Genuß gewesen wäre, so ist dieser jetzt mit so viel bitterm Beigeschmack versetzt, daß ich gar nicht so mit vollem Herzen mich über die Naturwunder freuen kann. Es fehlt ja durchaus die Ruhe, ohne welche ein solcher Genuß nicht möglich ist. Wo soll ich die Zeit hernehmen, um die Sammlung zum gründlichen Studium zu benutzen, oder auch nur alle Sachen einmal gründlich mit Verstand anzuschauen. Und selbst die wenigen Stunden, die ich darauf verwenden kann, kommen mir wie schlecht angewandt und dem notwendigen medizinischen Studium entwendet vor. So geht mir's auch mit dem Mikroskopieren, zu dem ich ebenfalls gar nicht mehr die nötige Ruhe finden kann. Es ist wirklich, als wäre ein böser Geist über mich gekommen, der mich sonder Rast und Ruhe stachelte, jetzt einzig und allein der pflichtmäßigen Medizin nachzugehen. Da ist es denn allerdings ganz gut, daß ich von früh bis Abend ins Kolleg getrieben werde, so daß mir schließlich gar keine freie Zeit mehr übrigbleibt. Aber auf die Dauer ist das doch eine höchst ungemütliche und wirklich unerträgliche Existenz. Zur Ruhe, glaube ich, werde ich freilich nie kommen,denn grade das rastlose Immervorwärtsstreben ist mein Leben . . .

Die eben erörterten Verhältnisse, namentlich der schreckliche Zeitmangel, sind es aber nur zum kleineren Teile, welche mir mein jetziges Leben, obgleich es in vieler Beziehung, namentlich in Hinsicht der Befestigung meiner nächsten Lebensaufgabe, sich so sehr günstig umgestaltet hat, so sehr ungemütlich erscheinen lassen. Das ist vor allem der höchst empfindliche Mangel eines Freundes, dem ich mein ganzes Herz ausschütten könnte, und der mich ganz versteht. Ich fange nun allmählich an, die Hoffnung, einen solchen zu finden, aufzugeben. Drei Jahre habe ich nun in meiner Studentenzeit vergeblich danach gesucht. Bekanntschaften habe ich genug gehabt, zum Teil auch sehr nette und liebenswürdige. Ja, was man so gewöhnlich "einen guten Freund" nennt, habe ich in Menge gefunden. Da habe ich nicht wenige Freunde, die ganz meine speziellen Lieblingsbeschäftigungen auch zu den ihrigen machen, andere, obgleich nur wenige, die auch meine allgemein menschlichen, meine moralischen und religiösen Ansichten so ziemlich teilen, noch andere, mit denen ich recht gern die Mußestunden des alltäglichen Lebens zubringen - aber einen rechten Freund, der das alles in sich vereinigte, in allen verschiedenen Richtungen, wie verschieden er auch sonst in Temperament und Individualität ware, wenigstens dieselben Grundansichten und Grundsätze hätte, der geht mir vollständig ab, und ein solcher ist es doch nur, mit dem man "Herz in Herz und Seel' in Seele drängen" kann. Ich muß doch wirklich ein ganz sonderbares und abnormes Kraut sein, daß ich so gar keinen ganz gleichgesinnten Altersgenossen finden kann. Freilich mag ich, ganz abgesehen von allen individuellen, zum Teil gewiß sehr unangenehmen und abstoßenden Absonderlichkeiten, die ich mich aber jetzt immer mehr abzuleben bestrebe, noch viele recht ideale und falsche Ansichten von der Welt, vom Leben und seinen Aufgaben haben. Aber im ganzen glaube ich diese Aufgabe in der Art, wie Ihr, liebe Eltern, und auch Du, mein lieber Bruder, mich wohl kennt, doch richtig und wahr aufgefaßt zu haben, und die einzelnen Unrichtigkeiten und Sonderbarkeiten, die mich noch vielfach beherrschen, hoffe ich ja, je mehr ich ins Lebens hinaustrete, immer mehr abzuschleifen und abzuwerfen, wozu mir ein wenig Praktik, auch in der Medizin, gewiß sehr behülflich sein wird. Und doch kann ich unter meinen Freunden nur wenige finden, die ihre Lebensaufgabe in eben der Art auffaßten. Am meisten glaube ich hierin noch mit dem edlen, vortrefflichen Richthofen zu harmonieren, dessen Bekanntschaft ich leider diesen Winter in Berlin viel zu sehr vernachlässigt habe. Demnächst würden sich wohl Weiß und Lachmann anschließen. Hier glaubte ich in Beckmann einen solchen Freund gefunden zu haben, und in mehrfacher Beziehung ist dies auch der Fall. Um so mehr bin ich jetzt betrübt, bei längerer Dauer unserer Bekanntschaft einige Grunddifferenzen unserer Lebensansichten aufzufinden, die ein völliges Ineinanderaufgehen derselben ausschließen. Ich würde Euch von diesen ganzen Verhältnissen nicht so ausführlich schreiben, wenn es mich nicht, namentlich in den letzten Wochen, so außerordentlich beschäftigt und selbst in meinem innersten Wesen erschüttert, oft wirklich stundenlang von allen andern Gedanken abgezogen hätte . . .

Ich hatte nämlich neulich mit Beckmann, mit dem ich im übrigen ganz vortrefflich harmoniere, mehrere Stunden lang ein sehr ernstes Gespräch, in dem wir unsre allgemeinen Grundansichten über Naturforschung, über die Natur selbst, endlich auch über das Leben der Seele, über Unsterblichkeit usw. austauschten. Dabei ergab es sich denn allmäglich, daß Beckmann in betreff des letztern Punktes, was also Gott, Unsterblichkeit, Seelenleben usw. anbetrifft, ganz andere Anschauungen hat als ich. Meine Ansichten hierüber kennst Du, lieber Vater, da Du sie selbst fast vollständig teilst. Beckmann steht dagegen auf dem Standpunkt, den allerdings die bei weitem überwiegende Mehrzahl der jungen Naturforscher einnimmt, auf dem rein materialistischen und rationalistischen, den z. B. Burmeister in der reinsten und edelsten Weise vertritt und den Du, lieber Vater, noch neulich in Karl Vogts Broschüre "Köhlerglauben und Wissenschaft" vollständig klar und deutlich in seinen Grundzügen ausgesprochen gefunden hast. Wie Du Dich erinnerst, bestehen die Grundzüge dieser reinen Verstandesanschauung der Dinge darin, daß die Seelentätgikeit lediglich als Funktion der Nervensubstanz im Gehirn und Rückenmark angesehen wird, daß mithin eine selbstständige, unsichtbare Seele ebensowenig existiert als eine Unsterblichkeit, als ein Gott. An die Stelle des letztern tritt eine blinde, bewußtlose Naturnotwendigkeit, der wir alle ebenso wie alle Materie, die an sich gleichwertig ist, unterworfen sind. Glaube existiert nach dieser Anschauung natürlich ebensowenig als Religion. Diese sind bloß da, um den großen, ungebildeten Haufen der Menschheit zu zügeln und zusammenzuhalten. Die Naturforscher allein sind berufen, die Wahrheit für sich zu entschleiern, die Materie als das allein in der Welt nach bestimmten, blinden, unabänderlichen Naturgesetzen Waltende zu erkennen. - Die weitern Konsequenzen ergeben sich aus diesen Grundsätzen von selbst. Ich werde übrigens darüber mündlich mich mit Dir noch weiter expektorieren. Im ganzen war ich auch grade nicht sehr überrascht, bei Beckmann diese rein materielle und rationalistische Ansicht ausgeprägt zu finden, da, wie gesagt, die bei weitem überwiegende Mehrzahl der jungen Naturforscher und Ärzte derselben vollständig huldigt (wie ich nach eigner, dreijähriger Erfahrung weiß) und da sie von einem Teil der Koryphäen der neuen Naturwissenschaft, vor allem aber von Karl Vogt, Burmeister und Virchow vertreten wird, während die meisten andern derselben, wie namentlich A. v. Humboldt und Johannes Müller, ein geheimnisvolles, vollständiges Stillschweigen über diesen Kardinalpunkt beobachten. Auch kann ich mir, soweit ich jetzt die Naturwissenschaft in ihrem innern Wesen erfaßt habe, vollständig auf meine Art erklären, wie jene Leute auf Grund der durchaus exakten, rein empirischen, neuen Naturforschung, bei der die auf die Empirie, d. h. auf Experiment und Beobachtung gestützte induktive Methode, die Induktion und Analogie, alles gilt, bei der es Prinzip und erste Aufgabe aller Forschung ist, die Tatsachen der wunderbaren irdischen Natur auf bestimmte, unabänderliche, chemische und physikalische Gesetze zurückzuführen, wie jene Leute auf Grund jener rein verständigen Anschauung der Dinge zu diesem Resultat gelangten. Der Grundfehler dieser ganzen Richtung, die übrigens gegenwärtig für den Aufbau der jungen Naturwissenschaft als einer auf exakter Empirie gegründeten, höchst wichtig und fruchtbar ist, wenngleich sie später nach meiner Ansicht nach der, daß sie noch da zu erklären und chemisch- physikalische Gesetze anzuwenden sucht, wo diese nichts mehr gelten, und wo auch nicht mehr zu erklären ist, nämlich auf dem Gebiet des Geistes, wo an die Stelle des Verstandes und des Wissens der Glaube, die subjektive Überzeugung von Dingen, die die Sinne uns nicht mehr zur Überzeugung bringen, tritt. Sie leugnet aber dies ganze Gebiet ab, weil sie es nicht sinnlich wahrnimmt. Ich meinerseits bin vollkommen überzeugt, daß beide Gebiete, nämlich das Wissen vom Sinnlichen und das Glauben an das Übersinnliche, sich nicht gegenseitig ausschließen, wie jene meinen, sondern, daß sie sich im Gegenteil zu einer vollständigen Weltanschauung ergänzen, daß das Eine da aufhört, wo das Andere anfängt. Ich begreife auch, wie gesagt, recht wohl, wie jene rein rationell materiellen Naturforscher zu dieser ungebührlichen Ausdehnung der Verstandesforschung auf Gebiete, wo sie nicht mehr hingehört, kommen; ich begreife meinerseits aber nicht, wie man mit dieser Überzeugung leben kann. Ich begreife am allerwenigsten, wie man dabei ein edler, guter Mensch sein kann, wie jene es in der Tat doch sind. Beckmann ist, abgesehen von diesen rein materiellen Lebensansichten (im edelsten Sinne des Wortes!), der beste und edelste Mensch, den Du Dir denken kannst. Ich möchte sagen, sein ganzes Leben straft diese pantheistische Anschauung Lügen, indem es mir durchgängig nach den Gesetzen desselben Christentums geregelt scheint, das er konfessionell ableugnet. Beckmann ist in seinem ganzen Tun und Denken so rein, moralisch, gut, edel, wie es der beste Christ nur sein könnte. Er wird hier von Professoren und Studenten allgemein als das Muster eines tüchtigen, fleißigen, kenntnisreichen, liebenswürdigen, rein sittlichen Menschen geliebt. (Dasselbe kann man übrigens, allerdings auch wohl mit gewissen Einschränkungen, von seinem Lehrer, Virchow, der unstreitig den bedeutendsten Einfluß auf ihn ausgeübt hat, sagen.) Beckmann ist bei all seinem Rationalismus ein hundertmal, nein tausendmal besserer Mensch als ich mit meiner christlichen Überzeugung, so daß ich ihm in jeder andern Beziehung nur als bestem Vorbild nacheifern muß. Wie hoch muß man nicht einen solchen Charakter achten! Dies ist mir grade das Unbegreifliche an der Sache. Ich für meine Person gestehe auch offen, daß ich, wenn ich diese materielle Ansicht von meinem Leben hätte, ein solches Leben nicht zu führen und auszuhalten imstande wäre. Wenn ich nicht die festeste Überzeugung von einer von diesem Körper ihrem Wesen nach getrennten, nicht untrennbar mit ihr verbundenen, selbstständigen Seele, von einem die ganze Welt erhaltenden und unsre Geschicke leitenden Gott, von einem bessern jenseitigen, geistigen Leben hätte, ich hätte schon längst das Schicksal des unglücklichen jungen Ribbeck, von dessen freiwilligen Tod Du mir in Deinem letzten Brief schreibst, geteilt und hätte, ebenso freiwillig, diesem irdischen Leben, das doch trotz aller irdischen und geistigen Genüsse und Freuden so höchst unvollkommen und mangelhaft ist, und eben durch diese Mangelhaftigkeit und Dürftigkeit in jeder Beziehung allen reinen und wahren Genuß verbittert, und im ganzen so höchst unbefriedigt und leer läßt, ein Ende gemacht. Ich würde dann vielleicht gar einmal dem Beispiele jener Elenden gefolgt sein, zu denen der größte Teil der Materialisten gehört und wie ich sie auch unter meinen Altersgenossen, namentlich den Medizinern, zu Dutzenden nennen kann, welche auch von Religion, Glauben, Seele nichts wissen wollen, denen aber das reine und moralische, sozusagen humane Streben jener edleren, feineren Rationalisten, zu denen Beckmann gehört, abgeht, und deren einziges Prinzip darin besteht, nicht in diesem Leben möglichst viel zu leisten (wohin doch die letzteren streben), sondern lediglich dasselbe möglichst zu genießen. Alles ihr Denken und Tun ist nur darauf gerichtet, sich möglichst viel Genuß, mag dieser nun feiner oder gröber, sinnlicher oder geistiger sein, zu verschaffen. Dies Prinzip leitet ihr ganzes Handeln und vermag sie allein zu Anstrengungen zu bewegen. Wie innerlich leer und elend muß die große Menge dieser Leute sich doch fühlen! Nein, dann lieber doch gleich diesen jämmerlichen Lebensfaden, der immer nur zu Unvollkommenheiten führt, abschneiden und in ewiges Nichts sinken. Daß ich dies Leben ertrage, daß ich in beständigem Hinblick auf ein vollkommenes Jenseits, das Diesseits möglichst zur Ausbildung und Vervollkommnung meiner unsterblichen Seele zu benutzen strebe, das verdanke ich allein dem Christentum, seiner göttlichen, tiefen Wahrheit, welche mir durch Euch, liebe Eltern, sowie durch meine trefflichen Merseburger Lehrer, namentlich Simon, erschlossen und verständlich gemacht worden ist, wofür ich Gott nicht genug danken kann . . .

Ich würde Euch diese ganzen Ansichten und Gedanken nicht so ausführlich mitgeteilt haben, wenn sie mich nicht gerade in den letzten Wochen, namentlich seit jenem ernsten Gespräch mit Beckmann, so vielfach beschäftigt und wirklich tief erschüttert hätten. Ich bin weit davon entfernt, Beckmann seine entgegengesetzten Ansichten, zu denen eine rein rationelle Betrachtung der Dinge von selbst führen muß, zu verargen. Ja, wenn ich das verabscheuungswürdige und gewiß höchst verwerfliche heuchlerische Frömmelwesen unserer pietistischen, orthodoxen Ultramontanen mit ihrem höchst unchristlichen und exklusiven geistlichen Hochmut betrachte, wenn ich an das nicht viel schlechtere, geistlose und hierarchische Frömmelwesen, die unwahre Scheinreligioin der katholischen Kirche denke, wie es uns hier täglich in der krassesten, widerlichsten, unwürdigsten Form entgegentritt (wie noch neulich in extremster Weise bei der Fronleichnamsprozession, die wirklich nichts als ein großartiger Götzendienst war) - dann kann ich es nur zu wohl begreifen, wie grade die edelsten, von Selbstsucht freiesten, gebildetsten Geister sich mit Abscheu von jenem Zerrbild christlicher Religion abwenden und lieber ins entgegengesetzte Extrem verfallen . . .

Euer treuer Ernst.

59. Würzburg, 27. 6. 1855.

Meine liebste Mutter!

Auch diesmal kann ich Dir, wie vor zwei Jahren, als ich den ersten Sommer hier zubrachte, nur aus der Ferne den innigsten Gruß und herzlichsten Glückwunsch zu Deinem Geburtstag senden. Wie gerne wäre ich am 1. Juli persönlich in Ziegenrück und sagte Dir durch einen einzigen innigen Kuß und Händedrück alles das, was ich für Dich im Herzen habe und was sich auch durch noch soviel Worte in einem Briefe doch nicht ausdrücken läßt. Aber Du weißt ja, mein herzliebes Mütterchen, wie fest unsere Seelen verwachsen sind und unsere Herzen sich durchdringen, und das Bewußtsein dieses innern, treuen Verständnisses tröstet und entschädigt mich für den großen Mangel, den ich durch die Entfernung von Dir leide. Wir sind ja im Geiste stets beieinander, und diese innige, geistige Gemeinschaft mit Euch lieben Eltern ist mir meine herzlichste Freude und mein größter Trost und läßt mich an der mir zuerteilten Lebensaufgabe mit doppelter Freudigkeit und Zuversicht arbeiten . . .

Daß ich jetzt endlich ein festes, bestimmtes Ziel gefunden, auf das ich hinarbeiten, auf dessen Erreichung ich alle meine Kräfte lenken und konzentrieren kann, das ist mir ein großer Trost, und das gibt mir viel mehr Mut, Hoffnung und Selbstvertrauen, so daß ich mit freudiger, zuversichtlicher Lust zu schaffen und meine Anlagen aufs beste zu verwenden, in das offen vor mir daliegende Leben hinausschauen kann. Freilich wollen auch jetzt noch oft recht schwache und kleinmütige Stunden kommen, in denen mir das "Wie", die Art und Weise der Ausführung meines Lebensplanes gar sehr schattenhaft und unsicher erscheinen. Aber wenn ich nur nach Kräften das Meine zu tun mich bemühe, dann, glaube ich, wird auch Gottes Segen nicht fehlen, und ich werde am Ende doch einen meinen Kräften angemessenen Wirkungskreis finden . . .

Daß ich es aber auf meiner Seite nicht daran fehlen lassen werde, den mir angewiesenen Platz in diesem Leben auszufüllen, das kann ich Dir ebenso fest zusagen, und duch die Ausführung dieses Vorsatzes hoffe ich Dir viel Freude zu machen . . .

28. 6. 1855.

Gestern abend konnte ich den Brief nicht beendigen, da wir sechs Bekannten die erste Sitzung unseres "menschlich wissenschaftlichen" Vereins hatten, die jetzt wöchentlich zweimal stattfinden soll. An dem einen Abend werden Referate aus den verschiedenen Fächern der Medizin und Naturwissenschaft gehalten, an welche sich Besprechungen der neu erschienenen Aufsätze usw. anreihen (ich habe die mikroskopische und vergleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte als Fach bekommen); am zweiten Abend hält einer von dem halben Dutzend einen freien Vortrag über ein ganz allgemein menschliches Thema, an welches sich dann ausführliche Diskussionen und Disputationen über diese allgemeinen Ansichten und Grundsätze anreihen. Ich finde die ganze Idee dieser Zusammenkünfte sehr hübsch und glaube, daß solche Besprechungen sehr bildend sind. Eine andere Frage ist es, ob wir die letzteren, allgemein menschlichen Diskurse durchführen werden, da die verschiedenen Ansichten in den sechs Köpfen gar zu riesenhaft, noch mehr, als ich vorher gefürchtet, zu differieren scheinen. Diese Differenzen zeigten sich gleich gestern abend in der extremsten Weise. Hein fing die Zusammenkünfte mit einem Vortrag über die Pflichten und Verhältnisse des Arztes (zu seinen Patienten und Kollegen) an. Natürlich knüpfte sich daran eine lebhafte Diskussion über eine ganze Reihe allgemeiner Grundsätze und Lebensansichten, die dabei zur Sprache kamen, und da fand es sich, daß selbst die gewöhnlichsten Grundbegriffe, wie "Pflicht, Moral, Gewissen" usw., von einem jedem von uns in ganz eigner und verschiedener Weise aufgefaßt wurden, wobei es dann natürlich zu einem sehr heftigen Streite kam, der bis nach Mitternacht dauerte und damit endigte, daß jeder in seiner eigenen Ansicht nur noch bestärkt war. Trotzdem glaube ich, daß eine solche Diskussion sehr bildend ist. Man lernt seine eignen Ansichten klar darlegen und verteidigen, diejenigen der andern widerlegen und erweitert durch Kennenlernen der letztern die Kenntnis der Menschen gewiß sehr. Ich werde Euch ein andermal ausführlicher darüber schreiben, da es Euch vielleicht auch interessiert, und bemerke diesmal nur noch, daß ich und Buchheister die beiden extremst entgegengesetzten Standpunkte (wie überhaupt meist im ganzen Verkehr) einnahmen und uns daher auch immer ziemlich heftig und nicht mit der nötigen Ruhe bekämpften. An jenen schließt sich Strube, an mich zunächst Braune an; Hein und Beckmann stehen in der Mitte als vermittelnde Elemente. Ich bin wirklich sehr neugierig, wie die Geschichte weiter werden wird. Gestern abend kamen mir meine rationalistischen Freunde aber wirklich wie junge Katzen vor, die sich in den Schwanz beißen wollen und dabei immer im Kreise herumdrehen. Sie eifern und sprechen fortwährend gegen das Christentum und gegen die Religion und Glauben überhaupt und stehen doch in ihrer ganzen besseren und edleren Hälfte so ganz unter dessen Einfluß, daß sie unbewußt und gleichsam blind in allen Reden und Handlungen davon geleitet werden. - Doch davon später mehr . . .

Euer alter und treuer Ernst H.

60. Würzburg, 1. 8. 1855.

Liebste Mutter!

. . . Die acht Tage, die mir jetzt noch bleiben, werde ich tüchtig benutzen, um mich noch etwas mit der physikalischen Geographie der Alpen vertraut zu machen. Daß ich mich riesig auf die Alpenreise freue, und daß diese schon seit ein paar Wochen alle andern Studien in den Hintergrund gedrängt, brauche ich Dir wohl nicht erst zu sagen. Nun bitte ich Dich nur noch, Dir doch ja keine Sorgen und Ängste meineswegen zu machen. Da ich durch Eure unvergleichliche Freigebigkeit jetzt viel mehr Geld zu der schönen Reise erhalten habe, als ich brauchen werde, so kann ich sie so recht con amore und mit aller Ruhe und Bequemlichkeit, die ich brauche, ausführen. Da ich mein Gepäck immer mitschleppe, so werde ich überall, wo ich nicht auf Chauseen oder unfehlbaren Landstraßen marschiere, mir einen Führer nehmen, und Du darfst also vollkommen ruhig und sorglos sein. Die Briefe, die ich Euch aus den Alpen schreiben werde, werden wegen des voraussichtlichen Zeitmangels wohl sehr kurz sein und nur die wichtigsten Notizen Euch bringen. Desto ausführlicher werde ich Euch in dem nachher auszuarbeitenden Tagebuch die schöne Reise schildern.

Nun lebe recht wohl, meine herzliebe Mutter, sei recht vergnügt, namentlich auch, wenn du an Deinen im Naturparadies schwelgenden Jungen denkst und habe nochmals tausend Dank für alle Deine treue Liebe.

Dein alter treuer Ernst.

61. Hallstatt, Samstag, 18. 8. 1855.

Liebste Eltern!

Seit vorgestern bin ich also in den Alpen! Seitdem ist mein ganzes Leben eigentlich nur ein großes Ausrufungszeichen. Denn was soll man sagen zu dieser überaus herrlichen Natur, die noch weit, weit schöner und erhabener ist, als ich sie mir gedacht, obwohl ich mir im ganzen ein ziemlich richtiges Bild davon gemacht! Ich müßte Euch eigentlich eine ganze Serie von Interjektionen und Bewunderungsausdrücken, als: prachtvoll, herrlich, göttlich usw. usw. herschreiben, um Euch meine Freude auszudrücken. Und das alles trotz des elendesten Regenwetters, das alle Reisende außer mir zur Verzweiflung bringt. Aber trotzdem sehe ich des Herrlichen genug und sammle Schätze von den prächtigsten Alpenpflänzchen. Sonst geht es mir ganz gut, auch mit dem Marschieren. Heute will ich nur ohne weitläufige Beschreibung der Reise den Brief abschicken, damit Ihr was von mir hört. In einer halben Stunde soll's wieder auf den Marsch gehen.

Mittwoch, 15. 8., früh aus Linz per Eisenbahn bis Gmunden. Unterwegs dabei bei Lambach ausgestiegen und den prächtigen Traunfall gesehen. Dann per Dampfschiff von dem prachtvollen Gmunden nach Traunsee, das herrlichste grüne Wasser. Nachmittag von Ebersee nach Ischl gegangen, mit sechs Prager Studenten, ganz netten Kerlen. In Ischl übernachtet.

Donnerstag, 16. 8. Immerfort im Regen von Ischl hierher gegangen. Von Steg, wo der See anfängt, bis fast zum Rudolfsturm immer auf der Solenleitung hoch an der Seite des Bergs an dem prächtigen steilen Ufer hin. Viele Wasserfälle. Zuletzt der große Mühlbach.

Freitag, 17. 8. Gestern früh die hiesigen Salzsiedereien, dann den Kesseler und Hirsch-Brunnen besehen. Nachmittag mit den sechs Pragern zu den durch die ununterbrochenen Regengüsse ganz prächtigen Wasserfällen des Waldbackstrub. Von hier gingen erstere zurück. Ich machte noch allein eine recht herrliche, wilde Waldpartie nach dem Ursprung des Waldbachs und zu dem Klausenfall. Ganz selig in der herrlichen Natur! Heute morgen will ich nach Gosau. Von da in zwei Tagen nach Salzburg . . . Nächste Tage sende ich Euch auch ein Paket Pflanzen. Später sollt Ihr ausführlicher von mir hören. Jetzt habe ich Eile.

In treuer Liebe Euer alter, ganz glücklicher Ernst.

62. Berchtesgaden, Freitag, 24. 8. 1855.

Liebste Eltern!

Seit ich aus Hallstatt zum ersten Male schrieb, habe ich beständig das herrlichste Wetter gehabt und die schönsten Partien gemacht. Aber es ist hier des Schönen und Prachtvollen in der Natur wirklich zuviel beisammen. Ein großartiger und entzückender Genuß folgt dem andern, so daß man gar nicht zu einen ruhigen und abgeschlossenen Genuß kommt. Ich möchte jetzt einmal acht Tage Pause machen, bloß um alle die großen Herrlichkeiten zu verdauen. Doch jetzt will ich Euch rasch eine Übersicht meiner Route geben.

Samtag, 18. 8., von Hallstatt nach Gosau, zu den dortigen Seen.

Sonntag, 19. 8., zum erstenmal auf einer wirklichen Alpe, der Zwieselalp, mit Führer. Überaus herrliche Rundsicht auf die ganze Alpenkette des nordöstlichen Teils. Ringsum am Horizont herrliche Schneefelder. Eine Masse Alpenpflanzen.

20. 8. Von Abtenau nach Solling gegangen. Dort herrlicher Wasserfall. Nachmittags mit Stellwagen nach Salzburg.

21. 8. In Salzburg! Wirkliches Paradies! Ganz herrliche Stadt. Früh Mönchsberg und alle Merkwürdigkeiten. Nachmittags Kapuzinerberg, Leopoldskron usw.

22. 8. Früh noch einmal auf den Mönchsberg und auf die Feste Hohensalzburg, mit herrlicher Rundsicht. Nachmittags mit Stellwagen nach Berchtesgaden.

Donnerstag, 23. 8. Gestern mit einem Holsteiner Gutsbesitzer nach dem Königssee, überaus herrlich, ganz befahren, dann auf die Holzeralp, drei Stunden hoch gestiegen. Prächtige Aussicht. -

Bis jetzt habe ich meist sehr nette Gesellschaft gehabt, namentlich in Salzburg drei Kärtner Gymnasiasten, prächtige Gebirgsnaturkinder, die ich ordentlich liebgewonnen; ferner in Gosau drei wohlbehäbige, dickbäuchige, breitspurige, echte "Wienerl" Philister, die mich kostbar amüsiert haben! Überhaupt ist das sehr amüsant, mit was für ganz und gar verschiedenen Leuten man so auf Reisen zusammentrifft. Wie verschieden sich das Leben in verschiedenen Köpfen malt!

63. Ramsau, Samstag abend, 25. 8. 1855.

Liebste Eltern!

Da ich soeben günstige Gelegenheit fand, das schon längst zum Abschicken präparierte erste Pflanzenpaket nach Berchtesgaden auf die Post zu schicken, so konnte ich den angefangenen Brief nicht vollenden, nicht einmal einen Schluß daran setzen und Euch einen post. rest.-Ort für den nächsten Brief bestimmen.

Gastein, Montag, 27. 8. 1855.

Am Schluß obiger Zeilen war ich von übergroßer Müdigkeit eingeschlafen. Ich hatte nämlich vorgestern den Watzmann, die höchste bayrische Alpenspitze, 9058 Fuß, erstiegen, und zwar beim herrlichsten Wetter und mit dem größten Glück. Die meisten Pflanzen des Pakets stammen daher. Gestern früh, als ich von Ramsau fortgegangen, traf ich ganz unvermutet meinen lieben alten Würzburger Freund Brunnenstädt, mit welchem ich gestern den ganzen Tag marschiert bin, über Hirschbichl (bayr. Grenzpaß) und Saalfelden nach Zell. Auch das Pinzgau ist ganz herrlich und ganz eigentümlich. Leider mußten wir uns heut schon wieder trennen, da er direkt nach Tirol ging. Ich ging von Zell am See über Taxenbach und Land hierher, auch wieder eine ganz herrliche Partie, bei der ich zuerst aus den Kalkalpen ins Urgebirge kam. Wasserfälle, Seen und Kalkalpenlandschaften habe ich nun hinlänglich in der verschiedenartigsten Weise genossen. Nun kommt die höhere Urgebirgswelt mit der Schneeregion an die Reihe . . .

Das aus Berchtesgaden abgeschickte Paket werdet Ihr indessen wohl bekommen haben und Du, liebes Mütterchen, bist wohl so gut, die Pflanzen fertig zu trocknen, auch wenn sie schon zum Teil verschimmelt sein sollten. Spare kein Löschpapier. Die Moose kannst Du so an der Luft trocknen. Zugleich habe ich mehrere überflüssige Stücke mitgeschickt und ferner für jeden ein kleines Berchtesgadener Andenken, für Dich, liebe Mutter, die Salatlöffel, für Vater Serviettenband, Karl Falzbein, Mimmi Schweizerhäuschen, für mich die Salzstufen, als Erinnerung an das Berchtesgadener Salzbergwerk, in das ich eingefahren bin.

Aus den den 26 Alpenansichten könnt Ihr Euch doch einigermaßen eine Idee von meinen herrlichen Naturgenüssen machen und die Reise in Gedanken mitmachen. Übrigens bekommt sie mir körperlich und geistig ausgezeichnet gut. Ich bin so frisch und munter wie nie. Auch die Füße, sowohl Knie, wie Sohlen, führen sich vortrefflich auf. Doch für heute genug. Ich muß rasch fort. Den nächsten also in acht Tagen in Meran.

Mit den herzlichsten Grüßen, auch an die Freunde,

Euer treuer Ernst.

64. Windisch- Matrei, 2. 9. 1855.

Liebe Eltern!

Meinen letzten Brief aus Hofgastein werdet Ihr hoffentlich ebenso wie die Pflanzensendung aus Berchtesgaden (resp. Ramsau) erhalten haben . . .

Mir ist es inzwischen in jeder Beziehung sehr gut ergangen, in Hinsicht der Reise überhaupt, des Wetters, der Gesellschaft, der Pflanzen, der Beine usw. usw.

Dienstag, 28. 8., ging ich früh von Hofgastein nach Wildbadgastein, wo ich mich umsah, dann mit Dr. med. Fürstenberg aus Wien über die Wasserfälle bis Naßfeld und überschritt dann allein, ohne Führer und Träger, mit vollem Gepäck, namentlich mit Heu reich beladen, die Zentralkette der Alpen über dem Naßfelder Tauern, von wo ich abends äußerst ermüdet, aber sehr glücklich in Malwitz ankam. Am 29. 8. mit Führer von Fragant über das 7000 Fuß hohe Joch des Schobers nach Döllach (alles in Kärnten). Dann am 30. 8. früh nach Heiligenblut (ganz herrlich!). Nächmittag mit einem Wieder Urphilister auf die Fleiß. 31. 8. mit einem Lyzealprofessor der Naturwissenschaften, Hofmann aus Bamberg, von Heiligenblut durch das oberste Mölltal bis zum Pasterzengletscher, über diesen hinweg zur Johannshütte und Gamsgrube, dem berühmtesten botanischen locus classicus. Dort einen halben Tag wirklich in den seltensten Gletscherpflanzen, im Angesicht des Gletschers selbst und des prachtvollen Großglockner geschwelgt. Dann zurück. Gestern, am 1. 9. 1855, früh um 4 Uhr mit einem englischen Juristen von 60 Jahren, Mr. Anderson aus London, einem sehr netten Mann, das Leitnertal auf dem Katzenstieg (rechts vom engen Pfad steile, hohe Feswände, links ein tiefer Abgrund mit schäumendem Gletscherbach, ganz herrlich!) emporgeklettert, dann über das Kalser Törl nach Kals, über das Matreier Törl (d. h. Joch) nach Windisch-Matrei, wo ich allein im Dunkeln schon im 8 Uhr ankam, während der Engländer mit dem Führer erst um 11 Uhr nachkam. Heute äußerst ermüdet, aber ganz glücklich im Genuß der herrlichen botanischen Ausbeute, die seltensten und merkwürdigsten Gletscherpflänzchen, die ich, da es alles große Raritäten sind, in der Nähe des ewigen Schnees auf den Tauern gesammelt, Dich liebste Mutter, recht sorgfältig zu trocknen bitte. Laß sie möglichst in derselben Ordnung liegen. Die kleinsten, feinsten Sachen lege in alte Bücher; die Moose kannst Du so an der Luft trocknen. Sollte einiges verschimmelt sein, so schmeiß es nicht weg. Presse sie nicht zu stark. Wohin ich heute eigentlich gehe, weiß ich selbst noch nicht, da es stark regnet.

Lienz, 3. 9. 1855.

Reiseplan ganz geändert, Nordtirol und Pinzgau aufgegeben, gehe durch das Pustertal und Fassatal nach Südtirol (Bozen) . . .

Euch allen herzliche Grüße, Dir, liebste Mutter, insbesondere gute Besserung.

Dein alter Ernst.

65. Bozen, Mittwoch, 12. 9. 55.

Liebste Eltern!

Am Sonntag, 9. 9., kam ich glücklich in Meran an, wo ich endlich einmal ganz bestimmt Briefe von Euch zu finden gedachte, da ich Euch im vorletzten Brief noch selber gebeten, mir dahin zu schreiben, und außerdem von allen möglichen Orten, wo vielleicht noch Briefe von Euch liegen konnten, sie mir nach Meran nachzuschicken gebeten hatte. Trotzdem fand sich nicht die Spur von einem Berliner Brief vor, so daß ich also seit Salzburg noch immer ganz ohne Nachricht von Euch und namentlich um Dich, liebes Mutterchen, recht in Sorgen bin. Nun bitte ich Euch aber dringend, mir doch jedenfalls nach Mailand einen Brief, wenn auch nur ganz kurz, zu schicken. Ich denke dort in zehn Tagen einzutreffen, nämlich morgen nach Trient, 14. 9. nach Riva, 15. Gardasee, 16. Venedig, dort drei Tage, 20 Padua, 21. Verona, 22. Mailand, 23. nach Como, 24. Comer See, dann nach dem Luganer See und Lage Maggiore und durch das Engadin, längs dem ganzen Inn hinab nach Innsbruck, wo ich etwa den letzten September ankomme. Dann denke ich die schöne Reise mit acht Tagen in München zu beschließen . . . Hoffentlich habt Ihr die kostbare Heiligenbluter Pflanzensendung aus Lienz richtig erhalten. Mein liebenswürdiger Engländer nahm sie mit nach Innsbruck, wo er sie auf die Post geben wollte. Mit dem Reisebericht blieb ich, wenn ich nicht irre, in Lienz stehen, wo wir am Montag, 3. 9., ankamen. Nachmittag machte ich eine Exkursion auf den dolomitischen Rauchkofl. Am Dienstag, 4. 9., wollte ich nach einem neuen Plan über Seichen durch das Höllenbachtal nach Ampezzo, dann in das Fassatal, die berühmteste geologische Gegend, und über den Schlern und die Seiser Alp ins Grödner Tal und so nach Bozen gehen. Da aber der Regen fortdauerte, mußte ich mit dem Stellwagen nach Brixen fahren. Von da am andern Tag nach Sterzing, wo ich beim scheußlichsten Regen einen ganzen Tag zubrachte und aus Verzweiflung zum Apotheker lief, dem es großen Spaß machte, mir die ganze Einrichtung seiner Apotheke bis ins kleinste Detail zu zeigen, so daß ich hier zum erstenmal einen Begriff von einer Apotheke bekommen habe.

Da das scheußliche Wetter auch Donnerstag, 6. 9., früh noch da war, so gab ich die ganze weitere Reise auf und wollte direkt über Innsbruck nach München fahren. Eben wollte ich in den Stellwagen steigen, als die liebe Sonne hervortrat und den Schneeberg so reizend beschien, daß ich beschloß, wenigstens nach Meran noch vorzudringen (um so mehr, als ich sicher hier Nachricht von Euch erhoffte) und auch einen Versuch aufs Ötztal zu wagen. Ich ging also noch selbigen Tags bei leidlichem Wetter über den Jaufen nach St. Bernhard, übernachtete in Hofers Wirtshaus am Sand und ging am Freitag, 7. 9., über das Timbler Joch nach Sölden im Ötztal, wieder bei so scheußlichem Regen und Nebel, daß der Führer sich verirrte und mich drei Stunden umführte, in ein ganz andres Tal. Das war ein anstrengender Marsch von 14 Stunden, immer steil bergauf, bergab, ebenso einer am andern Tag. Für diese riesige Ausdauer sollte ich denn aber auch glänzend belohnt werden. Am Samtag, 8. 9., war wider alles Erwarten das prachtvollste Wetter. Ich schleppte in aller Eile mein Gepäck durch das prächtige ebene Ötztal sechs Stunden weit bis Fend und ging von da noch am selben Nachmittag über den Hoch-Vernagtferner und Hochjochferner nach Kurzras. Diese Tour ist bis jetzt der Glanzpunkt der ganzen Reise. Alle Beschwerden, die damit verbunden waren, und die ihr nachfolgten und vorausgingen, hätte ich für solch einen unbeschreiblichen Genuß gern doppelt ertragen. Nie war ich so in dem Allerheiligsten der Natur. Zwei gute Stunden schritten wir über den riesigen Hochjochgletscher, rings umgeben von den herrlichsten Schneebergen und Eiszacken, nirgends ein grünes Fleckchen, überall nur den schimmerndsten weißen Schnee und dazwischen die schwarzen Felsenfleckchen. Hier lernte ich erst die prachtvolle, interessante, einzige Gletscherwelt in ihrem ganzen Wesen kennen. Auch ein kleiner Schrecken vermehrte nur noch mein Entzücken. Mitten im Stadium des höchsten Entzückens, als ich den Führer auf die prachtvollen Kontouren der Schneeberge aufmerksam machte, saß ich plötzlich mit dem halben Leib im Schnee. Wir hatten beide nicht eine große, mit Schnee überdeckte, im Wege liegende Gletscherspalte bemerkt, in welche ich (was freilich kein Spaß gewesen wäre) ganz hinabgestürzt wäre, wenn ich nicht glücklicherweise meinen unvergleichlichen Alpstock schon auf dem einen, und den andern Fuß noch auf dem andern Rand der Spalte gehabt hätte. So kam ich mit einem leichten Schrecken und blutigen Händen davon. Wirklich gefährlich war aber das Hinabsteigen vom Gletscher nach Kurzras, da uns dabei die Nacht überfiel. Gott sei Dank kamen wir aber glücklich noch spät an. Am andern Tag lief ich äußerst ermüdet nach dem herrlichen Meran, wo ich zuerst die Südnatur sah, die mich auch hier außerordentlich entzückte, namentlich im Gegensatz zum Polarleben der Ötztaler Eiswelt. Noch am selben Nachmittag (Sonntag, 9. 9.) bestieg ich die Burg Tirol mit der herrlichen Aussicht. Den andern Tag brachte ich auf prächtigen Schloß Lebensberg mit stud. jur. f. Mohr aus Heidelberg (Sohn des Konsist.=Präs. M. aus Dessau) ganz selig zu. Das war einer der herrlichsten, vergnügtesten Tage meines Lebens. Gestern, Dienstag, 11. 9., lief ich mit ihm vormittags hierher, nachmittag auf den Kalvarienberg und ins herrliche Sarntal. Heute allein zu den merkwürdigen Erdpyramiden und noch einmal ins Sarntal. Heut abend bin ich sehr müd, so daß aus dem Brief nicht viel Gescheuts wird. Nun bitte ich nur noch, jetzt gar keine Angst mehr um mich zu haben. Die wirklich irgendwie gefährlichen Partien sind nun alle abgemacht. Auch wegen der Cholera ängstigt Euch ja nicht. Selbst in den größeren Städten der Lombardei kommen täglich nur ein bis höchstens drei Fälle vor, also eigentlich nicht der Rede wert, namentlich für einen Mediziner . . .

Im übrigen wünsche ich, Ihr könntet mich mal sehen, wie herrlich mir das Alleinreisen bekömmt, sowohl körperlich als geistig. Nicht nur Muskeln und Sehnen, sondern auch Charakter, Einschlußkraft, Wille, Mut usw. ist in beständigem Wachsen. Ich bin ein ganz andrer Kerl! Auf Italien freue ich mich sehr. Hier habe ich einen Vorgeschmack davon. Was für ein Gegensatz gegen die Alpenwelt!

Hoffentlich geht es Dir, liebste Mutter, viel besser. Ich muß so sehr viel an Dich denken. Wie gerne möchte ich Euch Lieben alle diese Herrlichkeiten mit genießen lassen. Ich bin sehr glücklich!! Heute abend aber schrecklich müde! Gute Nacht!

Euer Ernst.

66. Mailand, 21. 9. 1855.

Liebste Eltern!

Für Deine Nachrichten von den Verwandten und Bekannten danke ich Dir, lieber Vater, herzlich. Sie haben mich sehr interessiert. So in einem ganz fremden Land, wo man mit keinem Menschen ein Wort sprechen kann, ist ein Brief aus der Heimat doppelt viel wert. Hier im Süden lerne ich erst den hohen, inneren Wert unseres norddeutschen Lebens recht schätzen. Wie herrlich und üppig auch die hiesige südliche Natur ist, und wie sehr sie mich, namentlich im Gegensatz gegen das so sehr kontrastierende Alpenleben (das ich übrigens vorziehe), in Staunen und Bewunderung versetzt hat, so ist mir dagegen das ganze Leben, Volk und Sitte nur um so widerwärtiger und verhaßter. Bis jetzt habe ich alle schlechten Vorurteile über den Italiener bestätigt gefunden. Es lebe unser Norddeutschland! -

An alle Verwandte und Freunde herzliche Grüße. Dir, liebste Mutter, wünsche ich aus vollem Herzen recht schnelle und gründliche Besserung. Seid herzlich umarmt und geküßt von Eurem treuen alten Ernst, der sehr munter und gesund ist. -

22. 9. Nun einiges über meine Reise seit Bozen, im herrlichen Etschtal über Kaltern und Tramin nach Neumarkt. Von da mit Stellwagen nach Trient. Am 14. 9. anfangs bei schrecklichem Regen, dann bei recht schönen Wetter durch das Sarkatal (höchst interessant) nach Riva gegangen, der einzige Tag, wo ich den ganzen Tag über kein deutsches Wort sprach. Am 15. 9. beim schönsten Wetter über den Gardasee mit Dampfschiff, ganz herrlich. Nachmittags in Verona, das mir ganz außerordentlich gefallen hat. Am Sonntag,16. 9., früh nach Venedig, wo ich drei Tage mich möglichst umgesehen habe. Jetzt mache ich statt aller weiteren Expektorationen nur drei große Ausrufungszeichen !!! und sage Euch, daß der ganze Eindruck von Venedig durchaus "märchenhaft" ist. Das ganze Ding kommt mir wie ein Traum vor . . . Die Eindrücke, die man da bekommt, sind so einzig in ihrer Art, daß man lange daran zu verdauen hat. Mir ist von all den fabelhaften Herrlichkeiten noch ganz wüst im Kopf. Gestern habe ich mich hier in Mailand umgesehen, auch eine recht großartige Stadt. Der Dom ist überaus herrlich, das schönste, was ich in der Art je gesehen. Auch in einer sehr schönen Gemäldesammlung habe ich hier lange geschwelgt. Das Äußere der Stadt ist glänzender, als Venedig.

67. Mals, am Fuß des Finstermünzpasses, 27. 9. 1855 abends.

Mein liebes Mutterchen!

Da ich weiß, daß Du doch keine Ruhe hast, bis Du Deinen alten Jungen wider sicher auf ehrlichem deutschen Flachboden und ebenso weit von allen Gletschern wie von der Cholera entfernt weißt, so erhälst Du schon wieder ein Lebenszeichen von mir, obwohl dieses wahrscheinlich nicht viel später als der Brief aus Mailand in Berlin eintreffen wird. Die Reue, welche ich am ersten Tage meiner Abreise nach Venedig darüber empfand, daß ich nicht lieber direkt über Triest und Wien nach Berlin gereist war, und Euch überrascht hätte, verlor sich bald bei dem Genuß der einzigen Merkwüdigkeiten, an denen Mailand so reich ist, und hat sich seitdem in einen entschiedenen Freude darüber verwandelt, daß ich meinen ursprünglichen Plan auch für die Rückreise konsequent durchgeführt habe. Denn ich habe in diesen acht Tagen Herrlichkeiten gesehen, die alle übrigen weit hinter sich lassen, was mich um so mehr entzückt hat, als ich nur sehr wenig davon erwartet habe, und namentlich ist der vorgestrige Tag, die Tour von Bormio über das Stilfser (oder Wormser) Joch nach Prad entschieden zum höchsten Glanzpunkt der ganzen Reise geworden. Doch statt mich weiter in Entzückungsaußerungen, die am Ende doch nicht hinreichen, um Euch den hohen Grad dieses einziges Genusses zu schildern, zu ergehen, will ich lieber kurz die Tour seit Mailand angeben. Ich hatte vor, wie Ihr aus dem letzten Brief vom 22. gesehen haben werdet, Mailand schon an diesem (dem zweiten) Tag wieder zu verlassen. Allein die schönen Kunstschätze der Brera und vor allem der herrliche, unvergleichlich erhabene Dom hatten mir so gefallen, daß ich ihnen noch einen Tag zu widmen beschloß. Außerdem bekam ich dadurch noch Gelegenheit, das glänzendste und größte Theater Italiens kennenzulernen, wo ich am Abend des 22. die "Favorita" von Aubert sah. Die Musik war sehr gut. Im übrigen konnte mir die ganze Geschichte, die von 7 1/2 - 12 !! Uhr dauerte, gar nicht gefallen, am allerwenigsten die so sehr berühmten, 1 1/2 Stunde dauernden, ganz zucht- und sittenlosen Ballets, die meist als die Hauptsache angesehen wurden.

Am 23., einem herrlichen Sonntagsmorgen, verließ ich Mailand und fuhr mit Eisenbahn nach Como, von da über den herrlichen Comer See, den schönsten von allen, die ich gesehen, mit Dampfschiff. Sehr gern wäre ich in dem weltberühmten Bellagio mit Villa Serbelloni und Sommarina, einem wahren Paradies, einen Tag geblieben. Allein, da mich die Zeit sehr drängte, die Cholera hier sehr stark und bösartig war, und ich außerdem Italien herzlich satt hatte und mich nach den lieben Bergen sehnte, so fuhr ich mit Post von Colico nach dem herrlich gelegenen Chiavenna und betrat von hier aus bei Castasegna den schweizerischen Kanton Graubünden. Ich kann Euch gar nicht sagen, mit welcher Freude ich das allmähliche Wiedererscheinen der lieben Alpennatur bei jedem Schritt aufwärts begrüßte, und mit welcher Freude ich auch das erste deutsche Wort, ein echt schweizerishes "Grüß di Gott" aus dem Mund der Schweizer Grenzbeamten hörte. Ich übernachtete ganz herrlich in Vicosoprano, wo ich mich auch zum erstenmal seit Bozen wieder satt aß. In Italien habe ich (im buchstäblichen Sinn des Worts) gehungert und doch das 4-5fache von dem gebraucht, was mich die übrige Reise kostete!! Am 24. 9. ging ich durch das schöne Val Bregalia und über den Maloja- Paß bis S. Mauricio. Von hier wollte ich das ganze Engadin bis Finstermünz hinab durchwandern, machte aber von Cellerina einen kleinen seitlichen Abstecher nach Pontresina, um den großartigen Bernina und Roseggletscher zu sehen, und wurde hier zum Glück durch Regenwetter zurückgehalten. Denn hier erfuhr ich, daß man von da in einem Tag mitten durch das wildeste Gebirg nach Bormio kommen kann. Ich wollte einen Führer nehmen, da es eine fast ganz unbekannte Gegend ist (in diesem Sommer hatte erst ein Reisender die Tour gemacht, obwohl mehr Fremde in Pontresina wahren, als je in einem früheren Jahr!). Da der Kerl aber 20 Fr. haben wollte, entschloß ich mich, allein die Fahrt zu wagen und meinem guten Glück zu trauen. Dieses ließ mich denn auch nicht im Stich, und ich fand glücklich den sehr wilden einsamen Weg, mitten zwischen lauter Gletschern und Eisbergen hindurch. Es war ein starker Tagesmarsch (über Livigno und Trepalle), aber äußerst lohnend, eine der wildesten Partien. Dabei fand ich noch eine Menge der seltensten Alpenpflanzen blühend, die selbst im Ötztal schon verblüht waren. So eisig kalt und winterlich ist es hier! Obwohl ich den ganzen Tag entzückt war, so war er doch nur ein schwaches Vorspiel von dem ganz einzig großartigen Genuß, der ich am folgenden Tag (26. 9.) wirklich in einen Himmel von Seligkeit versetzte. Ich bin jetzt noch sehr berauscht und betäubt von diesen Herrlichkeiten, um Euch nur einigermaßen ordentlich davon schreiben zu können. Für jetzt nur so viel, daß sich alles vereinte, um diesen Tag zum herrlichsten und himmlichsten der ganzen Reise zu machen. Den ganzen Tag kein Wölkchen am Himmel! Dabei die Luft so rein, daß man jede Spalte der entferntesten Gletscher und Felsen erkennen konnte! Eine Fülle der seltensten, noch blühenden, nie von mir gefundenen Alpenpflanzen, namentlich Moose! Die großartigsten Gletscherpartien der ganzen Alpenkette (die Schweiz nicht ausgenommen!), die großartigsten menschlichen Straßenbauwerke (denen der alten Ägypter nicht nachstehend)! Alles, alles versetzte mich in eine so herrliche selige Stimmung, wie nie, und ich lief abends im schönsten Vollmondschein noch zwei Stunden weiter, als ich mir vorgenommen, bloß aus Aufregung!

Innsbruck, 29. 9. 1855.

Eigentlich wollte ich die beifolgenden, in Nauders geschriebenen Zeilen schon von dort abschicken. Da aber die Post schon zu war, beschloß ich, sie erst von hier abzuschicken, wo sie ohnehin noch ebenso rasch als von dort zu Euch kommen. Ich habe inzwischen noch zwei herrliche Reisetage gehabt. Vorgestern ging ich von Prad (am Fuß des Wormser Jochs) nach Mals bis Nauders, wobei ich immer den herrlichsten Rückblick auf die Eiswelt des Ortlers hatte. In Mals traf ich einen in München studierenden stud. med. Horn aus Bremen (Neffen des Charitéverwalters), einen sehr netten muntern Kerl, mit dem ich nun den Rest der Reise vollenden und dann in München tüchtig herumlaufen werde, was mir sehr lieb ist. Gestern lief ich mit ihm von Nauders durch den Finstermünzpaß und das Unterinntal nach Landeck, eine recht hübsche Bergpartie (über Obladis), und heute fuhren wir zusammen im Stellwagen von Landeck hierher, noch eine recht hübsche Schlußtour, noch bei demselben schönen Wetter, das den Weg übers Stilfser Joch verherrlichte. Überhaupt scheint der Schluß der ganzen Reise sich noch ebenso glänzend zu gestalten wie der ganze übrige Verlauf. Zufällig trifft es sich nämlich grade, daß morgen hier der Bruder des Kaisers als Statthalter von Tirol eingeführt wird und daß zur Feier dieses Festes ein höchst großartiges Wettschießen abgehalten wird, wozu festlich geschmückte Schützen aus allen Tiroler Gauen in Unmasse erschienen sind. Da wimmelt denn alles von den buntesten und malerischsten Trachten. Morgen wird ein höchst großartiger Umzug von ein paar Tausend fremden, festlich geschmückten Schützen veranstaltet. Übermorgen gehen wir von hier über den Achensee und Tegernsee nach München, wo vom 4.-7. (Donnerstag bis Sonntag) das große Musikfest abgehalten wird. Diesem folgt unmittelbar das berühmte Müncher Oktoberfest, wobei man das süddeutsche, bayrische Volksleben in seiner ganzen Ausdehnung kennenlernt. Alles trifft also vortrefflich zusammen, um mir am Schluß der herrlichen Reise noch einen recht großen Reichtum der verschiedenartigsten Lebensbilder mit auf den Weg zu geben. Das war doch wirklich eine herrliche Reise, und ich kann Euch, liebste Eltern, nicht genug dafür danken, daß Ihr mir diesen unvergleichlichen Genuß, der mit so viel Nutzen für meine körperliche und geistige Ausbildung verbunden ist, verschafft habt. Habt tausend, tausendmal den innigsten Dank dafür. Ich kann Euch gar nicht sagen, was für einen großen Reichtum der merkwürdigsten und verschiedensten Anschauungen ich dabei erworben habe. Wenn ich mir heute bei der schönen Fahrt die einzelnen Reisetage ins Gedächtnis zurückrief, drängte sich mir ein solcher Reichtum der herrlichsten, buntesten Bilder nacheinander auf, daß ich meinte, für mein ganzes Leben davon genug zu haben. Dabei bin ich körperlich so außerordentlich wohl und munter, wie nie. Doch nun für heute genug. Ich bin sehr müde und sehne mich herzlich nach Ruhe. Grüßt alle Freunde recht herzlich und habt selbst einen recht innigen Gruß und Kuß

von Eurem alten Ernst.

68. München, 10. 10. 1855.

Liebste Eltern!

Am Montag, den 1. Oktober, bestiegen wir früh Schloß Ambras und die Lanser Köpfl, zwei Hügel südlich von Innsbruck, von wo man noch eine ganz herrliche Aussicht über das ganze wunderschöne Tal, worin die Stadt so anmutig liegt, genießt. Mittwoch besuchten wir das interessante Tiroler Landesmuseum in Innsbruck (ganz analog dem Linzer Museum für Österreich) und fuhren dann mit Stellwagen bis Schwatz. Von hier gingen wir am andern Tag, 2. 10., über Jenbach, den herrlichen Achensee und Bad Kreuth nach Tegernsee, eine sehr hübsche Tour von 15 Stunden. Leider war zu Anfang grade so ein exquisites Regenwetter zum Abschied von den Hochalpen, wie beim Eintritt in die Alpen bei Ischl. Später klärte es sich jedoch leidlich auf. Auch Tegernsee liegt noch sehr lieblich. Von hier fuhren wir am andern Morgen per Stellwagen nach München (am Mittwoch, 3. 10.), eine ganz erschrecklich elende ebene Strecke von acht Stunden, die wir aber erst in 10 zurücklegten, da lauter echte Bierbayern im Wagen saßen, die in jedem Wirtshause, das der liebe Gott am Wege hatte wachsen lassen, einkneipen mußten. Trotzdem der Weg erschrecklich langweilig war, so war ich doch in einer so selig dankbaren und glücklichen Stimmung, einer solchen innigen und stillen Freude über alle die wunderbaren Herrlichkeiten, die ich in diesen acht Wochen genossen, daß ich von der Langeweile, die meinen Reisegefährten umbringen wollte, gar nichts merkte. Selten bin ich wohl so andauernd in einer so seligen, still gottvergnügten Stimmung gewesen, wie in jenen ersten Tagen nach der Reise. Nur durch das wehmütige Gefühl des Abschieds von der wundervoll erhabenen und großartigen Alpenwelt, die ich so unendlich liebgewonnen, mit der ich so ganz innig vertraut geworden war, wurde das stille Wonnegefühl etwas getrübt. In wie ganz anderer Stimmung war ich doch ausgezogen. Mit tausend bangen Befürchtungen und Ängsten, unsicher und schwankend, war ich abgereist. Weder körperlich noch geistig glaubte ich die Kraft zu haben, eine solche Reise durchzuführen; namentlich hatte ich geglaubt, daß mein Knie schon in der ersten Woche solchen Strapazen erliegen würde. Und wie ganz anders und herrlich hat sich das alles gemacht! Ich habe tausendmal mehr und Schöneres gesehen, als ich gehofft, bei weitem stärkere Strapazen durchgemacht, als ich erwartet, das allem mit dem größten Nutzen für den Körper nicht minder als für den Geist. Ihr müßtet mich jetzt sehen und sprechen, um zu sehen, was für ein ganz anderer Mensch ich durch diese einzige Reise geworden bin. Während ich früher mir in hypochondrischer Laune einbildete, in einen elenden schwächlichen Körper gebannt zu sein, weiß ich jetzt aus Erfahrung, daß ich Strapazen ertragen und Märsche, Gebirgsmärsche, aushalten kann, wie wohl wenige andere Alpenreisende. Wenigstens habe ich unter zirka 60 Reisenden, mit denen ich eine größere Strecke gelaufen bin, nur einen einzigen gefunden, der mich übertroffen hat (sonderbarerweise ein katholischer stud. theol., ein baumstarker Kerl, der freilich auch nicht gegen 30 Pfund zu schleppen hatte, wie ich meistenteils). Kurz, ich fühle jetzt frisches neues Jugendfeuer durch alle Adern glühen, wie nie vorher. Gewiß nicht minder ist der Geist dabei erstarkt. Namentlich habe ich einen großen Teil der kindischen Menschenscheu und furchtsamen Ängstlichkeit abgelegt, die mir bisher den Umgang mit fremden Menschen so verleidete. Ganz abgesehen aber von allem Nutzen, den die herrliche Alpenreise auf den Charakter ausgeübt hat, hat sie auch meine Kenntnisse und Anschauungen unendlich bereichert und vermehrt, ganz besonders natürlich die naturwissenschaftlichen und in specie botanischen. Wie ganz anders werde ich jetzt Geologie und physikalische Geographie studieren können! Der Reichtum der neuen Anschauungen ist wirklich so fabelhaft groß, daß ich noch lange zu tun haben werde, um diese wunderbaren Eindrücke nur einigermaßen zu ordnen. Wie ganz andere Ansichten habe ich aber auch vom Menschen und gesellschaftlichen Leben bekommen, und wie habe ich dabei im steten Verkehr mit Freunden an Selbstständigkeit gewonnen! Kurz, liebe Eltern, den wahren Nutzen, den ich, ganz abgesehen von den reinsten und edelsten Naturgenüssen, die ich in so reichem und hohem Maße genossen habe, schon bloß für die Ausbildung meines Charakters von dieser Reise gehabt, ist so unendlich groß, daß ich Euch nicht genug dafür danken kann, mir die Mittel zu dieser Reise gewährt zu haben. Wie dankbar muß ich aber auch gegen Gott sein, daß er alles so gütig und gnädig gefügt und mich geführt hat. Wenn ich im ganzen auch selten in ernstlicher Gefahr war, so konnte doch z. B. die Ötztaler Partie ziemlich schlimm ablaufen. Was mich noch ganz besonders freut, ist, daß ich meinen ursprünglichen Reiseplan (den ich zunächst meinem lieben Richthofen verdanke) im ganzen so konsequent durchgeführt habe, mit Ausnahme der Nordosttiroler Partie (Kriml, Zillertal, Tuxer Tal), die Regen vereitelte. Wenn ich den Alpenteil meiner Reise mit demjenigen vergleiche, den der Aufenthalt in Städten, und namentlich die acht Tage in Italien, in Anspruch genommen haben, so gebe ich, im Gegensatz zu den meisten andern Reisenden, dem erstern entschieden bei weitem den Vorzug. Freilich mag es sein, daß das speziell naturwissenschaftliche Interesse, das die Alpennatur bietet, jenes letztere, mehr ethnographisch-historische Kunstinteresse bei mir gar zu sehr überwiegt, aber schon die mannigfachen Beschwerden und Anstrengungen, welche mit der Alpenreise verbunden sind, geben ihren Genüssen einen um so viel höheren Wert. -

Das geringste Interesse hat für mich bis jetzt noch das berühmte Musikfest gehabt, von dem doch so schrecklich viel Wesens und Geschrei gemacht wird. Ich habe dabei wieder gesehen, daß mein musikalischer Sinn eigentlich gleich Null ist. Die einzige Musik, für die ich mich interessiere ist das Volkslied. Vorgestern war hier im Glaspalast ein riesiges Militärkonzert (von 225 Musikern, sämtlichen Musikern der Garnison München), das mich weit mehr interessiert hat als das viel berühmtere große Musikfest mit seinen 900 Sängern und 200 Instrumenten. Die Beschreibung des letztern (am 4. und 5.) habt Ihr wohl in den Zeitungen gelesen. Mich hat es nicht sehr entzückt. Dagegen haben die ganz wunderbar schönen und reichen Schätze der bildenden Kunst, die einem auf Schritt und Tritt hier in die Augen springen, einen umso bedeutenderen Eindruck auf mich gemacht. Namentlich geht mir die neue Pinakotek, demnächst die Glyptothek und die wundervollen Fresken aus der Odyssee und den Nibelungen in der Residenz über alles andre, was ich bisher gesehen . . .

Ade! Der nächste Brief wieder aus Würzburg.

Euer alter Ernst.

Ich wollte, daß Ihr mich im Reisekostüm bei meinem Einzug in München hättet sehen können. Es war tausend Glück, daß Hein mir einen vollständigen Anzug hierher post. rest. geschickt hatte. Mein grauer Reiserock ist mir buchstäblich in Lappen vom Leibe gefallen. Von den drei mitgenommenen Hemden existieren nur noch einige Oberteile.

69. Würzburg, 18. 10. früh.

Liebe Eltern!

So begrüße ich Euch denn zum erstenmal wieder aus Würzburg! Wie Ihr aus dem beiliegenden Brief an Tante Berta, den Ihr ihr an ihrem Gebrutstag geben mögt, ersehen werdet, kann ich mich hier noch gar nicht wieder einleben. Die Reiselust und Reiseunruhe steckt mir noch in allen Gliedern und läßt mich nicht zu ruhiger, steter Arbeit kommen, die doch so sehr not tut. Der Kontrast zwischen dem hiesigen philiströsen Alltagsleben, in das ich nun wieder hinein muß, und der wundervollen Alpenwelt, die ich vor kurzem so herrlich genossen, ist aber auch in der Tat gar zu groß. Wie schrecklich eng, kleinlich, staubig und wurmförmig kommt mir hier alles vor. Wie anders dagegen auf den erhabenen Bergen mit ihrer großartigen, ich möchte sagen, überirdischen Natur, wo der Mensch so ganz frei ist, so ganz sich selbst und sein kleinliches Alltagsleben vergißt. Gewiß liegt in dieser unbeschränkten Freiheit, in diesem göttlichen Selbstvergessen nicht der kleinste Teil jenes unnennbaren Hochgefühls, das die Seele in den einsamsten großartigsten Stellen der Hochgebirgswelt unwiderstehlich zum Himmel emporzieht, so daß man wirklich dem Überirdischen, Göttlichen sich näher fühlt als sonst. Je mehr ich mich jetzt hier abmühe, mich wieder in das alte Philisterleben einzuzwängen, desto mehr werde ich von Tag zu Tag inne, wie ungeheuer weit ich durch die Reise aus ihm herausgerissen und in ganz andere und höhere Sphären des Denkens und Lebens hineingekommen bin. Freilich hat mich andererseits die lange Unterbrechung in dem medizinischen Studium sehr zurückgebracht, und ich bemerke stündlich mit neuen Schrecken, wie viel ich inzwischen verschwitzt und vergessen habe. Als ich gestern das dickleibige Handbuch der Materia medica, das schrecklichste Marterwerkzeug, das jemals der geistlose Quacksalbersinn praktischer Ärzte zur Qual des freien Geistes ersonnen hat, ein paar Stunden in der Hand gehalten und vergeblich die alten Reminiszenzen daraus mir zurückzurufen versucht hatte, geriet ich wirklich fast in Verzweiflung, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte ich urplötzlich mein Bündel geschnürt und wäre noch auf ein paar Tage zu Euch nach Berlin gespritzt, wozu ich überhaupt, seit ich wieder hier bin, fast stündlich mich versucht gefühlt habe, und schon mehr als einmal drauf und dran war, den tollen Gedanken auszuführen. Gar zu gern möchte ich Euch jetzt mein übervolles Herz ausschütten, und doch kann es nicht sein und ich muß schon bis Ostern warten. Die Lücken in meinen medizinischen Kenntnissen sind jetzt so großartig, daß mir eigentlich jede Sekunde wertvoll sein sollte, um sie auszuflicken. Und doch kann ich mit aller Anstrengung die Gedanken noch nicht von der Reise sammeln und in das alte Joch zwingen. Hoffentlich wird es mit Anfang der Kollegien und Kliniken besser! Mein einziger Trost ist jetzt Tschudis herrliches Buch über die Altenwelt (das mir Karl geschenkt hat). Gestern stieß mir folgender Satz darin auf, der mir wie aus der Seele gesprochen war: "Wie die Berge hoch und einsam über das Flachland hinaufragen, so ragen die Gedanken Gottes, die in ihnen ruhen, über das alltägliche Leben und Gemüt, und wir würden wohl tief aufatmen und die Hüllen unserer so oft in kleinlicher Verbildung ruhenden Weltanschauungen brechen, wenn wir unseren Ideenkreis und unser Gemütsleben öfter an jenen ewig schönen Originalien, an jenen kristallisierten Schöpfungsgedanken des Weltgeistes auffrischen und ausweiten wollten!" - !! . . .

Tausend herzliche Grüße von Eurem alten Ernst H.

70. Würzburg, 23. 10. 1855.

Liebe Eltern!

. . . Am Sonntag habe ich endlich einen kühnen Anlauf genommen und bin mit einem Satz in die edle ars medica verzweifelt hineingesprungen. Ich bin nämlich seit dem "ewig denkwürdigen" 21. Oktober 1855 p. C. n. wirklicher poliklinischer Praktikant! hört, hört !! und bringe jetzt jedem Morgen zwei Stunden bei meinen Patienten zu!!! Möchtet Ihr nicht an der Stelle dieser armen Tierchen sein?? Es klingt wirklich lächerlich, ist aber nichtsdestoweniger wahr! Ich wollte nur, Ihr könntet mich sehen, mit welcher hochwichtigen Amtsmiene, den grauen poliklinischen Hut auf dem Kopf, Stethoskop und Plessimeter in der Tasche der imposante Herr Doktor auf der Praxis herumläuft! Mein erster Patient war ein Mann von 45 Jahren, Heizer, welcher vor vier Tagen plötzlich einen sehr heftigen Anfall von Cholera sporadica gehabt hatte. Zum großen Glück für ihn fiel es ihm erst am vierten Tage, nachdem die Krankheit selbst eigentlich schon vorüber war, ein, nach dem Doktor zu schicken. So habe ich jetzt nur die Nachbehandlung zu leiten, und war denn schließlich so glücklich, nachdem ich ein paar Stunden lang sämtliche Ecken und Enden seines Körpers genau untersucht, am untern Lappen der linken Lunge etwas Emphysema pulmonum zu entdecken (durch physikalische Exploration), welches der Mann wohl schon seit Jahren ohne Beschwerden hat, das aber nun, da er einmal unter der Kur ist, doch ohne Gnade behandelt werden muß, und wogegen ich denn feierlich mein erstes Rezept losließ . . .

Du wünschst das Nähere über mein Gletscherabenteuer zu wissen. Dies ist zwar sehr einfach, läßt sich aber besser in corpore vormachen, als abbilden oder beschreiben. Ich hatte den unübertrefflichen Alpenstock von acht Fuß Länge, dem ich allein meine Rettung verdanke, in der rechten Hand fest gefaßt. Dieser legte ich beim Falle, als ich mit der Körperhälfte im Schnee saß, quer über die Spalte, so daß ich ganz sicher an ihm hängenblieb und mich nun an ihm mit der freien Hand herausarbeiten konnte, wobei mich der Führer noch am Wickel faßte. Das feinere Detail ist mir selbst nicht recht klar geworden, zumal ich damals nicht gerade sehr aufgelegt war, scharfsinnige Kombinationen über die physikalische Richtung der Fallinien oder das "Wie" des Herauskommens anzustellen, sondern meinem Gott danke, daß ich draußen war, wozu ich auch alle Ursache hatte . . .

Seid herzlich gegrüßt von Eurem alten

Ernst Haeckel.

71. Würzburg, 2. 11. 1855.

Liebe Eltern!

. . . Daß ich mich neben dem praktischen Streben auch sonst bemühe, menschlicher zu werden, könnt Ihr daraus ersehen, daß ich jetzt Tanzstunde(!) nehme (hört, hört!), die in dieser Woche beginnen wird. Auch in der englischen Sprache habe ich wieder Unterricht genommen, da sich grade dazu sehr günstige Gelegenheit bot, nämlich bei einem geborenen Engländer, der bloß aus Langerweile Stunden gibt und es deshalb sehr billig tut. Wenn ich nur mehr Zeit hätte, dann wollte ich schon mehr dafür tun. Wenn aber jetzt erst wieder die Kollegien anfangen, sehe ich schon daß ich nicht wissen werde, woher ich sie nehmen soll. Das schlimmste ist jetzt, daß ich ein sehr trauriges Rezidiv in der Phytomanie oder Heusammelwut erlitten habe, sa daß ich jetzt mehrere Nachmittage der Versuchung, meine alpinen Blumenschätze genau zu untersuchen, zu ordnen und mit Hülfe des Universitätsherbars, das mir Prof. Schenk zur Verfügung stellte, vollständig zu bestimmen, nicht widerstehen konnte. Dazu kommt noch, daß der Privatdozent Dr. E. Gegenbaur, der jetzt als Professor der vergleichenden Anatomie an Oskar Schmidts Stelle nach Jena gekommen ist, mir, außer vier sehr seltnen und schönen ausländischen (tropischen) Vögeln, die gesamten Doubletten seines Herbariums, 20 starke Mappen an der Zahl, geschenkt hat, in denen ich ganz in alter Art und mit der alten, jetzt so lange vergessenen und geschlummert habenden Pflanzenseligkeit mehrere Tage gewirtschaftet habe. Natürlich wurde dabei sehr viel alter Schund weggeschmissen, aber auch sehr viel neue, schöne und seltne Sachen aquiriert, so daß mein Herbarium nun sehr erfreulichen Zuwachs von zehn starken Bänden bekömmt. Die übrige freie Zeit, welche mir die poliklinische Praxis und die Beschäftigung mit den lieben Pflänzchen übrigließen, habe ich meist auf den anatomischen und zootomischen Museum zugebracht, wozu Kölliker so freundlich war, mir einen Schlüssel zu überlassen . . .

Laßt Euch die Würzburger Trauben recht gut schmecken und denkt dabei an Euren treuen alten

Ernst H.

72. Würzburg, 19. 11. 1855.

Mein lieber Vater!

. . . Daß ich gegenwärtig in jeder Beziehung, sowohl in wissenschaftlicher als menschlicher, bedeutende Fortschritte gegen die letztverflossenen Jahre gemacht habe, in denen ich allerdings mehr, als recht ist, in vieler Hinsicht zurückblieb, das wird mir aus meinem ganzen jetzigen Leben und seinen einzelnen Seiten immer klarer. Den größten Dank bin ich dafür wohl meiner herrlichen Alpenreise schuldig, die mich so vielfach mit andern Menschen, Ansichten und Gesinnungen bekanntgemacht, aus dem engen beschränkten Kreise meiner alten philosophischen Grillen und hausbackenen Vorstellungen herausgerissen und in die ganze Vielseitigkeit bunten Weltlebens hineinversetzt hat. Nächstdem bin ich einen großen Teil des Danks für eine vielseitigere Ausbildung und Erweiterung meiner Lebensansichten auch der Medizin, insbesondere der praktischen schuldig, welche mich gleichfalls mehr in das wirkliche Leben, wie es einmal ist, und wie wir uns in dasselbe schicken müssen, hat blicken lassen. Freilich war dieses gewaltsame Herausreißen aus einer phantasiereichen Welt erträumter Ideale und die plötzliche Versetzung in die rauhe Wirklichkeit, welche ich erst jetzt in ihrem ganzen Wesen kennenlernte, keineswegs angenehm; um so froher bin ich aber jetzt, daß dieser harte Sprung, der denn doch einmal nolens volens getan werden mußte, vorüber ist und ich nun die reale Welt mit ebenso realen Augen ansehen kann, wie sie es verdient. In dieser Beziehung ist die praktische Medizin und insbesondere die Poliklinik, wo man die erbärmliche Unvollkommenheit und die elende Mangelhaftigkeit unseres körperlichen und geistigen Lebens so recht aus dem Grunde kennenlernt, eine ganz vortreffliche, wenn auch bittere und harte Lehrschule. In der ersten Zeit kam mir natürlich diese plötzliche Vernichtung aller der schönen Phantansiebilder, mit denen ich mir eine ideale Weltanschauung in meinem abgesonderten Sinn selbstständig und aller Realität bar, erbaut hatte, hart und unleidlich genug vor. Jetzt gewöhne ich aber allmählich meine ganze Denk- und Anschauungsweise immer mehr an diese reale Betrachtung der menschlichen Dinge und werde nun beim weiteren Hinaustreten in das rauhe stürmische Leben um so weniger durch dessen Täuschungen überrascht werden. Wenn ich übrigens gegenwärtig mit der praktischen Medizin mich wenigstens insoweit ausgesöhnt habe, daß ich überzeugt bin, bei noch zunehmender Selbstüberwindung im Notfalle sie einst wirklich ausüben zu können (was ich hauptsächlich der poliklinischen Schule verdanke), so ist damit keineswegs gesagt, daß meine unbegrenzte Vorliebe zu den theoretischen Naturwissenschaften (insbesondere der wissenschaftlichen Zoologie und Botanik und Mikroskopie überhaupt) irgendwie nachgelassen hätte. Im Gegenteil hat dieselbe durch meine schöne Alpenreise, welche mir so viele, wundervolle Gebiete interessantester Naturforschung vor Augen geführt hat, noch einen beträchtlichen Zuwachs, einen starken Antrieb mehr bekommen, und ich bin jetzt ein leidenschaftlicherer "Naturforscher" als je vorher. Du kannst aber schon daraus sehen, wie sehr ich an Selbstüberwindung zugenommen habe, daß ich dessenungeachtet für die nächste Zukunft und in specie für diesen Winter vollständig auf rein theoretische, naturwissenschaftliche Studien verzichtet und mir fest vorgenommen habe, jetzt endlich einmal die Medizin zum vollkommenen Abschluß zu bringen, so daß ich unser Staatsexamen machen kann . . .

Von 7-9 Uhr abends ist jetzt die berühmte Tanzstunde, welche ich glücklicherweise mit mehreren Bekannten, namentlichen mit meinem näheren Freunde Dreier aus Bremen und dessen Bekannten Knauf, zusammen habe, so daß wir uns die höchst langweilige Geschichte durch gegenseitiges Amüsement recht munter und lustig machen. Unser Tanzmeister, Herr Quäsar, ein fast ebenso breiter und dicker als langer Fleischklumpen, sowie seine kaum weniger wohlbeleibte Frau Ballettmeisterin geben uns in der Tat durch die Beschränkheit des Gehirns, das der Hypertrophie ihres Fettzellgewebes entsprechend atrophisch geworden zu sein scheint, Stoff genug zum Lachen und Lustigmachen. Die ersten Stunden brachte er bloß damit zu, uns einzuschulen, wie wir Komplimente zu machen, insbesondere aber, wie wir uns vor dem König und der Königin zu benehmen hätten. Gegenwärtig wird eifrigst Franaise einstudiert (mit sechs Damen), wobei ich mit meinen langen Beinen oft großartige Sätze durch den halben Tanzsaal mache. Überhaupt ist mein Ungeschick dabei natürlich bewundernswert. Nach der Tanzstunde oder an den Tagen, wo diese nicht stattfindet, nach der englischen Stunde, welche ich bei einem ganz sonderbaren Engländer, Mr. Watson Sratshard, genieße, gehe ich gewöhnlich ein wenig mit Beckmann und Strube kneipen. Dann wird regelmäßig noch bis 12 oder 1 Uhr zu Hause gearbeitet. Namentlich will ich jetzt in diesen Stunden meine Reisebeschreibung wieder fortsetzen, deren Ausarbeitung mir ungemein großes Vergnügen macht, da ich alle die herrlichen Genüsse der unvergeßlichen Reise dabei noch einmal im Geiste durchlebe. Schade nur, daß ich bei der geringen Übung im Schreiben, die leider bei unseren Universitätsstudien noch so sehr vernachlässig wird, so daß wir die geringe, auf der Schule erworbene Stilfertigkeit bald wieder einbüßen, so wenig imstande bin, die verschiedenen lebhaften Gefühle, Ansichten und Genüsse, die noch bei der Rückerinnerung an die herrlichen Erlebnisse meine Sinne lebhaft erregen, treu wiederzugeben . . .

Zu den Bocksbeuteln, die Ihr lieben Alten Euch zu Papas Geburtstag recht gut schmecken lassen mögt, habe ich auch noch ein paar Proben der herrlichen Tiroler Alpenpflänzchen gelegt, von denen ich einen großen Stoß mitgebracht, ferner eine graphische Darstellung meiner Reiseroute zu besserer Verfolgung meines Wegs, genau nach der trefflichen Mayrschen Karte von Tirol, die mir überall von größtem Nutzen war, und die ich in ihrer ganzen Ausdehnung, von Westen (Mailand, Comer See) bis Osten (Hallstadt, Traunsee) und von Norden (Augsburg) bis Süden (Oberitalien) durchreist habe, durchgezeichnet. Endlich lege ich Euch das kleine Reiseskizzenbuch bei, das freilich eigentlich nur für mich, für den Zeichner selbst, für den sich an jedem Bleistiftstrich ein Heer von Erinnerungen der süßesten Art knüpft, Wert hat, während die übrigen Leute aus dem Geschnörkel und Gekrakel der natürlich immer in der größten Eilfertigkeit hingeworfenen Skizzen schwerlich klug werden dürften. Die meisten Skizzen stellen noch dazu nur die Umrisse von Gebirgsketten dar, die für mich in mehrfacher Hinsicht interessant waren. Indes dachte ich doch, daß einzelnes, z. B. namentlich die späteren Tiroler Ansichten, die Ortlerspitze usw., Dir, lieber Papa, nicht ganz ohne Interesse sein würde. Später denke ich nach diesen Skizzen noch größere Landschaftsbilder auszuführen. Jetzt tut mir's oft recht leid, daß ich nicht noch mehr Skizzen aufgenommen habe. Sie sind doch eine gar zu liebe Erinnerung, und bei jedem Bildchen, es mag noch so unvollkommen sein, fällt einem die ganze interessante Situation wieder ein, in der man seinen Abriß entwarf. Ich verfalle jedesmal beim Anschauen eines solchen Umrisses in eine ganze Suite von Reisegedanken. Das ist auch einer der großen Vorteile des Alleinreisens, daß man sich, falls es sonst die Zeit und Umstände erlauben, hinsetzen und zeichnen kann, wann und wo man will. Überhaupt hat mir das Soloreisen im ganzen so außerordentlich gut gefallen, daß ich bei künftigen Reisen immer wieder allein mich auf den Weg machen werde, falls ich nicht einen sehr intimen Freund zum Gefährten finde, der ganz meine Neigungen und Bedürfnisse teilt. Man wird dabei viel selbstständiger, wird mehr gezwungen, mit andern Leuten zu verkehren und geht dabei viel mehr aus sich heraus. Auch ist es gar zu angenehm, ganz sein eigner Herr zu sein, zu gehen und zu ruhen, wie wann und wo man Lust hat, und an jedem Ort zu bleiben, so lange es einem gefällt . . .

Die einzige Bewegung, die ich jetzt habe, ist der poliklinische Stadttrab bei den Patienten in den verschiedenen Distrikten, wobei man die alte, winklige Stadt zugleich ganz gründlich in- und auswendig kennenlernt. Diese Art der Praxis gefällt mir überhaupt ganz leidlich, wie denn innere Medizin mir noch am meisten zusagt. Dagegen kann ich an der Chirurgie und Geburtshilfe noch gar keinen Geschmack finden. Bei letzterer praktiziere ich jetzt ebenfalls und habe dadurch das wahrlich nicht sehr beneidenswerte Vergnügen, zu den Geburten in den Entbindungsanstalten gerufen zu werden, was denn gewöhnlich grade nachts eintrifft, wo andere ehrliche Leute den besten Schlaf genießen. So hatte ich gestern z. B. bis 1 Uhr gearbeitet, ging äußerst ermüdet zu Bett und hatte kaum eine Stunde geschlafen, als ich wieder gerufen wurde, wodurch ich über zwei Stunden beschäftigt wurde und erst nach 4 Uhr wieder ins Bett kam, so daß ich Summa summarum nicht ganz 4 Stunden geschlafen habe. So lernt man dann allmählich die Annehmlichkeiten des praktischen, ärztlichen Lebens kennen. Je nun, jetzt will ich die Sachen mit Vergnügen aushalten, wenn ich nur nicht mein ganzes Leben damit zu tun haben soll . . .

73. Würzburg, 3. 12. 1855.

Liebe Eltern!

. . . Was Du, lieber Vater, hinsichtlich des schwerfälligen Stils meiner Reisebeschreibung bemerkst, ist leider nur zu wahr, und ich habe überhaupt bei diesem Versuche jetzt wieder recht gesehen, welch großer Mangel unserer studentischen Tätigkeit darin besteht, daß man lediglich auf ein rein rezeptives Studium angewiesen ist und nicht öfter genötigt ist, auch in freier, selbstständiger Produktion sich zu üben. Das bißchen Stilgewandtheit, das man sich auf dem Gymnasium durch die Ausarbeitung freier, deutscher Aufsätze eben erst erworben hat, geht bei dieser totalen Vernachlässigung des Schreibens bald ganz verloren, und soll man nachher wieder einmal etwas darstellen, so dauert es lange, ehe man nur notdürftig wieder in Gang kommt, und schließlich wird die ganze Geschichte doch schwerfällig und ungenießbar, trotzdem sie viel Zeit gekostet hat. Indes soll mich das nicht abhalten, den Versuch weiter fortzusetzen. In den letzten Wochen konnte ich absolut nicht dazu kommen, da meine kleine Arbeit über Typhus und Tuberkulose, welche ich bei Virchow unternommen, jede freie Minute vollständig absorbierte. Leider hat mich der verwünschte Zeitmangel auch verhindert, ein andres, sehr freundliches Anerbieten von Virchow anzunehmen, welcher mich aufforderte, in seinem Zimmer unter seiner Leitung eine feine, mikroskopisch-anatomische Untersuchung über die "Zytenbildung an den Plexus chorioidei des Gehirns" auszuführen. Ich hatte es mir längst gewünscht, mich einmal in einer solch speziellen Arbeit zu versuchen, und grade die Gelegenheit bei Virchow, dem ich in Hinsicht der feinsten mikroskopischen Arbeit, die ja auch mein Hauptziel ist, den ersten Preis zuerkennen muß, einen solchen ersten, eigenen Versuch zu machen, könnte mir nur äußerst erwünscht sein. Zu meinen großen Leidwesen habe ich aber das günstige Anerbieten doch ausschlagen müssen, da es rein unmöglich ist, die dazu nötige Zeit und Ruhe bei meiner jetzigen, den ganzen Tag in Anspruch nehmenden praktischen medizinischen Beschäftigung irgendwie herauszufinden . . .

In alter, treuer Liebe Euer Ernst.

74. Würzburg, Samstag früh, 8. 12. 1855.

Mein liebes, gutes Mütterchen!

. . . Daß mich Richthofens großartige Reiseaussichten mächtig erregt haben, könnt Ihr Euch denken. Jede solche Nachricht bringt jetzt in meinem unruhigen Sinn ein ganzes Heer revolutionärer Reisegedanken auf die Beine. Ich muß mich ordentlich in acht nehmen, Reisebeschreibungen usw. zu lesen. Denn sowie ich von den neuen Entdeckungen in fernen Tropenländern höre, haben meine Gedanken gleich nichts Eiligeres zu tun, als sich die ganze Fauna und Flora dieses Landes en détail auszumalen. So wirkt z. B. das Lesen von "Petermanns Nachrichten aus J. Perthes' Geographischem Institut", welche Papa wohl auch kennt, und welche hier auf der Harmonie aushängen, entschieden verderblich. Als ich neulich darin die Nachrichten von Vogels Reise in Afrika, besonders aber von den Gletscherpartien der Gebrüder Schlaginweit auf dem Himalaja las, träumte mein rebellischer Sinn die folgenden Tage von nichts als Reisen und immer wieder Reisen! . . .

75. Würzburg, 20. 12. 1855.

Liebe Eltern!

. . . Habt Ihr denn in Berlin auch so grimmige Kälte? Hier ist es so strenger Winter, wie man ihn sich seit 1829 nicht zu erinnern weiß. Das durch seine Milde berühmte subtropische Würzburger Klima ist auf einmal in Polarkälte umgewandelt. Für mich ist das, obwohl ich sonst schon ein großer Liebhaber von Kälte und Abhärtung bin, doch bei dem eisigen Zustand meiner luftigen Stube sehr fatal, und ich friere jetzt abends beim Schreiben förmlich an meinem Tische ein, so daß ich , wenn ich aufstehe, um um 12 oder 1 Uhr zu Bett zu gehen, ganz steif und starr bin und lange Zeit brauche, um im Bett nur einigermaßen warm zu werden. Ist dies dann endlich gelungen und ich fühle mich einmal recht behaglich warm im Nest, dann schrillt gewöhnlich um 2 oder 3 Uhr die unheilvolle Schicksalsglocke, welche zur Entbindung ruft. Namentlich in der vorletzten Woche kamen die Geburten förmlich haufenweis (die Folge der Karnevalswoche um Fastnacht!), und ich wurde drei Nächte hintereinander geweckt, so daß ich die Mutter Natur verwünschte, welche das Menschengeschlecht nicht durch Eier, wie die allermeisten Tierklassen, oder noch besser durch Sproß- und Knospenbildung, wie die Polypen, sich fortplanzen läßt. Doch was hilft's! Dieser Winter muß ausgehalten werden! . . .

76. Würzburg, Mittwoch, 26. 12. 1855.

Liebste Eltern!

soeben, am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertages, erhielt ich Eure liebevolle Weihnachtssendung, die ich sehnlichst erwartet habe und heut nachmittag fast schon aufgegeben hatte. Nun aber war auch die Freude darüber um so größer! Habt tausend, tausend Dank für alle Eure Güte und Liebe. Ihr habt mich diesmal wieder so reichlich bedacht, daß ich Euch gar nicht genug dafür danken kann. Ganz besonders hat mich Großpapas Bild gefreut, das ja eine ganz prächtige Kopie ist. Der Zug um den Mund scheint mir selbst freundlicher als im Original; nur die Augen wollen mir nicht so ganz gefallen. Das wird eine rechte Zierde meiner hübschen Studierstube in Berlin werden. Da soll das Bild grade über meinem Arbeitstische hängen und mich beständig an den herrlichen Großvater erinnern, dessen edlem Gemüt und fleckenlosem Charakter nachzueifern mein stetes Bestreben sein soll. Mit Van der Hoevens Zoologie, die ich mir schon sehr lange gewünscht habe, habt Ihr mir ebenfalls eine sehr große Freude gemacht. Ich erhielt das schöne Buch schon vor vier Tagen. Dir, meine liebe Herzensmutter, sage ich noch ganz besonderen Dank für die zärtliche Sorgsamkeit, mit der Du meine Speisekammer bedacht hast. Bei der spartanischen Kost, die ich hier meistens genieße, kann man wirklich zuweilen so eine kleine Leckerei gut brauchen . . .

Trotz der Entfernung von Euch Lieben und trotz meiner hiesigen Einsamkeit, welche mir eine eigentlich gemütliche und behagliche Festfreude unmöglich machten, trotzdem habe ich diesmal eine so recht tiefe und innige Weihnachtsfreude genossen, wie vielleicht nie vorher. Am Heiligabend war freilich wenig davon zu merken. Ich brachte deselben mit Strube und Beckmann in einer Weinkneipe ziemlich trübe und versiegelt zu. Meinen beiden Freunden mochte ebenfalls die Heimat sehr im Sinn stecken und sie waren auch nicht weniger als lustig gestimmt. Selbst der sonst so heitere und witzige Peter war heute ganz still und konnte es zu keiner fröhlichen Stimmung bringen. Jeder dachte nur an die fernen Lieben, und so saßen wir still und schweigend vor unserem berühmten Steinwein, der sonst so leicht Herz und Zunge löst, diesmal aber den starren Trübsinn und das Heimweh nicht zu lösen vermochte. Mir schwebte beständig der mit funkelnden, großen Lichtern besetzte Tannenbaum vor, um den Ihr Lieben alle jetzt versammelt sein würdet, und an dem meine lieben kleinen Neffen, wenigstens mein Patchen, seine reine kindliche Freude haben würde. Dann dachte ich wieder mit Sehnsucht an die früheren Kinderjahre zurück, wo ich auch so ganz harmlos und sorgenfrei der schönen, lieblichen Weihnachtsfreude mich hingegeben hatte. Je trauriger und düsterer mir so der heilige Abend verfloß, desto freudvoller und glücklicher erschien mir der erste Weihnachtsfeiertag. Freilich hatte ich auch keine befreundete Seele, der ich mein ganzes Innere hätte offenbaren und mitteilen können, und die hohe Befriedigung, gegen ein verwandtes Gemüt meine Gedanken und Gefühle aussprechen zu können und in ihm einen harmonischen Anklang zu finden, fehlte mir heute wie gestern. Um so inniger und tiefer fühlte ich aber, wie sehr meine innigsten Überzeugungen und besten Bestrebungen in Eurem treuen Herzen, liebe Eltern, die volle, tiefe Aufnahme finden, die sie verdienen, und dieser Trost, die feste, unwandelbare Überzeugung unserer Geistesgemeinschaft, versetzte mich trotz der weiten Entfernung so lebhaft mitten unter Euch, daß mir nicht anders war, als hätte ich eben erst das Glück genossen, auch leiblich bei Euch zu sein, und Angesicht gegen Angesicht mein ganzes volles Herz mit allen Hoffnungen und Zweifeln, Freuden und Leiden gegen Euch auszuschütten. Die glückliche Stimmung, in der ich den ersten Feiertag verlebte, wurde zum großen Teil durch eine treffliche Predigt bedingt, welche ich am 25. 12. hier von einem alten Kirchenrat hörte und welche meinen eigenen Gedanken und Hoffnungen an diesem schönen Feste so sehr entsprach, als wäre sie mir aus der Seele genommen. Ich wurde dadurch veranlaßt, einmal tiefer über mein Verhältnis zum Leben und zu meiner Aufgabe in demselben nachzudenken. Ich gelangte da schließlich zu dem erfreulichen Resultat, daß ich in dem verflosenen Jahre doch meiner Lebensaufgabe um ein Bedeutendes näher gerückt bin; überhaupt trete ich das neue Jahr 1856 mit ganz anderen Hoffnungen und Vorsätzen an wie die vorhergehenden. Wenn in den verlebten drei Studentenjahren Neujahr für mich immer ein Tag des bittersten Schmerzes war, an dem ich nichts Besseres tun zu können glaubte, als mich in tiefen, moralischen Katzenjammer über das nutzlos verflossene alte Jahr zu versenken und meine schlechte Nutzanwendung desselben, die vielen Fehler, die ich in demselben, statt Gutes zu tun, beging, zu bedauern, so verhält es sich diesmal ganz anders. Allerdings bin ich mir jetzt eher noch mehr als früher der großen Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit bewußt, an der alle meine Handlungen mich unnütz grämen, richte ich jetzt lieber meinen Blick vertrauensvoll in die Zukunft, mit dem festen Willen, es künftig eben besser zu machen. Blickte ich damals nur mit kindischem Zagen in das schwarze, neue Jahr hinein, von dem ich ebensowenig als von dem verflossenen erwarten zu können glaubte, so habe ich dagegen jetzt frischen, frohen Mut gefaßt und hoffe mit Gottes Hülfe noch etwas Ordentliches zu leisten. Schwebt mir gleich das Rätsel meiner Zukunft jetzt vielleicht noch viel mehr als früher in unbestimmten, dunkeln Umrissen nur vor, so überlasse ich vertrauensvoll die ganze Sorge dafür meinem Gott, der mich schon nicht verlassen wird. Ja, endlich darf ich wohl, ohne mich zu überheben, hoffen, ein tüchtiger braver Kerl zu werden, und behaupten, daß ich den festen, unwandelbaren Willen dazu besitze. Diese wesentliche Charakterveränderung glaube ich mit Freuden als das Resultat des vergangenen Jahres ansehen zu dürfen. Endlich, endlich sind Kraft, Mut und Hoffnung in mein banges, schwaches und verzagtes Herz eingezogen. Freilich ist es auch die höchste Zeit, daß ich endlich einmal jene kindische Schwäche, jenes übertriebene Selbstmißtrauen, das alle Tatkraft schächte und allen Lebensmut niederschlug, aufgebe. Wenn es auch später meine stete Sorge sein soll, aller fehlerhaften Schwächen meines Wollens und Handelns mit strenger Wahrheitsliebe mir bewußt zu werden, so will ich doch ferner nicht, wie bisher, mutlos darüber zagen, sondern vielmehr durch kräftige, vollkommene Handlungsweise immer mehr meinem Ideal mich zu nähern versuchen. Ich kann Euch hier unmöglich beschreiben, wie tief und gründlich ich in meinem Wesen mich jetzt verändert fühle, wie ich hoffe, sehr zum Bessern. Erst mündlich kann ich Euch ganz mein volles Herz darüber ausschütten, und ich denke, Ihr solltet es an meiner ganzen Handlungsweise gewahr werden . . .

Und welchen Umständen verdanke ich nun diese gründliche Umwandlung meines ganzen Wollens, Denkens und Handelns, über die Ihr Euch vermutlich nicht weniger als ich selbst freuen werdet? Ich glaube, vor allem zwei verschiedenen Ursachen: erstens der herrlichen Alpenreise und zweitens der ernsten Lebenschule, die ich im verflossenen Jahre und insbesondere in den letzten Monaten hier durchgemacht habe. Was die erstere betrifft, so werde ich mit jedem Tage mir mehr der unschätzbaren Vorteile bewußt, welche dieselbe, ganz abgesehen von den unaussprechlichen Genüssen und Naturanschauungen, welche mir ewig unvergeßlich bleiben, und diese Zeit als die schönste meines Lebens erscheinen lassen werden, für die Bildung meines Geistes und Charakters gehabt hat. Wie einseitig bleibt doch der Mensch, der stets nur in dem engsten Kreise seiner nächsten Umgebung verharrt und von dem düstern Winkel seiner Studierstube aus sich die herrliche Gotteswelt draußen konstruiert! Mit eignen Augen muß man das Leben schauen, mit eignen Sinnen die unendlich mannigfaltigen Modifikationen, welche es in den bunten Köpfen der einzelnen Menschen, wie im nationalen Leben der ganzen Völker erleidet, kennenlernen und sich einen wahren Begriff von der unendlichen Vielseitigkeit desselben machen und demgemäß auch sein eigenes Handeln und Denken darin zu einer bestimmten Richtung auszubilden, die man mit beharrlicher Konsequenz verfolgt.

Derselbe Umstand, nämlich das Hinaustreten in und das Bekanntwerden mit dem realen Leben, das Aufgeben theoretisch gebildeter Nebelgestalten von Idealen, ist es auch wohl, welcher, wenn auch in ganz anderer Richtung, in meinem hiesigen Leben der letzten Monate das eigentlich bildende und fördernde Element gewesen ist, und da ist es vor allem wieder das praktisch medizinische Studium, dem ich diese Anerkennung zollen muß. Wie sehr danke ich Euch jetzt schon, liebe Eltern, daß Ihr mich erbarmungslos gezwungen habt, dieses Studium, wie verhaßt und meinem ganzen Streben zuwider es auch von Anfang an war, doch konsequent durchzuführen. Ganz abgesehen von den unschätzbaren Vorteilen, die mir meine ärztliche Ausbildung behufs meines künftigen Fortkommens und insbesondere zum Zweck der Realisierung meiner Lieblings- (Reise-) Pläne eintragen wird, habe ich dadurch eine viel wahrere und deshalb bessere Anschauung vom Leben, wie es ist, bekommen, als ich mir in meinem Kopf austheoretisiert hatte. So gewiß ich es für notwendig halte, daß jeder Mensch, der mit wahrem Ernst der möglichst vollkommenen Erfüllung seiner Lebensaufgabe nachstrebt, sich ein gewisses Ideal ausbildet, das ihm bei allen Handlungen als das Ziel vorschwebt, dem er sich möglichst zu nähern hat, und so gewiß ich mir selbst ein rechtschaffenes solches Ideal geschaffen zu haben hoffe, ebenso gewiß glaube ich auch jetzt überzeugt worden zu sein, daß man bei gar zu einseitiger Verfolgung desselben, bei völliger Mißachtung und Entfremdung vom äußeren, realen Leben, sich von der Aufgabe, die man in letzterem durch das erstere zu erreichen sucht, immer mehr entfernt. Deshalb ist es jetzt mein ernstes und schon bald von Erfolg gekröntes Streben, auch mit dieser realen Welt mich vertraut zu machen, ohne deshalb den teuern Idealen, denen mein junger Sinn zugewandt bleibt, untreu zu werden; und diese Absicht habe ich zum großen Teil durch mein jetziges, hiesiges Leben erreicht . . .

In alter treuer Liebe Euer

Ernst H.

77. Würzburg, 13. 1. 1856.

Liebe Eltern!

Das neue Jahr hat bei mir so angefangen, wie das alte geschlossen hat, d. h. ich schaue jetzt mit frohem Mut und hoffnungsvoller Zuversicht in mein künftiges Leben hinaus, obgleich ich grade jetzt eigentlich weniger als je einen bestimmten Plan für dasselbe vor mir sehe. Ich denke, der liebe Gott wird schon irgendwo im weiten Reiche der Naturwissenschaften eine Subalternenstelle für mich offen behalten. "Es muß auch solche Käuze geben!" - Einen Hauptvorteil habe ich in dieser Hinsicht dadurch in diesem Winter errungen, daß ich einsehen gelernt habe, daß es mit der Medizin nicht ganz so schlimm ist, wie ich dachte, obwohl sie als Wissenschaft wohl jämmerlich genug ist. Aber ich bin doch wenigstens bis zu der Erkenntnis vorgeschritten, daß ich allenfalls unter den schlimmsten Umständen mich doch einmal als praktischer Arzt aufspielen könnte. Die Hauptsache dabei ist jedenfalls das Selbstvertrauen, wie schon Mephisto sehr richtig bemerkt: "Denn wenn ihr euch nur selbst vertraut, vertraun euch auch die andern Seelen" . . .

Ich habe jetzt bei einem Assistenten des Spitals (Dr. Koch) einen Privatkursus gehabt, in welchem ich einen recht tiefen Blick in die allerschwärzesten Schattenseiten der ärztlichen Praxis getan und mich an die allerscheußlichsten Dinge habe gewöhnen lernen, von denen ich noch vor einem halben Jahre geglaubt, daß ich sie unmöglich nur mitansehen könnte. Anfangs ging es auch gar hart; jetzt treibe ich die Geschichten aber schon beinahe mit demselben ruhigen Blut wie alles andere. Die rein wissenschaftliche Anschauung der Dinge erleichtert einem diese bösen Stellen ungemein und setzt einen über die härtesten Schwierigkeiten hinweg. Nur vor der Chirurgie habe ich noch einen höllischen Respekt, was aber sich auch wohl zum Teil geben wird, wenn ich erst mehr hineingekommen. Bis jetzt habe ich sie noch gar nicht getrieben, und sie mir als das einzige noch übrige bis Berlin ausgespart, wo ich mich durch Langenbecks glänzendes Operationstalent auch an sie einigermaßen zu gewöhnen hoffe. Der Vorteil, den eine solche systematische Gewöhnung an widerliche und abschreckende Sachen und Szenen, vor denen das nichtmedizinische Menschenherz zurückschaudert, für die Stärkung des Charakters und Willens mit sich bringt, ist nicht genug zu schätzen, und ich erinnere mich, in "Wahrheit und Dichtung" gelesen zu haben, daß Goethe in Straßburg ebenfalls Kliniken besuchte, bloß um sich an den deprimierenden Eindruck solcher Schreckensszenen zu gewöhnen und dadurch sein übermäßig reizbares Gemüt abzuhärten, was ihm auch vortrefflich gelang. Ebenso geht es auch mir. Dabei verdanke ich aber die wahrhaft wissenschaftliche Anschauung der Dinge, die mich allein über diese Schwierigkeiten hinweghebt, dem in dieser Beziehung unberechenbar wohltätigen Einflusse Virchows.

Einen sehr fidelen Abend verlebte ich heute vor acht Tagen (Sonntag) mit Beckmann und Strube, wo wir uns trotz aller Differenz der Ansichten doch einmal sehr gründlich und gemütlich aussprachen. Zuletzt kam das Gespräch natürlich auch auf unsere verschiedene Zukunft, die wir uns mit allen bunten Farben jugendlicher Phantasie ausmalten, und wobei wir so lustig wurden, daß Herrn Bundschuhs vortrefflicher Leistenwein uns zu folgender possierlicher Wette verführte: "Am Silvesterabend des Jahres 1866, also just in zehn Jahren, wollten wir drei wieder zusammenkommen, und jeder von dem Kleeblatt, der dann inzwischen eine Ehefrau heimgeführt hätte, sollte jedem der beiden andern zehn Flaschen besten Würzburger Bockbeutels ponieren!" - Das beste dabei war, daß jeder von uns nachher zugestand, im Grunde sei er doch halb und halb überzeugt, daß ihm für seine Person die ihm gesetzte Wette etwas zweifelhaft wäre und er nicht ganz dafür einstehn könne, daß nicht inzwischen der stolze Jünglingsnacken unter das eheliche Joch sich beuge. Ich für meine Person glaubte am sichersten zu sein, da ich hoffte, heute über zehn Jahren eher in dem Palmenschatten am Strande einer Südseeinsel, oder in einem Urwalde Madagaskars, als in der Straße einer ehrlichen, deutschen Universitätsstadt zu lustwandeln . . .

Am 2. Januar wurde die Stiftungsfeier der Universität abgehalten, wobei der neue Rektor, Hofrat Scanzoni, seine Antrittsrede hielt, die außerordentliche Überraschung und Beifall durch ihren rücksichtslosen Freimut hervorgerufen hat. Er behandelte nämlich das Thema über "Das freie Berufungsrecht der Universitäten". Zuerst wies er in einer historischen Einleitung nach, daß die Universitäten von Anfang an nur selbstständig zusammengetreten, vom Staate weder begründete und geordnete, noch bevormundete oder gar beherrschte Gelehrtenschulen gewesen seien. Dann führte er weiter aus, wie eines ihrer ersten und teuersten Rechte sei, ihre Lehrer selbst nach freiem Gutdünken zu berufen und daß ohne dies Recht die Universitäten bald zu knechtischen Erziehungs- und Strafanstalten werden würden, da es vielen Regierungen mehr angelegen sei, das Volk zu verdummen und auf möglichst niederer Bildungsstufe zu erhalten, als es durch Verbreitung der Wissenschaften zu fördern. Daran schloß sich eine ebenso kräftige als energische Polemik gegen das bayrische Ministerium, welches jetzt grade angestrengte Versuche macht, dieses freie Berufungsrecht der Professoren zu vernichten . . .

Das es dem armen Adolf Schubert wieder schlechter geht, tut mir recht sehr leid. Ich wollte ihm zu Weihnachten eigentlich noch ein kleines Büchlein schicken, das für eine Erstarkung und Kräftigung seiner ganzen hypochondrischen und nervösen Geistesrichtung wie ich glaube, den besten Erfolg haben wird. Wenigstens verdanke ich selbst diesem kleinen Buche einen großen Teil des Lebensmutes und der Willensenergie, die ich mir jetzt zu erwerben immer mehr im Begriff bin. Es ist dies die Schrift von Dr. Ernst von Feuchtersleben: "Zur Diätetik der Seele." Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun, wenn Ihr das ganz vortreffliche Büchlein, das mir zur Heilung von Adolfs Zuständen wie geschaffen erscheint, ankaufen und Adolf in meinem Namen geben würdet, mit der dringenden Bitte, es wiederholt und gründlich durchzulesen . . .

In alter treuer Liebe Euer

Ernst

78. Würzburg, 1. .2 1856.

Meine liebe Tante Berta!

Wenn ich so lange, lange nicht an Dich geschrieben habe, so bist Du doch gewiß davon überzeugt, daß ich um so mehr im Geiste bei Dir gewesen und bei allen Freuden und Leiden, die mich in dem verflossenen Jahre, in dem wir voneinander entfernt sind, betroffen haben, an Dich gedacht habe. Bei den köstlichen Genüssen, die mir die herrliche Alpenreise bereitete, auf der ich an Körper und Geist so stark und gesund wurde, habe ich auch Deiner so unendlich oft gedacht und gewünscht, Dir diese edelsten aller Genüsse mitteilen zu können. Nicht minder standest Du aber auch im Geiste vor mir, stärktest und tröstetest mich mit Deinem gewohnten treuen und freundlichen Zuspruch, als ich hier in Würzburg mich allmählich immer mehr und mehr in die Studien- und Berufsverhältnisse schicken mußte, die mir anfangs so sehr zuwider waren und deren Angewöhnung mir so viele und schwere Überwindung kostete. Gott sei Dank ist diese Zeit nun vorüber, und es ist mir durch die Selbstüberwindung, die ich dabei habe lernen müssen, eine ganz andere und neue, eine wahrere und darum bessere Weltanschauung aufgegangen, als ich vorher besaß. Aber wie es ja mit jedem Fortschritt in unserm menschlichen, irdischen Leben geht, bei jedem Schritt vorwärts, bei jeder Stufe, die wir nach vieler Mühe und Anstrengung emporgeklommen sind, öffnet sich uns schon wieder ein neuer Kampfplatz, und ein neues Ziel winkt in der Ferne, das neuen Kampf und neue Kraftanstrengung fordert. So werde auch ich jetzt mehr und mehr davon überzeugt, daß eigentlich diese ganze kurze Lebenspanne nur zum beständigen Kampf und Ringen bestimmt ist, und daß es vergeblich und unrecht sein würde, hier nach Frieden und Ruhe zu suchen. Mit jeder gewonnenen Überwindung wird aber der Kampf auch schwerer; denn nur so kann die Kraft gestählt und fortdauernd gemehrt werden. So sehe ich auch jetzt, nachdem ich endlich nach langem, vieljährigem Tappen und Umherirren im Dunkeln zu einer neuen Stufe des Lichts und der Erkenntnis emporgeklommen bin, daß schon wieder eine Menge neuer und vorher ungekannter Irrungen und Verführungen des in die Welt hinaustretenden Jünglings harren und Vorsicht und Überlegung fordern. Insbesondere ist es jetzt ein Punkt, der mir jetzt viel zu schaffen macht, und je weiter ich nach Licht und Wahrheit darin suche, mir nur um so dunkler und verwirrender erscheint. Es ist dies das Verhältnis unserer modernen Naturwissenschaft, deren eifrigster Jünger mich zu nennen doch mein größter Stolz ist, zum Christentum einerseits und zum Materialismus andererseits. Je weiter die Forschung vordringt, je klarer und einfacher sich die allgemeinen Naturgesetze gestalten, und immer mehr auf rein mechanische Verhältnisse und endlich zuletzt auf mathematische Formeln reduzieren lassen (was doch als das höchste Ziel auch in den organischen Naturwissenschaften angesehen wird), um so näher liegt der Gedanke und um so größer wird die Versuchung, auch den letzten Grund aller Dinge in einem solchen mechanischen, blinden, unbewußten, ausnahmslosen Naturgesetz zu suchen und alle die Folgerungen daraus zu ziehen, welche der moderne Materialismus daraus abgeleitet hat. Der konsequente und rationelle, Schritt für Schritt auf mathematisch gesicherter Bahn vorwärts schreitende Naturforscher gerät da in der Tat zuletzt in eine Enge und Klemme, aus der er, folgt er allein dem Zeugnis der Vernunft und seinen fünf Sinnen, vergeblich nach einem Ausweg sucht, und von der der Laie, dem das Detail und damit auch der Geist der Naturwissenschaft fremd ist, in der Tat keine Ahnung hat. Und sehen wir nicht täglich, daß die größten Heroen und Koryphäen unserer heutigen Naturwissenschaft in diesem Labyrinth sich verirren, in desem Kampf unterliegen und schließlich zu dem reinsten, offensten Materialismus als einzigem Rettungsmittel ihre Zuflucht nehmen? Der Vogt-Wagnersche Streit, über den im Laufe von kaum einem Jahre schon fast eine Bibliothek zusammengeschrieben ist, gibt es redendes Zeugnis davon! Und doch wie leer, wie oberflächlich, wie nüchtern ist diese auf die Spitze getriebene rationelle Anschauung, und wie unbefriedigt und trostlos läßt er die nach Wahrheit und Klarheit ringende Seele. Die Leute kommen mit allen ihrem Scharfsinn und ihrer Spitzfindigkeit doch immer zuletzt auf einen Punkt an, auf dem sie vergeblich nach einem Ausweg suchen und sich gestehen müssen, daß sie mit ihrem beschränkten Menschenverstand da nicht weiter können. Es ist dies der Punkt, wo das Wissen aufhört und wo der Glaube, den sie so gerne ganz leugnen und fortschaffen möchten, anfängt. Und doch ist dieser Glaube, dem im Christentum seinen vollendesten und wahrsten Ausdruck gefunden hat, der einzige Rettungsanker für die vergebens nach anderem Trost und anderer Befriediung sich umsehende Seele. Auch ich kann nur in diesem Christenglauben, der so vielen und so bedeutenden Geistern nur als eine lächerliche Torheit gilt, Trost und Frieden finden, indem ich dieses Glaubensleben als eine Sphäre zulasse, die von dem auf das Zeugnis unserer fünf Sinne gegründeten Wissens- und Verstandeslebens ganz verschieden, aber neben ihm nicht nur möglich, sondern auch nothwendig, ebenso berechtigt und noch unendlich wichtiger ist . . .

Dein treuer Neffe Ernst H.

79. Würzburg, 2. 2. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Die Karnevalsfreuden, die in der hiesigen Bevölkerung immer eine so lebhafte und warme Aufnahme finden und mit so viel Glanz und Üppigkeit ausgeführt werden, sind an mir spurlos vorübergegangen. Wenn ich sonst Lust gehabt hätte, hätte ich womöglich jeden Tag auf einen Ball gehen können; allein die beiden ersten Harmoniebälle, die ich nach Neujahr mitmachte, haben mir allen Appetit zu weiteren Tanzvergnügungen gründlich benommen. Freilich mag das auch zum Teil an meiner Auffassungsweise der hiesigen Bälle liegen, welche ich wesentlich als gymnastische Übungen auffasse, daher ich denn auch jedem Tanz, der auf der Tanzkarte steht, pflichteifrigst mittanze, ohne doch während der ganzen Zeit meinem Körper irgendeine Erquckung zu gönnen, wobei man ganz vortrefflich mitten im Überfluß fasten lernt. Die Würzburger Damen sind aber in der Tat auch derart beschaffen, daß man nicht wohl anders die Sache ansehen kann. Ich wenigstens habe mich vergeblich bemüht, mit irgendeiner ein vernünftiges Gespräch anzufangen (was ich mir also auch ganz auf Berlin versparen muß!), und ihnen Schmeicheleien über ihre Figuren, Haare, Augen, Liebenswürdigkeit usw. zu sagen (womit sich die andern Tänzer unterhalten), dazu verspüre ich nicht die geringste Lust, sehe auch gar keine Indikation dafür. Also Laß ich sie laufen! . . .

Im Spital hat es jetzt weniger interessante Fälle gegen als vor Weihnachten, wo es wirklich davon wimmelte; jedoch dafür kommen jetzt recht merkwürdige Sektionen vor, auf die ich jetzt ganz erpicht bin. Die Demonstrationen und Vorträge Virchows, die die Sektionen begleiten und ihnen folgen, sind ganz köstlich, und man hört sonst so etwas nirgendwo. Wenn ich nicht so warme Liebe zur Zoologie und Botanik hätte, denen ich stets treu bleibe, so könnte ich vor allem die pathologische Anatomie, besonders aber die Histologie erwählen . . .

Euer alter Ernst.

80. Würzburg, 17. 2. 1856.

Liebste Eltern!

Vor allem den herzlichsten, innigsten Dank für Eure unschätzbare elterliche Liebe, welche ihr mir an meinem Geburtstage wieder durch so viele Zeichen und Worte der Liebe in so herzlicher und treuer Weise zu erkennen gegeben habt. Es ist mein sehnlichster Wunsch und wurde auch gestern von mir wieder zum festesten Vorsatz bekräftigt, mich dieser Eurer köstlichen Elternliebe, welche mir doch immer das werteste und zu jeder Zeit, unter allen Verhältnissen, das trostreichste und erfreuendste Gut ist, immer werter und würdiger zu machen und Euch, soviel in meinen Kräften steht, Eure Güte und Treue durch ein kräftiges, beharrliches Streben nach dem Wahren und Guten möglichst dankbar zu vergelten . . .

Wie unendlichen Dank bin ich Dir jetzt schuldig, mein gütiger, liebevoller Vater, daß Du mich wider meinen Willen gezwungen hast, das Studium der Medizin ex fundamento und bis zu Ende fortzutreiben. Welche außerordentlichen Vorteile habe ich dadurch errungen. Ich glaube, es gibt in der Tat keine bessere und gründlichere Schule, um alle die zahllosen angeerbten und anerzogenen Vorurteile abzuschaffen und eine wahre und nackte Anschauung der Dinge, wie sie sich nun einmal im realen Leben gestalten, gewinnen zu lernen, als das Studium der Medizin, die Anthropologie im weitesten Sinne des Worts, in leiblicher und geistiger Beziehung ist. Wie hat mir in dieser Beziehung die poliklinische Praxis, so unbedeutend sie in wissenschaftlicher Beziehung an sich war, die Augen geöffnet! Und welchen ruhigen Blick gewährt mir diese Erkenntnis jetzt für die Zukunft! Wenngleich das naturwissenschaftliche, theoretische Studium des normalen Lebens, der pflanzlichen und tierischen Wunderwelt, immer meine Lieblingsbeschäftigung und das Hauptziel meines Studiums sein wird, so könnte ich jetzt mich doch ohne viele Umstände ganz gut dareinfinden, auch als praktischer Arzt zu fungieren, was ich noch vor einem Jahre für rein unmöglich gehalten hätte. Und nach dem Lebensplan, wie er jetzt vor mir liegt, werde ich mich wohl bald genug dareinfinden müssen. Ich möchte fast sagen, daß ich durch das Studium der Krankheit erst recht gesund geworden wäre. Wenigstens ist die Verfassung, in der ich mich jetzt, und zwar konstant, befinde, ein entschiedener Zustand von (freilich relativer!) Gesundheit, gegenüber jenen hysterisch- sentimentalen Simpeleien, durch die ich in den sieben früheren Semestern mir und andern das Leben verbitterte. Ich glaube, dieser glückliche Fortschritt zeigt sich schon allein darin, daß ich seit Antritt meiner herrlichen Alpenreise auch nicht einmal wieder einen sogenannten "moralischen Katzenjammer" gehabt habe, welcher vorher, wie Ihr wißt, zu den konstanten und notwendigen Ereignissen fast jeder Woche bei mir gehörte. Und frage ich, was denn nun eigentlich diese glückliche Sinnesänderung hervorgerufen, so komme ich immer wieder auf die Medizin zurück, in deren Studium mich dieses Jahr bis über die Ohren hineingestürzt hat. Vor allem ist es aber wieder der geniale Virchow, dem ich den größten Dank schuldig bin; er hat durch seine, in der Tat einzig wahre und richtige Methode, mir einen Geschmack an der Medizin, d. h. eben am Studium des kranken Menschen, abgewonnen, die ohne diese seine naturwissenschaftliche Behandlung in Wahrheit derselbe alte Rumpelkasten von unbegründeten Theorien und rohem Empirismus geblieben wäre, der sie so lange bis jetzt war. Ich kann Euch gar nicht sagen, welchen außerordentlichen Aufschwung, welchen hohen Grad nicht nur speziell medizinischer Bildung ich Virchow verdanke. Wäret Ihr jetzt nicht in Berlin, so würde ich mich keinen Augenblick bedenken, noch ein Jahr hierzubleiben, indem nämlich jetzt grad die Assistentenstelle bei Virchow frei wird. Ich würde sie gewiß ohne Mühe erhalten und könnte dann ganz ex fufndamento mich mit allen Einzelheiten der speziellen pathologischen Anatomie vertraut machen, über die ich so doch nur einen Überblick gewonnen, und zu der ich den Eingang gefunden habe. Doch wer weiß, wozu es gut ist, daß ich mich jetzt einmal wieder zu andern Gegenständen hinwende und in einer andern Sphäre bewegen lerne . . .

20. 2. 1856.

. . . In meiner poliklinischen Praxis habe ich jetzt die remarkabelste alte alte Hexe bekommen, die man sich denken kann. Ich dachte wirklich, ich fände die "Alte mit der Spindel" aus dem Märchen "Dornröschen". Über verschiedene Leitern und durch einige alte Gänge mußte ich auf einer alten verfallenen, fast im Zusammensturz begriffenen Treppe unter das niedere Dach eines alten turmartigen Wachthauses hinaufklettern, wo ich in einem ganz elenden, dicht von Spinnweben umschleierten Kämmerchen, das wohl jahrelang nicht gereinigt sein mochte, dessen Fensterluken mit Papier verklebt waren, vor einem Spinnrade ein uraltes, eisgraues Weib sitzen sah, mit quittengelbem Gesicht und bis zum Skelett ausgedörrt. Obwohl schon ziemlich an dergleichen Schauerszenen gewöhnt, fuhr mir doch unwillkürlich eine gelinde Gänsehaut über den Leib, und es dauerte einige Minuten, ehe ich die übliche Doktorkonversation mit ihr führen konnte, wodurch ich erfuhr, daß sie schon sieben Jahre, von Gicht und Alter lahm, so hier sitze und ganz allein sei. Nur mittag und abends bringe ihr eine Nichte das Essen herauf! -

Auch sonst bin ich jetzt mit alten Weibern gesegnet. Eines schönes Tages bekam ich zwei Stück auf einmal, eine immer häßlicher als die andere. Doch hatte die eine von ihnen eine recht hübsche Pflegetochter.

Vorige Woche bekam ich im Mainviertel (drüben über dem Main, dem wahren Sitz des Elends und Jammers) in einem Loche ein Nest von einem halben Dutzend Pflegekindern, die elendesten Würmer, die man sich denken kann, meist rachitisch oder skrofulös, mit Augenleiden usw. Im ganzen geht mir's doch mit der Poliklinik sonderbar. Bis jetzt ist mir noch nicht ein einziger Patient (trotzdem ich ein paar recht schwere Fälle gehabt) gestorben, während einem Bekannten unter 13 Patienten 10 gestorben sind! Meine Kommilitonen beneiden mich darum, während es mir sehr leid tut, da ich auf diese Weise zu gar keiner Sektion komme, welche mir bei allen Kranken das Wichtigste, ja das einzig Interessante ist. Um mich einigermaßen für dies Pech, das die andern Glück nennen, zu entschädigen, hat mich Professor Rinecker am Sonntag ganz allein eine Sektion von A bis Z aus seiner Privatpraxis (ein fünfjähriges Mädchen mit Meningitis tuberculosa, sehr schöner und ausgeprägter Fall!) machen lassen, bei welcher ich denn das bei Virchow Erlernte so trefflich verwertete, daß mich der Herr Professor wiederholt sehr schmeichelhaft, sogar gegen Virchow, lobte. Ich bin aber in der Tat jetzt auf nichts so wie auf Sektionen versessen. Ich laufe gleich ein paar Stunden um eine einzige, just so wie früher um eine seltene Pflanze! - Tempora mutantur et nos mutamur in illis! - Die Aussicht, ganz selbstständig recht viel Sektionen zu machen, ist auch für ich das einzig Anziehende, was mich zur ärztlichen Praxis bringen könnte. Auch eine Prosektur denke ich mir jetzt ganz herrlich, z. B. die an der Charité, von der heute das Gerücht (?) ging, daß sie Virchow mit einer neu zu errichtenden Professur für pathologische Anatomie übertragen werden sollte. Das wäre ganz herrlich . . .

Einen Hauptspaß, der mir jetzt passiert ist, muß ich Euch aber doch noch mitteilen, obwohl er noch nicht zu Ende ist. -

Anfangs dieses Semesters machte mir Virchow den ehrenvollen Antrag, auserwählte Vorträge aus seinem demonstrativen Kursus (der pathologischen Anatomie und Histologie), besonders über seltene Fälle und weniger bekannte Gegenstände, auszuarbeiten und nach Wien an die "Wiener Medizinische Wochenschrift" zu schicken, deren Redakteur Dr. Wittelshoefer ihn um öftere Einsendungen ersucht habe. Obgleich ich verschiedene Einwendungen (über Nichtfähigkeit, Zeitmangel usw.) dagegen machte und dadurch ihm auszuweichen suchte, drang er doch so in mich, daß ich mich ernstlich entschloß, die Sache zu versuchen. Es kamen auch bald zwei sehr merkwürdige Fälle von Typhus (Nervenfieber), welche sich vortrefflich dazu eigneten und bei deren Gelegenheit Virchow einen klassischen Vortrag über "die Beziehungen des Typhus zur Tuberkulose" hielt. Diesen arbeitete ich aus und schickte ihn nach Wien. Er erschien in den beiden ersten Nummern dieses Jahrgangs (1856) der "Wiener Medizinischen Wochenschrift". Darauf erscheint - doch ich will hierüber meinen Redakteur selber reden lassen, der in einer Anmerkung zu dem einige Wochen später in Nr. 7 erschienenen zweiten Aufsatz "über Fibroid des Uterus" folgende Anmerkung macht: - "Wir müssen wiederholt bemerken, daß die unter obiger Aufschrift 'Aus dem pathologisch-anatomischen Kurse des Professor Virchow in Würzburg' erscheinenden Artikel mit Zustimmung und unter Überwachung des Herrn Professor Virchow gearbeitet werden, und daß sie teils selten interessante Fälle, teils solche Kapitel enthalten, die der berühmte Professor nicht veröffentlichte. - Wir haben eine gleiche Erklärung bereits vor vierzehn Tagen in der Voraussicht abgegeben, daß die niedrige Gehässigkeit der Tschechen-Clique der sogenannten "Wiener Schule" mit ihrem Schweifanhange gegen uns mit der bekannten ordinären Verdächtigung hervortreten werden; - unsere Erklärung wurde nicht beachtet. Herr Heschl in Krakau, als Famulus der österreichischen Tschechen-Clique, übernahm es, in einem mit ungewohntem Zynismus ausgestatteten Schreiben an Herrn Haeckel, der in unseren Aufsätzen ausgesprochenen Ansicht Virchows in der "Zeitschrift für praktische Heilkunde" entgegen zu treten. Über den fachlichen Inhalt jenes Artikels abzuurteilen kömmt uns nicht zu, der Angegriffene selbst wird wissen, sein Recht zu wahren. Die perfide Verdächtigung aber, die dabei uns treffen sollte, müssen wir selbst beleuchten usw. usw." - Dies ist der kurze Sachverhalt! Virchow hat nun inzwischen eine Entgegnung gegen meine Angreifer geschrieben, welche wahrscheinlich in der nächsten Nummer zugleich mit meinem dritten Aufsatz über "Ovarien-Zystoide" erscheinen wird. Außerdem hat er es mir überlassen, mich noch speziell selbst zu verteidigen, wozu ich natürlich nicht die mindeste Lust habe, da ich doch noch ein gar zu junger Rekrut bin! Wie süß aber, für Virchow angegriffen zu werden!! . . .

Nun also seid zum letztenmal von Würzburg aus begrüßt, liebste Eltern! Wie ungeheuer freue ich mich, nun schon so bald Euch wiederzusehen. Ich kann wirklich die Zeit kaum erwarten! Noch nie meine ich, mich so ungeheuer auf die Heimreise gefreut zu haben. -

Für die schönen Geburtstagsgeschenke habt nochmals den allerherzlichsten Dank. Ganz besonders habt Ihr mich durch Virchows gesammelte Abhandlungen beglückt, die ich jetzt mit wahrem Entzücken lese. So ist z. B. gleich die erste, "Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin", ganz köstlich, und ich habe mich gar nicht satt daran gelesen . . .

Nun also das letzte, frohe Ade! Heute über drei Wochen bin ich bei Euch! Hurra!!! Euer glücklicher, alter, 22jähriger Junge

Ernst H.

81. Würzburg, Mittwoch, 23. 4. 1856.

Meine lieben Eltern!

"Alea jacta est - der Rubikon ist überschritten - ich habe soeben unterschrieben. - . . . " Mit diesen Worten, mit denen mein verehrter Lehrer und jetziger Prinzipal Virchow mich auf dem Anhaltischen Bahnhof überraschte, um mir am Samstag seine definitive Annahme des Berliner Rufs anzuzeigen; mit denselben Worten stelle ich mich jetzt als neugebackenen Assistenten desselben vor, als "Königlich bayrischer Assistent an der pathologisch-anatomischen Anstalt zu Würzburg", mit 150 Gulden jährlichem Gehalt, welches jedoch jedenfalls nur halbjährlich ausfallen wird! So hätte sich mir also eine Reihe hoffnungsvoller neuer Aussichten eröffnet. Virchow geht sicher im Herbst nach Berlin, und ich bin jetzt hier für diesen Sommer noch sein Assistent geworden, um es dann hoffentlich dort noch einige Zeit zu bleiben. Nun können wir uns also recht für den Winter freuen! Das vielgefürchtete Examen ging heute früh sehr glücklich vor sich. Der öffentliche Termin dazu war eigentlich zu morgen (Donnerstag) anberaumt. Allein da Virchow mir gestern gesagt hatte, daß es bei Anwesenheit einer Leiche auch schon heute vor sich gehen könne, so war ich heute früh, als ich um 9 Uhr die Ankunft eines Kadavers auf der Anatomie erfuhr, nicht faul und lief zugleich zu Virchow. Dort traf ich zufällig einen Rivalen, der seine Konkurrenz heute morgen aufgegeben hatte und grade Virchow seinen Rücktritt anzeigte. Ich war also von einer großen Last befreit! Von Virchow ging ich sogleich zum Dekan, Professor Narr, welchen ich eine Stunde lang vergeblich überall suchte. Endlich um 10 Uhr kam er nach Haus und machte sogleich einen öffentlichen Anschlag im Juliushospital, wonach die Prüfung um 1/2 11 Uhr stattfinden sollte (was den großen Vorteil hatte, daß nur sehr wenige Studenten den Anschlag lesen und mich mit ihrer Gegenwart bei der Prüfung beehren konnten). Um 11 Uhr fand dieselbe also in Gegenwart der Professoren Virchow, Kölliker und Narr (letzterer als Dekan) statt, und um 1 Uhr war ich Assistent! Die Sektion war interessant, aber nicht schwierig (hämorrhagische Pleuritis der linken Seite, chronische Bronchitis der rechten Seite, vollständige Verwachsung des Herzbeutels mit den Lungen, dem Zwerchfell und dem Herzen, chronische Endokarditis). Dr. Grohé, der bisherige Assistent, schrieb das Protokoll, das ich diktierte. Nachdem ich die Sektion gemacht, ließ mich Virchow von drei gegebenen Thematen eines durch das Los ziehen, um ex tempore darüber einen Vortrag zu halten. Das Glück wies mir zu: "Histologie des Tuberkels und nahe verwandter Gebilde". Da ich mich ganz speziell damit beschäftigt (bei Lieferung des Aufsatzes in die "Wiener Medizinische Wochenschrift"), so war natürlich die ganze Geschichte eine Spielerei. Ich benutzte nicht einmal die angebotene Bedenkzeit, sondern fing gleich ganz ex tempore den Vortrag an, der kaum der Rede wert war. Morgen werde ich nun meine Funktion antreten und das pathologisch-anatomische Museum übernehmen.   Hurra!!! - . . .

82. Würzburg, Donnerstag, 8. 5. 1856.

Liebste Eltern!

Heute wird's nun schon 14 Tage, daß ich mein neues Amt angetreten habe und also hohe Zeit, daß ich Euch etwas darüber berichte, zumal ich mich nun schon so ziemlich in die neuen Verhältnisse eingelebt und meine Tagesordnung festgesetzt habe. Die ersten acht Tage fielen mir schwerer, als ich selbst gefürchtet, und die höchst jämmerliche, mut- und trostlose Stimmung, in der ich bisher noch jedes Semester angetreten (glücklicherweise aber auch noch keines in derselben Weise geendet habe), fehlte auch diesmal nicht. Freilich waren aber diesmal auch hinreichende Gründe dazu da. Der Kontrast zwischen dem gottvollen Leben der letzten Wochen in Berlin, wo ich im Kreise der vielen Lieben nicht minder als in der Beschäftigung mit meinen Pflanzen und Tieren höchst glücklich war, und zwischen dem neuen Leben, was ich jetzt hier, ohne alle diese Freuden und Genüsse, zu beginnen hatte, war zu groß, als daß nicht der arge Konflikt zwischen Wunsch und Pflicht, zwischen Gemüt und Verstand aufs neue wieder zum Ausbruch gekommen wäre. Ganz besonders war's der Gedanke an meine verlassene Zoologie, welcher mir anfangs Tag und Nacht keine Ruhe ließ. Wie das Bild einer treulos verlassenen Geliebten standen mir die höchst genußreichen Stunden, welche ich dieser meiner unvergeßlichen Lieblingswissenschaft verdanke, beständig vor meiner Seele, und es kam mir fast wie Verrat an mir selbst, an meinem besten Wollen und Streben vor, daß ich mich jetzt so ganz von ihr losgesagt und mich einem ganz andern, mir von Haus aus viel fremdern Felde der Naturforschung zugewandt. Ich kann Euch jetzt gar nicht sagen, wie entsetzlich quälend mir dieser Gedanke war. Die ganze jetzige Stellung, die ich jetzt mit so leichter Mühe erobert, und die nach Ende des vorigen Semesters mir des tüchtigsten Strebens wert zu sein schien, kam mir jetzt, wo ich sie wirklich besaß, so unbedeutend und undankbar, so niedrig und verächtlich vor, daß ich mich selbst nicht begriff, wie ich sie dem göttlichen Genuß, diesen Sommer bei Johannes Müller zu arbeiten, hatte vorziehen können. Trübe und düster wanderte ich durch die kalten Räume des pathologisch-anatomischen Museums und dachte sehnsüchtig an die vergleichend-anatomischen Schätze im andern Flügel des Anatomiegebäudes, über die jetzt Beckmann absoluter Herrscher ist. Sonderbarerweise beneidet mich dieser ebenso um meine pathologischen Studien und Pflichten, wie ich ihn um seine zoologischen, und es war ordentlich komisch, abends uns beide gegenseitig unser Mißgeschick beklagen und einer den andern beneiden zu hören. Es war just wie das Verhältnis der beiden durch Puck unrichtig verliebten Paare im "Sommernachtstraum"! Gebe nun Gott, daß schließlich Oberon erscheint, welcher jeden dem Ziele seiner wahren Neigung in die Arme führt! - Zu diesem inneren Elend kam nun noch das mehr äußerliche Mißbehaben, welches mir die Unbekanntschaft mit all den Pflichten und Obliegenheiten meines Amts verursachte, und das Hineinfinden in die überwältigenden Massen Materials, welche mir vom Donnerstag, 24. 4., bis Samstag, 26. 4. feierlichst übergeben wurden. Kurz, ich befand mich in dieser ersten Woche so höchst ungemütlich und trostlos, daß ich Euch diesen jämmerlichen Zustand jetzt gar nicht mehr zu schildern der Mühe wert finden würde, wenn ich nicht wüßte, daß Ihr auch in seinen schwachen und ungenügenden Stunden das Treiben und Leben Eures Jungen mit der liebevollsten Teilnahme verfolgtet. Mit Montag, den 28. 4., also nach Verfluß der ersten Woche, begann endlich, wie mit einem Schlage, die Wendung meiner Gedanken zu Mut und Hoffnung, Tatkraft und Arbeitslust, in welchem befriedigenden Zustand ich dieselben auch dies ganze Semester ohne Wechsel konstant zu erhalten willens bin. Der Hinblick auf die köstliche Zeit, welche mir in Berlin in den nächsten Semestern noch bevorsteht, und insbesondere die feste Hoffnung, endlich doch noch eimal meiner Liebsten, der Zoologie, mich ganz hingeben zu können, gibt mir Mut und Kraft genug, die außerordentlich bildende, wenn auch nicht angenehme Stellung, die ich jetzt doch nur als Durchgangspunkt bekleide, nach Kräften zu nutzen und zu meiner möglichsten besten Ausbildung zu verwerten. Was mich am Anfang der vorigen Woche so plötzlich aus meinen selbstquälerischen Grillen und Melancholien herausriß, welche namentlich dadurch sehr genährt wurden, daß ich nicht recht wußte, was ich tun sollte, war der einfache Umstand, daß ich letzteres nun mit einemmal vollkommen inne wurde, und zwar so viel Arbeit bekam, daß, wenn die Geschäfte so fortgehen, ich nicht viel Zeit gewinnen werde, eine Dissertation neben meinen amtlichen Arbeiten zustande zu bringen. Freilich wird die Assistentenarbeit nicht immer so ununterbrochen alle Kräfte in Anspruch nehmen wie in den letzten Tagen. Oft kommen wochenlang kaum ein paar Cadavera zur Sektion, während jetzt bei dem plötzlichen Eintritt des außerordentlich kalten und feuchten, unangenehmen Wetters das noch bis heute fortdauert, sämtliche Patienten, welche in den vorhergehenden schönen Apriltagen ernstlicher erkrankt waren, auf einmal wie die Fliegen wegstarben, und so die Anatomie mit Material so überfüllten, daß wir es kaum bewältigen konnten. Für den Anfang kann mir gar nichts lieber sein als solche fast übermäßige Beschäftigung. Man behält da gar keinen freien Augenblick, unnützen Egoismus-Gedanken nachzuhängen und wird so von einer Arbeit zu andern gejagt, daß alle Kräfte und Sinne sich auf diese notwendig konzentrieren müssen. Das ist mir aber in so einer Stimmung und Stellung, wie meine jetzige, grade recht. Wenn ich so recht deutlich und klar weiß, was ich zu tun habe, und dann den ganzen Tag ununterbrochen von einem vollbrachten Werk zum andern rast- und ruhelos eilen kann, dann bin ich den Abend ganz glücklich und denke mit Freuden daran, daß es doch kein verlorener Tag war. Zugleich kommt man auf diese Weise so gründlich und vollständig und sogleich so rasch und bequem in die ganze neue Stellung hinein, daß man die Schwierigkeiten derselben gar nicht merkt. So geht es auch mir, dank der glücklichen Elastizität der menschlichen Natur. Ich bin jetzt in meinem neuen Wirkungskreis schon so heimisch, als hätte ich ein halbes Jahr darin gearbeitet, und bin relativ im ganzen damit zufrieden. Ich kann darin doch noch weit mehr lernen, als ich vorher gedacht, wenngleich auch manche Unannehmlichkeiten damit verbunden sind, die ich mir nicht so groß vorgestellt. Doch ist ja das ganze noch zu neu, um vollständig darüber aburteilen zu können, und muß ich daher eine vollständige Schilderung einem späteren Briefe vorbehalten . . .

Um 5 Uhr stehe ich regelmäßig auf, trinke langsam meinen sogenannten Kaffee (ein Dekokt von verschiedenen gedörrten Wurzeln usw.), wobei ich normale Anatomie aus meinem herrlichen Frorieschen Atlas repetiere, und bin bereits um 6 Uhr auf der Anatomie, welche nun, mit Ausnahme der Mittagsstunden von 2-3 Uhr, mein beständiger Aufenthalt bis abends 7 Uhr ist. Dabei halte ich mich meistens in Virchows Arbeitszimmer auf, einem kleinen, einfenstrigen Stübchen, in welchem es so kunterbunt mystisch und genial liederlich aussieht, daß eine Hexenküche oder, besser, das Laboratorium eines mittelalterlichen Alchimisten auch nur eine schwache Vorstellung davon geben kann . . .

Wie man sich doch ändern kann! Es ist noch nicht ein Jahr her, daß ich bei dem bloßen Gedanken an eine chirurgische Operation hätte aus der Haut fahren mögen, und jetzt mache ich die Sachen selbst schon so kalt und ruhig, als zergliedere ich einen Frosch. Was nicht die Gewohnheit tut! Ich fange allmählich an zu glauben, daß der Mensch mit ernstem Willen sich zu allem möglichen heranbilden kann . . .

Von 6-7 Uhr liest dreimal wöchentlich mein lieber, guter Beckmann sein erstes Kolleg, ein Repetitorium der Zoologie, welches ich ebenfalls höre, obwohl ich, in allem andern ihm weit nachstehend, doch grade hierin doch ebensoviel los habe, wie er selbst. Trotzdem macht es mir sehr viel Freude. Gleich am Anfang machte sich Beckmanns Vortrag, wie ich erwartet hatte, sehr gut, und ich glaube gewiß, daß er als Dozent einmal großes Glück machen wird. Im übrigen stehe ich mich jetzt mit Beckmann so gut, als ich nur wünschen kann. Die sehr störenden fremden Elemente, welche sich vorigen Winter in unsern Verkehr mischten, sind jetzt glücklicherweise fort, und so komme ich mit ihm allein jetzt ganz vortrefflich aus. Beckmanns außerordentliche persönliche Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit, seine reichen naturwissenschaftlichen und allgemeinen Kenntnisse machen mir seinen Umgang äußerst angenehm, und er scheint ebenfalls (im Hinblick auf meine ernsten Menschlichkeitsbestrebungen) viel zufriedener mit mir zu sein . . .

Das Kitzlichste und Schwierigste meiner jetzigen Stellung ist aber nun das Verhältnis zu meinem Chef, von dem ich Euch jedoch erst später, wenn ich selbst erst mehr hineingekommen bin, werde erzählen können. Virchow ist bis jetzt im ganzen sehr nett und freundlich zu mir gewesen. Doch ist er viel zu verschlossen und vorsichtig, als daß ich daraus schließen könnte, daß er mit mir zufrieden wäre. Anfangs war dies offenbar nicht der Fall. Mein ganzes Wesen, meine ganze Art, die Dinge zu behandeln, ist von der seinen zu verschieden, als daß er sie billigen könnte. Von der göttlichen Ruhe, Kälte und Konstanz, mit der er, immer sich gleich bleibend, alle Dinge höchst objektiv und klar auffaßt, ist mir leider von der Natur nicht die Spur verliehen, und meine Hast, Hitze und Unruhe ist ihm daher nicht sehr angenehm. Wie oft habe ich in den ersten Tagen, bei Übergabe der Sammlungen usw., von meinem Vorgänger Dr. Grohé, der sich vollkommen in Virchow zu finden wußte und auch eine viel verwandtere Natur war, die Worte hören müssen: "Nein, das geht hier nicht so, lieder Haeckel, nur ruhig, kalt, trocken! Was hilft die Hast und Hitze? Nur recht langsam und kalt, dann geht alles viel besser!" -

Nun ich werde mich wohl schon etwas daran gewöhnen müssen, und es wird mir recht heilsam sein, wenn ich von dieser Kälte und Ruhe mir recht viel aneigne. Jedenfalls habe ich die beste Gelegenheit dazu, da ich von früh 10 Uhr, wo Virchow auf die Anatomie kommt, bis abends 7 oder 8 Uhr fast beständig um ihn bin. Dieser beständige nahe Umgang mit einem solchen Mann, wie Virchow, wird überhaupt die lohnendste und nutzbringendste Seite meiner Assistentenschaft sein. Das ist wirklich höchst interessant und lehrreich, so den ganzen Tag ein solches enormes Ingenium auf allen seinen Fährten zu verfolgen und zu sehen, wie er alle Sachen anfängt, durchdringt und kombiniert, mit einem Wort, ihn arbeiten und schaffen zu sehen. -

Freilich fühle ich neben einem solchen Riesengeist erst recht, was für elendige Würmer ich und die meisten meiner Kommilitonen eigentlich sind und man möchte da wirklich ganz an eigner Leistungsfähigkeit verzweifeln. Vorläufig denke ich aber alle Selbstgedanken einmal gründlich aufzustecken und meinem außerordentlichen Vorbilde nachzustreben und mich auszubilden, so gut es gehen will. Eine etwas unangenehme Schiefheit der Stellung zu Virchow bringt der frühere Assistent, Dr. Grohé, hinein, welcher außerordentlich gefällig, dienstfertig und aufmerksam ist und Virchow in dieser Beziehung sehr verwöhnt hat. Da fällt es denn mir, der von Natur nichts davon ist, doppelt schwer, mir Virchows Zufriedenheit zu erwerben. Doch werde ich mein möglichstes tun, auch solche nahe, persönliche Dienstleistungen mich zu finden, zumal ich ja doch diesen Sommer einmal ganz diesem Amte gewidmet habe. Etwas andres für mich zu arbeiten, bleibt mir ohnehin keine Zeit, und übrigens hat es auch sehr viel Angenehmes, sich so eine Zeitlang einmal ausschließlich mit einem Zweige zu beschäftigen, ohne von den übrigen distrahiert zu werden. -

Mein Verhältnis zu den übrigen Professoren ist natürlich angenehm, ebenso zu den Studenten, welche mir mit großem Respekte begegnen, der anfangs meiner Eitelkeit nicht wenig schmeichelte, an den ich aber jetzt schon ganz gewöhnt bin . . .

Herzlichste Grüße! Euer Ernst.

83. Würzburg, 20. 5. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Am Pfingstsonntag früh war ich wieder einmal in der Kirche, zum erstenmal in diesem Semester und wahrscheinlich auch zum letztenmal. Denn für gewöhnlich habe ich Sonntag (wo Virchow jetzt immer seine Familie in ihrer Sommerwohnung in Veitshöchheim besuchen wird) ebenso zu tun wie an den andern Tagen, und zweitens muß ich auch gestehen, daß die Leistungen der hiesigen Prediger für mich nichts weniger als befriedigend sind. Abgesehen davon, daß der hiesige Gottesdienst schon sehr in das Katholische, das mir womöglich noch mehr als Dir, liebste Mutter, verhaßt ist, hinüberspielt, muß mir auch der dogmatisch-orthodoxe Standpunkt, den man hier durchweg einnimmt und mit dem man unserer auf Tatsachen gegründeten naturwissenschaftlichen Überzeugung ins Gesicht schlägt, notwendig nicht konvenieren und ein christlicher Rationalismus, wie ihn Sydow in seinen trefflichen Predigten, oder ein ethischer Humanismus, wie ihn Weiße (der Leipziger Philosoph) in seinen Aufsätzen ausspricht, oder vielmehr beides zusammen sind für mein jetziges sittlich-religiöses Bewußtsein und Bedürfnis die einzig zutreffenden Standpunkte. Dabei bin ich aber immer noch der Meinung, daß schließlich jeder nach seiner individuellen Eigentümlichkeit sich selbst seine eigene Religion schaffen kann und muß, und daß Schillers Wort: "In seinen Göttern malet sich der Mensch!" in dieser Beziehung gewiß sehr wahr ist. Ich werde um so mehr zu dieser freieren und selbstständigeren Auffassung gedrängt, je auffallender und widerwärtiger mir hier jetzt in diesen Pfingsttagen und der darauf folgenden Festzeit das abergläubische Formenwesen und der ganz unchristliche Bilderdienst, die Pfaffenherrschaft und der Marienkultus des Katholizismus entgegentritt, den ich in seinem widerwärtigsten Extrem freilich schon vorigen Herbst in Tirol und Oberitalien hatte kennenlernen. Möge er immer mehr durch Aufklärung und wahre Bildung verdrängt werden, zu deren Verbreitung wir Naturforscher ja so vorzugsweise befähigt sind . . .

Am Pfingstmontag war ganz leidliches Wetter, so daß wir einen Extrazug nach Veitshöchheim benutzten, woselbst in dem großen, altfranzösisch ausstaffierten und verschnittenen Park ein echt bayrisches (d. h. Bier-) Volksfest arrangiert war. Da mir aber das eine so verhaßt ist wie das andere, das bayrische Biervolksleben womöglich noch mehr als der abscheuliche altfranzösische Rokokostil, so drückte ich mich bald von meine Freunden, welche sich vergeblich bei schlechtem Bier in dem Menschentrubel zu amüsieren versuchten, weg und kletterte durch die Weinberge zu meiner geliebten, alten Edelmanns-Waldspitze hinan, demselben vorspringenden Waldsaum oberhalb der hohen Weinberge, auf welchen ich auch Dich, liebster Vater, während Deines hiesigen Aufenthaltes hinaufschleppte. Da wurde mir in der herrlichen grünen Maiennatur unter dem weiten blauen Himmel einmal wieder recht innig und herzlich und fast sehr rührend zumute. In der Tat kam auch vieles zusammen, um mich so recht herzinnig stillvergnügt, "in meinem Gotte vergnügt", wie der alte Heim sagt, zu machen. Bei mir mußte das aber diesmal doppelt der Fall sein, da ich zum erstenmal aus der dumpfen, toten Anatomie und Klause in die frische Frühlingspracht hinaustrat. Und dann der wunderherrliche Blick von der hohen Waldspitze das weite freundliche Maintal hinauf und hinab - längs des blauen Stroms die zahlreichen freundlichen Dörfchen mit den roten Dächern und den schlanken Kirchtürmen, eingebettet in das frischeste Maigrün der Obstgärten -, die feierliche Festtagstille über das Ganze ausgebreitet, nur von dem lustigen Pfiff der Finken und dem melodischen Schlag der Nachtigall unterbrochen, dann das wunderliche Spiel des wilden Windes mit den wehenden Wolken, die er, in die seltsamsten abenteuerlichsten Formen und Phantasiegestalten zusammengeballt, vor sich hertrieb und dann am Südwesthorizont so alle in ein großes Heerlager sich zusammentürmten, just ähnlich wie damals die seltsame Wolkenbildung auf dem Watzmann - dies alles, alles gab ein so einziges und köstliches Schauspiel ab, daß ich meinte, die Natur hätte ihrem Lieblinge oder vielmehr Liebhaber ein ganz besonderes Festvergnügen bereiten wollen, von dem alle die 1000 Menschen da drum herum in dem engen, trostlosen Kunstgarten gar keine Ahnung hatten, und daß ich mehrere Stunden ganz entzückt und selig dort oben unter den grünen Bäumen lag, in das weite freie Maintal hinausjubelte und nichts vermißte als Euch, liebe Berliner Seelen alle, um mit mir meine Freude zu teilen. Dieser kleiner Erdenfleck hier ist mir nun aber auch der liebste in der ganzen Würzburger Umgebung geworden. Wie oft habe ich hier schon stundenlang allein mit mir und meiner Natur gelegen und mir im Waldesduft und Bergesluft Kraft und Erquickung für das Stuben- und Studiumleben geholt. Grade dieser Punkt ist es, von dem aus ich schon mehr als drei- oder viermal Abschied von der Würzburger Gegend nahm, immer in der Meinung, nie wiederzukehren! Und doch kehrte ich noch jedesmal wieder und mir immer zu neuem Nutzen und Frommen. So glaubte ich noch vor kurzem, Anfang Januar, als ich zum letztenmal vor den Ferien dort war, dies wäre gewiß das letztemal für immer - und nun befand ich mich wider alles Erwarten am Pfingstmontag 1856 doch wieder da, und wie ich gewiß glaube, nur zu neuem Nutzen für meine innere Ausbildung. Indem ich diesem Gedanken nachging, wurde ich so recht freudig dankbar gegen Gott gestimmt, der ohne all mein und Euer Zutun mich in der kostbaren Studienzeit so glücklich geleitet und mich gewiß zu meinem größten Nutzen immer wieder hierher zurückgeführt hat. Was wäre aus mir geworden, wenn ich immer in Berlin geblieben wäre! Ein höchst versimpelter, menschenscheuer Philister, ein einseitiger Stubengelehrter und jedenfalls auch kein Mediziner! Wenn ich Johannes Müller ausnehme, der allerdings für die Richtung meines Lieblingsstudiums einen ganz entscheidenden Einfluß gehabt hat, so verdanke ich alles andere, was ich wissenschaftlicher Beziehung bin und habe, dem alten Würzburg mit seinen höchst anregenden, jugendkräftigen Lehrern, seinem regen wissenschaftlichen Streben und seinem gediegenen Gemeinleben. Wieviel habe ich nicht hier gelernt und wie mich verändert! Das trat alles so recht lebhaft an dem schönen Pfingstmontag vor meine Seele und versetzte mich in eine so glückliche, zufriedene Stimmung, daß ich noch nie ein so fröhliches Fest gehabt zu haben meinte, und den festen Vorsatz, das hohe Ziel des "Wahren, Guten und Schönen" mit Aufbietung aller Kräfte zu verfolgen, aufs ernstlichste erneuerte. Freilich waren das Stunden der erhöhten Stimmung, und ich weiß wohl, daß ich noch nicht so fest und sicher bin, daß auf diese nicht auch wieder Stundes des Kleinmuts und der Niedergeschlagenheit folgen werden.

Aber mögen diese auch kommen, solche erhöhte Stunden geben mir wieder Kraft und Mut auf lange Zeit, und ich gelange doch allmählich zu einem etwas festeren, konstanteren Gleichmut und einem mehr gesetzten, männlichen Wesen, wozu ich jetzt in meiner Assistenz bei Virchow eine ganz vortreffliche, wenn auch nicht sehr angenehme Schule durchmache . . .

Würzburg, 21. 5. 1856.

. . . In mein neues amtliches Verhältnis habe ich mich nun schon vollkommen eingelebt. Die ersten 3-4 Tage wurden mir, wie ich Euch schon schrieb, recht schwer. Nun ich sie mit einemmal aufgeben mußte, meinte ich zum erstenmal die Süßigkeit der akademischen Freiheit, das Glück, ganz nach Belieben mit seiner Zeit zu schalten, recht zu würdigen. An kontinuierliche Arbeit war ich zwar von jeher gewöhnt. Daß ich aber auch einmal nicht bloß für meine eigene Ausbildung, sondern auch für andere etwas tun sollte, kam mir anfangs sehr widerwärtig vor. Glücklicherweise gab's aber bald so viel Arbeit, daß ich gar nicht Zeit hatte, darüber zu grübeln. Ich kam mit einem Zuge vollkommen in den Wirkungskreis hinein und war nach acht Tagen schon völlig eingelebt. Jetzt ist mir's so, als könnte es gar nicht anders sein und alles kömmt mir ganz leicht und natürlich vor. Wie ich vorausgesehen, wird das viele Unangenehme der etwas delikaten Stellung mehr als aufgewogen durch den großen Nutzen, den sie sowohl für Ausbildung meines Wissens als besonders meines Charakters hat. Der letztere wird tagtäglich mehr in Anspruch genommen, verträgt aber auch allmählich alle Proben und Aufgaben besser als je vorher. Oft kommt es mir selbst fast unglaublich vor, wie der Mensch, allein durch allmähliche Angewöhnung, auch die tiefstwurzelnden und festsitzendsten Schwächen ablegen kann. Anblicke und Gedanken, bei deren Erwähnung ich noch vor einem Jahr vor lauter Reizbarkeit und Empfindlichkeit aus der Haut fahren zu müssen glaubte, ertrage ich jetzt mit derselben Kälte und Gleichgültigkeit, mit der ich irgendeiner mathematischen Deduktion folge. Freilich hilft aber das wissenschaftliche Interesse da über viele Schwierigkeiten hinweg, und außerdem ist grade mein jetziges Tagewerk mehr als alles andere zur Abgewöhnung solcher Schwächen geeignet. So betraf z. B. die erste Sektion, welche mir Virchow ganz selbstständig überließ, einen stud. med. Schmitt aus Lippspringe, mit welchem ich diesen Winter im Entbindungshaus fast regelmäßig die langen Nächte durchplaudert hatte. Kurz vor Ostern hatte er mir noch ein fröhliches "Auf Wiedersehen in Berlin!" zugerufen, und lag er statt dessen mit akuter Miliartuberkulose vor mir auf dem Sektionstisch! Ein andres, herbes Probestückchen wurde vorgestern glücklich überstanden. Ich hatte bisher die Sektion immer nur im Beisein weniger Ärzte oder Studenten gemacht. Zu vorgestern wurden nun zwei sogenannte "klinische" Sektionen angesagt, bei denen nicht allein das gesamte klinische Auditorium, sondern auch die Professoren und Studenten gegenwärtig sind. Für gewöhnlich macht diese Virchow immer selbst und ich schreibe dabei nur das Protokoll nach. Vorgestern nun ging ich noch kurz zuvor durch den Sektionssaal und sagte mir beim Anblick der großen Menschenmasse: "Doch gut, daß du nicht die Sektion zu machen hast!" Kaum gedacht, so kömmt der Diener hereingestürzt: "Herr Doktor, der Herr Professor läßt sagen, Sie sollten beide Sektionen machen; er müßte auf den Bahnhof, um zwei Herren aus Berlin zu empfangen!" - Das war denn wieder für mich so ein Blitz aus heiterem Himmel, geeignet, um den ganzen Kopf zu verlieren. Indes, was half's! Die Zuhörer waren da, und ich mußte wohl oder übel ex tempore die beiden Sektionen (zwei fast ganz gleiche Pneumonien) im Beisein des Herrn Prof. Bamberger usw. machen. Anfangs schnitt ich mich natürlich mit zitternden Händen mehrmals in die Finger (glücklicherweise ohne alle üblen Folgen) und klemmte nur mühsam die nötigen Bemerkungen aus der Brust heraus. Nach der ersten Viertelstunde war aber alle Angst verschwunden und ich brachte die Sache ganz unbefangen zu Ende! - Auch im chirurgischen Operationskursus habe ich mich ganz gut, wider alles Erwarten, eingewöhnt und sehe darin täglich zu meinem Troste, daß ich noch lange nicht der Allerungeschickteste bin, da ich von mehreren Älteren darin entschieden übertroffen werde. Ja, das systematishe Arm- und Beinabschneiden, Exartikulieren und Trepanieren usw. fängt sogar, allerdings mehr curiositatis causa, an, mir einigen Spaß zu machen. So wäre denn also auch die letzte von mir für unüberwindlich gehaltene Schranke gefallen, von welcher ich fürchtete, daß sie mich unmöglich könnte Arzt werden lassen, und ich habe mich mit diesem Gedanken, im Notfalle praktischer Arzt zu werden, jetzt schon so vollkommen ausgesöhnt, daß mir die Verwirklichung desselben gar nicht mehr unmöglich erscheint, zumal wenn ich dabei an ein recht nettes Familienleben denke, ein in seiner Art gewiß ganz einziges Glück! Zuerst aber muß gereist werden! Die Reiselust steckt mir viel zu tief und unvertilgbar in allen Gliedern, um irgendwelchen Rücksichten nachzustehen, und an einem so schönen Tage wie heute und gestern zuckt mir's in den Beinen, als müßte ich gleich auf den Watzmann klettern! Die Muskelfülle, die ich mir im vorigen Herbst auf der Reise angeschafft, ist mir bei dem vielen Sitzen jetzt ordentlich lästig. Überhaupt habe ich für das ewige Stubenhocken einen viel zu leistungsfähigen Kadaver, und ich muß durchaus einmal ein paar Jahre hinaus und die Welt durchwandern! Ich weiß gar nicht, wie ich das den ganzen Sommer in dem engen Neste hier aushalten werde!

Mit dem persönlichen Verhältnis zu dem Chef, jetzt der schwierigste Punkt, will sich's noch immer nicht so recht machen! Es wird auch schwerlich anders werden, sicherlich niemals gemütlich. Wenn Virchow nur nicht so äußerst zurückhaltend wäre und so gar nichts von dem verlauten ließe, was er eigentlich will und meint. So hat er gegen mich z. B. auch noch nicht einmal ein Wort des Lobes oder des Tadels hören lassen, obwohl er, namentlich zu letzterm, reichliche Gelegenheit hatte. Alles sieht er so fabelhaft ruhig, ungerührt und objektiv passiv an, daß ich seine außerordentliche stoische Ruhe und Kaltblütigkeit täglich mehr bewundern lerne und bald ebenso hoch schätzen werde wie die außerordentliche klare Schärfe seines Geistes und den Überfluß seines Wissens. Wenn er meinem schäumenden Sprudelgeiste nur etwas davon abgeben könnte! Nun, mit der Zeit wird das schon werden! Jetzt bin ich wenigstens schon so weit gekommen, daß ich mir jeden Satz, den ich zu ihm sage, eine Viertelstunde lange überlege und ihn dann vor dem Aussprechen noch zehnmal im Munde herumdrehe. Schweigen werde ich dabei vortrefflich lernen! Der einfache Grund davon ist der, daß ich mir in der ersten Zeit, wo ich alle Gedanken so ungeniert herausplauderte, wie ich gewohnt bin, mir entweder das Maul so verbrannte, daß ich nachher wie mit kaltem Wasser begossen dastand, oder aber von ihm so ad absurdum geführt wurde, daß ich mir als der trivialste Wurm unter allen dummen Menschen vorkam. Die lohnendste Antwort, die ich bisher noch erlangen konnte, war nämlich, als ich ihm eine Idee vortrug, die ich über eine mikroskopische Beobachtung gefaßt und von der ich mir Wunder was versprach. - "Ja", sagte Virchow mit seiner gewöhnlichen Ruhe, nachdem er mich angehört, "diese Idee habe ich auch einmal in einer gewissen Periode meines Lebens gehabt!" - Wie oft habe ich schon dieser ruhigen, klaren, scharfen Größe gegenüber die kleinliche Alltäglichkeit meines unsteten, Irrlichtern gleich hin und her flackernden, nirgends sich rein und scharf aus sich selbst sich ablösenden Geistes verwünscht! Wie wenig paßt ein so unklares, konfuses, subjektives Wesen für einen Naturforscher! Und doch gibt es Stunden, in denen ich nicht mit Virchow tauschen möchte. Kann Virchow wohl je so eines entzückenden Genusses sich erfreuen, wie ich ihn so oft in meiner subjektiven Naturbetrachtung, sei es einer schönen Landschaft oder eines allerliebsten Tierchens oder einer niedlichen Pflanze, genieße? Sicher nicht! Auch müßte es schrecklich auf der Welt sein, wenn alle Männer so nüchtern und verständig wären, fast so schrecklich, als wie wenn alle solche krausen Chaosköpfe wären wie meine Wenigkeit . . .

84. Würzburg, 11. 6. 1856.

Meine lieben Eltern!

. . . An dem Thema, das mir Virchow zur Dissertation gegeben, arbeite ich nun schon bald einen Monat, ohne auch nur das geringste herausgebracht zu haben. Ich soll die Natur und Entstehungsweise von kleinen Bläschen (Zysten) ergründen, welche sich sehr häufig an den Zotten der Blutgefäßnetze(plexus corioidei) in den Höhlen des Gehirns finden; das ist ein verdammt subtiles und schwieriges Thema und für meine groben Hände und namentlich für meine unruhige Ungeduld ein bißchen gar zu fein. Ich habe schon oft fast ganz den Mut verloren und möchte manchmal, wenn ich so 2-4 Stunden ohne irgendein Resultat hinter dem Mikroskop gesessen, fast davonlaufen. Da heißt's aber: aushalten! Und Geduld lerne ich wenigstens dabei. Hoffnung habe ich aber wenig . . .

Vorige Woche gab's einmal sehr wenig zu tun. Es schien völlige Immortalität im Spital eingetreten zu sein. Um so mehr konnte ich für mich in Anatomie arbeiten. Vorgestern und ebenso gestern gab es aber auf einmal drei Sektionen, so daß ich alle Hände voll zu tun hatte. Bei der großen Hitze werden die Sektionen mit ihrem Schmutz und Gestank, namentlich da zugleich die große Feuchtigkeit die Fäulnis sehr begünstigt, jetzt manchmal selbst für Virchow etwas unangenehm. Ich habe aber jetzt so gründlich alle und jede Scheu und Furcht überwunden, so total den ganzen Frachtwagen an Vorurteilen und Launen, den ich, wie die Schnecke ihr Haus, mit mir herumschleppte, abgeworfen, daß mich absolut gar nichts von all dem Schauerlichen und für Laien Entsetzlichen, das es in der Medizin gibt, mehr nur irgendwie aus der Fassung bringen kann. Wie kann man sich doch ändern! Wenn ich 1852 als jämmerlicher Fuchs zu präparieren anfing, faßte ich alles womöglich nur mit Pinzetten und Tüchern an, und hatte ich mich auch ja zufällig etwas auch bei einer ganz gesunden Leiche in den Finger geschnitten, so ätzte ich mich gleich so stark mit Höllenstein, daß es sechs Wochen lang eiterte. Jetzt wühle ich selbst mit angerissenen und geritzten Händen in all dem faulen Zeug so gleichgültig herum, als legte ich Pflanzen ein, und es hat mir auch noch gar nichts geschadet. Welche absolute Gleichgültigkeit man überhaupt gegen den Tod dabei bekömmt, ist wirklich merkwürdig und ich hätte nie gedacht, daß ich mit so stoischer Ruhe das alles ertragen könnte . . .

Mein persönliches Verhältnis zu Virchow bleibt immer dasselbe, kalt und objektiv, und ist gewiß dadurch für mich höchst ersprießlich, daß ich mir meine schreckliche Subjektivität dabei gründlich abgewöhne. Aber auf die Dauer ist das doch etwas Trauriges. Und wieviel lieber und aufmerksamer würde ich ihm in jeder Hinsicht die kleinen Dienste leisten, wenn er zugleich gemütlich mir etwas näher treten wollte. Wieviel glücklicher ist in dieser Beziehung Lachmann mit seinem göttlichen Johannes Müller daran, bei dem es eine wahre Freude sein muß, auch die langweiligsten und unfruchtbarsten Mühen ihm möglichst abzunehmen! . . .

Ich mache mir jetzt etwas regelmäßiger Bewegung. Mein plethorischer Kadaver hält doch das ewige Sitzen ohne Unterbrechung nicht aus, und der gute Vorsatz, den ganzen Sommer nicht aus der Stadt hinauszugehen und tagaus, tagein auf der Anatomie zu hocken, ist schon dahin. Gewöhnlich gehe ich abends gegen 9 Uhr hinaus unters Käppele und schwimme da im Dämmerlicht oder beim Mondschein 1/2 Stunde im Main, ein ganz göttliches Vergnügen. Der Schwimmen war nächst dem Bergesteigen, Felsenklettern und dem dreibeinigen Herabschurren über schiefgeneigte Schneefelder von jeher mein größtes körperliches Vergnügen; aber seitdem ich die prächtigen Wellen der stürmischen Nordsee und den milden adriatischen Spiegel Venedigs gekostet, wollen die bescheidenen Flüsse nicht mehr recht schmecken. Da versuche ich mir denn den Wellenmangel durch möglichst extreme körperliche Evolutionen zu ersetzen und plätschere und tolle in dem zahmen Wasser wie ein Walfisch an der Harpune. Überhaupt fängt der wilde Übermut der Knabenzeit sich nach langem schlappen Schlafe wieder mächtig an zu regen, und das "Weit, weit in die Welt hinaus!" packt mich oft, als müßte ich augenblicklich aus dem engen Käfig fliehen und auf Reisen oder in den Krieg gehen. Da schaue ich denn sehnsüchtig nach den blauen Bergen der Rhön und des Odenwalds hinüber, die zum hohen Mainufer herüberschimmern, denke, was wohl alles dahinter sein mag, und tröste mich auf bessere Zeiten! Auch der kleine Beckmann hat sehr oft solchen kriegerischen Raptus und wir begeistern uns dann lebhaft in Gedanken an die Heldentaten, die wir im nächsten Krieg vollbringen wollen . . .

Euer alter Ernst.

85. Würzburg, 27. 6. 1856.

Meine liebste Mutter!

. . . Die beifolgenden Bilder sollten Dir, liebste Mutter, nur ein sinnliches Zeichen meines kindlichen Geburtstagsgrußes sein. Ich habe jetzt so lange nichts Ordentliches gezeichnet, daß ich ganz aus der Übung war, und so ist nichts Rechts daraus geworden. Da Du Dich aber doch immer über die schlechtesten Leistungen Deines Jungen freust, so schicke ich sie Dir. Tante Berta wird Dir auch wohl ein großes Bild von Bozen, Meran und Umgebung gegeben haben, wenigstens hatte ich es ihr aufgetragen, Dir vor Deiner Abreise zu übergeben.

Außerdem bekommst Du auch noch ein paar Bocksbeutel von mir, die ich Dir aber jetzt nicht nach Nenndorf schicken wollte, da Du sie dort ohnehin nicht wirst trinken dürfen. Ich werde sie im Herbst mitbringen, und sie werden Dir gewiß doppelt gut schmecken, da sie mit meinem ersten, sauerverdienten Gehalte bezahlt sind! Ich erhebe dasselbe jetzt in monatlichen Raten von 12 1/2 fl. (macht täglich 24 48/73 Kreuzer). Dazu kam gestern ganz unerwarteterweise noch eine ganz hübsche Zulage, auf die ich gar nicht mehr gerechnet hatte. Ich bekam nämlich als Honorar für meine Aufsätze in der "Wiener medizinischen Wochenschrift" plötzlich von Wien 20 Taler, sage zwanzig Taler! geschickt. Ich könnt Euch denken, wie erstaunt ich über diesen Redakteursedelmut bei Empfang des "Schmerzensgeldes" (wie Virchow sagte) war! Ich werde diese ganz hübsche Summe zusammen mit meinem Gehalt dafür verwenden, mir bei Schieck ein kleines Mikroskop zu 50 Taler, welches ich durchaus notwendig brauche, zu bestellen . . .

Die vorige Woche war hier durch eine große Feierlichkeit ausgezeichnet, indem der König und die Königin von Bayern auf ihrer Durchreise nach Bad Brückenau hier einen Tag verweilten. Professor Scanzoni, Leibarzt der Königin, der jetzt zugleich Universitätsrektor ist, gab sich alle Mühe, dazu einen großartigen Fackelzug der Studentenschaft zustande zu bringen und da die Fackeln gratis geliefert wurden, so fiel er in der Tat recht glänzend aus. Die fünf Korps mit ihren bunten Mützen und Fahnen spielten natürlich dabei die Hauptrolle. Aber auch die Masse der übrigen, sogenannten wilden Studenten (gegen 700) nahm sich dabei recht imposant aus. Als die ganze Masse auf dem großen Residenzplatz vor dem Schlosse aufgereiht war, verdunkelte die rote Fackelglut vollkommen den bleichen Glanz der Illuminationslichter und der schwarze Qualm stieg als schwere Wolke empor. Die Straßen und Häuser zeigen noch heute die traurigen Spuren davon. Ich habe dabei ebenfalls eine Rolle gespielt, da ich den guten Einfall hatte, wie schon damals (1852) für den Fackelzug für Virchow, meine große schwarze Sezierkutte, die jetzt eigentlich zugleich eine Art Amtstracht für mich ist, anzuziehen. Die lange schwarze Figur mit den hellen Haaren und einen dunkeln alten Kalabreserhut soll wirklich grandios ausgesehen haben und erregte allgemeinen Beifall. Die einen hielten mich mehr für einen Feuerwehrmann, die andern mehr für einen der Teufel, die Don Juan herunterholen, item ich gab eine sehr effektvolle Charaktermaske ab. Die Geschichte machte mir auch solchen Spaß, daß ich ganz ausgelassen wurde und meine langen Fackeln trotz einem schwang. So ein Fackelzug macht mir immer sehr großen Spaß, da so etwas Wildes, Phantastisches dabei ist, und der Gedanke, daß dies wahrscheinlich der letzte sein würde, den ich Gelegenheit hätte, mitzumachen, bewog mich hauptsächlich, daran teilzunehmen, obwohl ich im Grunde gar keine Indikation dafür einsah, einem Könige und am wenigsten dem Könige von Bayern einen Fackelzug darzubringen. Andererseits warf man mir, insbesondere als königl. bayr. Staatsdiener, solchen Mangel an Patriotismus und solche preußische Sonderbündelei von bayrischer Seite vor, daß ich, schon um es mit den Bayern nicht ganz zu verderben, den Spaß mitzumachen beschloß . . .

Dein treuer alter Ernst.

86. Würzburg, 10. 7. 1856.

Liebe Eltern!

Vorgestern erhielt ich Euren lieben letzten Brief, welcher mich durch die Nachricht, daß Du, liebes Mutterchen, in Eurem neuen Aufenthaltsort das Wechselfieber bekommen hast, sehr betrübt hat. Fast noch größer als das Mitleid war aber der Ärger über Eure beiden Doktoren, den einen, daß er Euch in ein Fiebernest geschickt hat, den andern, daß er Euch auf diese Weise behandelt. Wenn es wirklich wahr ist, was Du von letzterm schreibst, daß er damit nicht unzufrieden sei, und meine, "es könne noch ein Rückstand in Mutters Körper zurückgeblieben sein, dessen letzterer sich auf diese Weise entledigen wolle", wenn er dies wirklich so gemeint hat, so ist Herr v. M., wie sehr er auch sonst in politischen Ansichten mit Dir zu harmonieren vorgeben mag, gelinge gesagt, ein solcher Erzkaffer, oder besser (mit Respekt gesagt:) E--l, wie ein verdrehter Badearzt nur immer sein kann. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie ich mich über diesen einzigen Satz, der jedem rationellen Mediziner in der Seele weh tun muß, geärgert habe, ich hätte dem Mann am liebsten gleich das erste beste Buch über Febris intermittens an den Kopf geworfen! So was ist doch zu toll! Man braucht in der Tat eben kein erfahrener praktischer Arzt zu sein, um zu wissen, daß das Wechselfieber nichts mit Mutters "Krankheitsrückständen", welche überhaupt nicht vorhanden sind, sondern nur im Kopf praktischer Ärzte existieren, zu tun hat, sondern lediglich und allen durch eigentümliche ungünstige Kombinationen von klimatischen und Bodenverhältnissen der Orte, wo sie vorkommt, erzeugt werden; namentlich ist da die Sumpfluft eine Hauptursache. Bitte schreibt mir nur recht bald, wie es Mama geht und beantwortet mir dabei folgende Fragen: 1. Liegt Eure Wohnung etwa in einer feuchten Niederung (in welchem Fall ihr schleunigst in einer trockene, luftige überziehen müßtet), oder ist etwa Mama abends öfter in solcher spazieren gegangen? 2. Wo bekommt Ihr Euer Trinkwasser her? 3. Herrscht überhaupt in Eilsen viel Wechselfieber? 4. Wie ist überhaupt Eilsens Lage, an einem Fluß oder in einer sumpfigen Gegend? 5. Wie oft kommen die Fieberanfälle, jedem Tag einmal? und wann? 6. Haben sie bis jetzt nachgelassen oder noch nicht? Zu Eurer Beruhigung kann ich Euch versichern, daß das Wechselfieber zwar sehr unangenehm, aber keineswegs gefährlich ist, ja, eigentlich die am leichtesten und sichersten zu heilende Krankheit, insofern es nämlich die einzige ist, gegen die wir wirklich ein spezifisches Mittel besitzen, das fast nie im Stich läßt. Es ist dies, wie Ihr wohl wissen werdet, die Chinarinde und besser noch das daraus hergestellte Chinin, das oberste unter allen Heilmitteln, weil das einzig Sichere . . . Für den Fall, daß Mama noch kein Chinin bekommen hat, schicke ich Euch das beifolgende Rezept mit, das Mama dann jedenfalls einnehmen muß. Du bekömmst danach, liebes Mutterchen, 12 Pulver, welche Du aber nur in der fieberfreien Zeit nehmen darfst, und zwar anfangs alle zwei Stunden eines, später, wenn das Fieber aussetzt, alle drei Stunden. Um den bittern Geschmack zu verbessern, nimmt Du es am besten in einem Löffel schwarzen Kaffee und ißt danach ein Stückchen Zitronenscheibe, mit Zucker bestreut. Auch wenn das Fieber vorbei ist, mußt du wenigstens noch eine Woche mit dem Chininpulver fortfahren, brauchst dann täglich nur 3-4 Stück zu nehmen. Wenn ferner Eilsen ein Ort ist, wo das Wechselfieber endemisch ist, d. h. wo jederzeit einzelne Fälle davon vorkommen, so müßt Ihr durchaus das Nest baldigst verlassen, da sonst alle China schwerlich helfen, sondern immer wieder in der Sumpflust Rückfälle kommen würden . . .

Über Euern Arzt habe ich mich aber auch nicht wenig geärgert, daß er Euch in so ein Bad schickt! Diese verdammten Bäder soll doch allesamt mit den Badeärzten der Kuckuck holen! Ich kann Euch gar nicht sagen, wie ich sie hasse, und wie ich mich über die Ärzte ärgere, die vernünftige Patienten dahin schicken, wohin nur Leute gehören, die ihr Geld, Zeit oder Langeweile anderswie nicht loszuwerden wissen! Das Baden hilft doch immer am wenigsten oder vielmehr gar nicht. Das wirklich Wirksame ist das Herausreißen aus den gewohnten alltäglichen Verhältnissen, das Vergessen der häuslichen gewohnten Sorgen und Arbeiten, die Ruhe und Muße sowie der möglichste Genuß der freien und schönen Natur. Alles dies hätte aber Euer Arzt viel besser erreicht, wenn er Euch, statt in ein so langweiliges Bad, wo man nichts als Krüppel sieht, in eine herrliche Gebirgsgegend, wie z. B. das selbst für Damen sehr leicht zugängliche Salzkammergut, nach Berchtesgaden, Ischl oder Gastein geschickt hätte, wo Ihr in der göttlichen Alpenluft beide viel besser auf den Damm gekommen wäret und überdem doch dabei hättet baden können . . .

Anfang dieser Woche hätte ich Euch gewünscht, hier zu sein. Da wurde nämlich vom Sonntag bis Mittwoch (6-9) das große 50jährige Stiftungsfest des hiesigen Polytechnischen Vereins, des ersten und größten in Deutschland, gefeiert, wozu zahllose Gäste von allen Ecken und Enden herbeigeströmt waren. Es war in der Tat äußerst prächtig. Nie habe ich hier eine solche Menschenmasse beisammen gesehen. Das schönste war der große Festzug, der am Sonntag durch alle Hauptstraßen der Stadt zog und von 9-1 Uhr dauerte. Darunter befanden sich die Schulen, Bürger, fremde Gäste, alle Mitglieder des Vereins, insbesondere alle Gewerke, welche in wirklich sehr netter, sinniger und geschmackvoller Weise sich aufspielten und herumzogen. Die meisten Korporationen zogen festlich geschmückt in einem allegorisch verzierten Arbeitskleid auf; davor getragen wurde eine Fahne, dann die Embleme und Wahrzeichen des Gewerkes. Viele Zünfte hatten außerdem einen feierlichen Festwagen voll sinniger Anspielungen aufgeputzt, der mit Kling und Klang voranzog, so die Maurer, Schneidmüller, Architekten, Tüncher, Jäger, Werkzeugfabrikaten, Zimmerleute, Schlosser usw. Am besten machten sich die wirklich ganz poetisch aufgeputzten Fischer, welche in einer sehr passenden und hübschen altdeutschen Fischertracht, mit Fahnen aus Netzen gewebt und andern Sinnbildern umherzogen. In ihrer Mitte wurde auf vier rings von Schilf verdeckten Rädern ein großer, mit Wasserpflanzen, Segeln, Wimpeln und Flaggen geschmückter Kahn gezogen, den vorn ein alter Neptun regierte, während drin allerliebste Kinder, Netze strickend, unter einer zart aus Netzen gewebten Laube saßen. Auch die Tischler, mit Wiege und Sarg als Emblemen, Fahnen aus Hobelspänen gewebt, Zirkel und Winkelmaß als Waffen usw., machten sich sehr hübsch. Sehr komisch sahen die Kärrner, welche als Kavallerie auf ihren Karrengäulen, wahrhaften Regimentern, ritten, aus. Auch die Gärtner und Gärtnermädchen, sehr zart und fein in Grün und Weiß gekleidet, in ihrer Mitte einen großen, riesenhaften Blumenstrauß mit Girlanden tragend, sahen sehr hübsch aus, ebenso die Klempner in Ritterrüstungen, die Glaser mit sehr schönen, bunten Glaswaren behangen, die Fleischer rot und weiß, mit blanken Waffen, die Kaminfeger in feierlichen Staatswagen, die Goldarbeiter mit reichen Kleidern geschmückt, die Bauleute, eine ganze Brücke mit Gerüst und Arbeitern auf einem Wagend fahrend, usw. Ihr hättet selbst den ganzen Schwindel sehen müssen, um Euch einen Begriff von dem dabei entwickelten Glanz und Pracht zu machen. Im ganzen entwickelten die Leute viel mehr Glanz, Pracht, Witz und Sinnigkeit, als ich ihnen zugetraut. Den traurigsten Eindruck machten nur die Gestalten der Männer selbst, die mit wenigen Ausnahmen (z. B. Fischer, Maurer, Schneider usw.) ein trübes Bild von dem herabgekommenen, kraftlosen Charakter unserer jetzigen Generation zeigten und in denen man vergeblich die kräftigen, prächtigen altdeutschen Gestalten suchte . . .

Mit dem herzlichsten Wunsch recht baldiger vollkommener Genesung

Euer alter treuer Ernst.

87. Würzburg, 17. 7. 1856.

Liebste Eltern!

. . . Gott sei Dank, daß es unserer lieben Mama etwas besser geht. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr mich der Gedanke an sie, namentlich an die gegründete Befürchtung, sie in den Händes eines schauderhaften Scharlatans zu wissen, mich Tag und Nacht gequält und geängstigt hat. Dieser eine qualvolle Gedanke ließ fast keine andern aufkommen und hat wenigstens das Gute gehabt, daß ich darüber mehrere sehr unangenehme Nachrichten, die mich dieser Tage getroffen, fast gar nicht berücksichtigt habe. Hätte mir Euer heutiger Brief nicht endlich die Nachricht gebracht, daß der Esel von Doktor endlich zu China übergegangen sei, so hätte ich ihm einen Brief präpariert, aus der er die Wahrheit in etwas bitterer Weise Wort für Wort hätte ablecken können. Eine solche Handlungsweise im Jahre 1856 ist wirklich unerhört und verdient, daß man sie als abschreckendes Beispiel bekannt machte. Der Kerl hat mich so gewurmt, daß ich ihn vor bitterem Haß und Ärger hätte durchhauen können . . .

Wenn Du, lieber Vater, in M. einen so liebenswürdigen Mann mit übereinstimmenden Ansichten zu finden glaubst, so hüte Dich wohl und bedenke, daß diese Menschen wie die Hofleute oder die Gummischuhe oder vielmehr wie die Guttapercha-Köpfe auf den Weinstöpseln sind, denen man nach Belieben eine passende Gestalt geben kann, und die lediglich nach der gewünschten Pfeife tanzen! Ist er bei Dir, so schwärmt er für Liberalismus, und im nächsten Augenblick preist er bei einem Junker den Absolutismus, während er einen Augenblick vorher bei einem Demokraten für die rote Republik schwärmte! Diese schlappschwänzigen, glatten, polierten Leute von der "feinen Bildung" sind mir in den Tod zuwider! . . .

Ich meinerseits habe dieser Tage oft meinem Gott gedankt, daß er mich selbst hat Medizin studieren lassen, so daß ich wenigstens nicht selbst als unschuldiges Schlachtopfer unter die pfuscherischen Hände eines solchen Quacksalbers kommen werde und meine Lieben wenigstens davor etwas hüten und warnen kann. -

. . . Nun, der liebe Gott möge alles zum Besten lenken und das wieder gut zu machen suchen, was die Menschen sich zu verderben bemühen. Hoffentlich bringt er dich, mein liebstes Mutterchen, bald ganz gesund und munter als meine alte, liebe Alte in meine Arme! . . .

Mit Virchow stehe ich mich gegenwärtig recht gut. Wir scheinen uns allmählich etwas aneinander zu gewöhnen. Übermorgen geben wir ihm ein großes Abschiedsfest. Beckmann wird immer liebenswürdiger und ist wirklich ein ganz prächtiger Mensch. Mein ganzes körperliches Vergnügen ist jetzt das Schwimmen, was ich fast mit exzessiver Leidenschaft treibe. Vorgestern habe ich z. B. über eine Stunde im Main herumgetollt, bis ich ganz matt und geschlagen, so recht totmüde war. Dann ist mir immer so recht wohl und gut zumut . . .

88. Würzburg, 21. 7. 1856.

Liebe Eltern!

Die letzten Tage haben einmal plötzlich einige sehr angenehme Abwechslung in mein einförmiges Leben gebracht, weshalb ich sie Euch etwas näher schildern will. Das erste Glück, was mir passierte, war, daß ich an dem plexus chorioideus eines Geisteskranken plötzlich mit einem Male den Schlüssel zu den schwierigen Untersuchungen fand, welche ich seit längerer Zeit über die an diesen Organen vorkommenden pathologischen Bläschen (Zysten) angestellt habe. An diesem einen Präparat nun entdeckte ich ziemlich sicher, daß diese sonderbaren Dinger durch eine ganz eigentümliche Entwicklung von Bindegewebskörperchen entstehen. Alle vorher mir so rätselhaft gebliebenen Beobachtungen sind mir nun mit einemmal klar geworden und ich kann nötigenfalls sehr rasch daraus eine leidliche Dissertation zusammenschmieden. Da sah ich wieder einmal recht deutlich, wie wichtig Geduld, Ausdauer und Konsequenz zur Erreichung eines vorgesteckten Zieles sind. Ich machte diese entscheidenden Beobachtungen grade, als ich ganz entrüstet und verzweifelt über die lange vergeblich daran verschwendete Zeit und Mühe, sie gänzlich aufgeben wollte und statt dessen ein vergleichend-anatomisches Thema, zu dem ich natürlich viel mehr Neigung habe, aufnehmen wollte. Es ist dies die feinere mikroskopische Anatomie des Flußkrebses, insbesondere seines Nervensystems, welche ich übrigens trotzdem verfolgen werde, da sie sehr interessant ist. -

Am Sonnabend, 19. 7. abends, gaben wir, d. h. eine Auswahl von 120 Medizinern, Virchow das feierliche Abschiedsfest, ein grand Souper mit Bier im "Englischen Garten". Da es bald im Freien zu kühl wurde, mußten wir hineingehen und das feierliche Abendessen in den sehr hübsch dekorierten Sälen begehen. Als Virchow um 1/2 7 Uhr kam, wurde er mit feierlichem Tisch von den Musikern und Hurra von uns empfangen. Dann hielt Beckmann, als Präsident des Festkomitees, eine außerordentlich schöne, herzliche und tiefdurchdachte Rede, nach welcher er ihm unser Festgeschenk, einen sehr schönen, prachtvollen, silbernen Pokal, von Strube in Leipzig für 130 Taler gearbeitet, überreichte. Virchow war sehr überrascht, erfreut und, soviel es sein kalter Verstand zuläßt, selbst gerührt. Er antwortete und dankte in einer sehr langen und vortrefflichen Rede, in welcher er uns sein ganzes wissenschaftliches und damit zugleich auch politisches und religiöses Glaubensbekenntnis auseinandersetzte, sehr offen, wahr und liberal, und deshalb von uns mit Begeisterung aufgenommen. Virchow wies namentlich darauf hin, wie sein ganzes wissenschaftliches und menschliches Streben und Denken, Dichten und Trachten einzig und allein der rücksichtslosen, unbedeckten Wahrheit, ihrer vorurteilsfreien Erkenntnis und unveränderten Verbreitung gelte; wie er in dem konsequenten Streben nach diesem einen Ziel seine einzige Befriedigung finde, sich dadurch viel Feinde, aber auch tüchtige und edle Freunde und Schüler erwerbe, und wie er diesen Weg der rücksichtslosen, lautern Wahrheit stets verfolgen werde, auch in Zukunft, unbeirrt von allen Anfeindungen. Dann ermunterte er uns, immer in unserm Streben zu beharren, da die studierende Jugend, und insbesondere die medizinische, als diejenige, welche sich mit der Anthropologie, dem Studium des gesunden und kranken Menschen im weitesten Sinne, beschäftigte, das einzige kernhafte Element sei, aus dem sich immer wieder ein guter Stamm deutscher Männer voll Wahrheit und Kraft rekrutieren könne. Dazu ermahnte er uns, immer mehr alle Vorurteile abzulegen, mit denen wir leider von Kind auf an so vollgestopft werden, und die Dinge so einfach und natürlich anzusehen, wie sie sind. Er schloß mit der Schilderung seiner ganzen bisherigen Laufbahn und hob namentlich hervor, wieviel er Würzburg verdanke, weshalb ihm dies teuer war und immer lieb und wert sein werde. Beckmanns Rede gefiel mir eigentlich noch besser, da er nicht nur die Verstandesseite berücksichtigte und Virchows glänzende Verdienste um die Wissenschaft hervorhob, sondern auch dem Gemüt sein Recht ließ und mit Wärme den großen Einfluß dartat, den sich Virchow zugleich um unsere rein menschliche Ausbildung erworben. Was den Pokal selbst betrifft, so war er zwar nicht groß, aber sehr prachtvoll, kostbar gearbeitet. Auf dem Deckel stand eine Hygieia und die Worte: "Ihrem verehrten Lehrer die dankbaren Schüler", darunter ein Lorbeerkranz. Um den Bauch des Pokals wand sich ein Efeu- und Weingeranke, unter dem der von Virchow in seinen "Einheitsbestrebungen" als Motto vorangestellte Spruch Bacos stand: Homo naturae minister et interpres tantum facit et intelligit, quantum de naturae ordine re vel mente observaverit, nec amplius scit aut potest!, für Virchow rein empirisch- realistische Richtung ganz bezeichnend . . .

Von den geladenen Gästen, nämlich sämtlichen Professoren der Universität, waren nur etwa die Hälfte da, darunter jedoch einer, dessen Anwesenheit uns furchtbar ärgerte und wirklich ein Meisterstück von Frechheit und Unverschämtheit war. Es war dies ein Professor der Mathematik, Mayr, ursprünglich Jesuitenschüler und katholischer Pfaff, der nicht nur Virchow und Kölliker wegen Entweihung der Sonntagsfeier öfter denunziert hatte, sondern auch sonst in der schuftigsten Weise als geheimer und öffentlicher Feind derselben aufgetreten war. Dieser infame Kerl hatte nun die Frechheit, sich Virchow gerade gegenüber zu setzen, obgleich ich ihm zweimal zurief, daß dieser Platz reserviert sei. Das war denn doch zu toll, und ich organisierte eine förmliche Kabale gegen ihn, durch die ich ihn auch glücklich bald entfernte. Zuerst stellte ich mich mit mehreren Bekannten unmittelbar vor ihn hin, als er im Saal umherging, und brachte ein lautes Pereat auf die Jesuiten und Ultramontanen, die Männer der Lüge und des Scheins aus. Dies brachte ihn schon ganz in Wut und außer Fassung, noch mehr aber die Reden, welche ihm zwei Bekannte, die sich neben ihn setzen mußten, über Virchows Verdienste um Freiheit und Liberalismus des Denkens und Glaubens usw. halten mußten. Er drückte sich schleunigst infolgedessen, worauf ich ihm aus dem Torweg noch nachrief, daß es allerdings sehr passend wäre, wenn die ultramontanen Spione sich beizeiten drückten! - So war unser Ärger in Freude verwandelt. Auch die andern unpassenden Elemente entfernten sich bald und wir waren höchst fidel unter uns, wobei das abwechselnde Spiel der Musik und der Gesang von Studentenliedern uns erheiterte . . .

Am Samstag lud mich Kölliker freundlichst ein, in den Herbstferien ihn nach Triest zu begleiten, um dort Seetiere zu beobachten. Das ist in der Tat ein Gedanke, der alle andern Rücksichten in den Hintergrund drängen kann, und der bei mir gleich so lebhaft gezündet hat, daß alle guten Vorsätze, in den Ferien hier pathologische Anatomie zu treiben usw., mit eins in den Wind geblasen sind. Ich würde das sehr freundlichst und außerst wertvolle Anerbieten um so eher annehmen können, als Virchow doch nun wahrscheinlich den größten Teil der Ferien hier bleiben wird! Doch will ich nun erst meine furchtbare erste Aufregung sich etwas setzen lassen, ehe ich mit Kölliker und Virchow selbst weiter darüber spreche. Vorläufig bemerke ich Euch nur, daß das auch einmal wieder eine Gelegenheit ist, die sich nur einmal im Leben darbietet, und zwar eine für meine zootomisch-histologische Entwicklung äußerst wichtige! . .

Euer alter treuer Ernst.

89. Würzburg, 25. 7. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Auf die Tage der exzessiven Freude folgten, wie das von alters her bei mir gewöhnlich so geht, Tage des exzessiven Jammers. Diesmal war es nur nicht, wie oft früher, bloß selbstgeschaffen oder eingebildet, sondern sehr materiell begründet. Schon am Montag früh, als die Stettiner abgefahren waren, fühlte ich mich nicht recht wohl, hatte gar keine Arbeitslust (was ich mir durch das schöne Bummeln am Tag vorher erklären zu müssen glaubte!) und tat eigentlich den ganzen Tag, sehr matt und niedergeschlagen, nichts. In der Nacht bekam ich heftige Diarrhöe, welche sich am Dienstag früh, von den heftigsten Kolikschmerzen und fieberartigem Frösteln begleitet, so steigerte, daß ich schon um 9 Uhr von der Anatomie wieder nach Hause gehen mußte. Dabei wurde ich zugleich plötzlich so matt, daß ich weder stehen noch gehen konnte; mein Hausbursch, Dr. Rausch aus Speyer, ein sehr lieber, gemütlicher Kerl, brachte mich sogleich zu Bett und holte dann Beckmann und Dr. Grohé (meinen Amtsvorgänger). Diese drei hielten nun über mich Konsilium und waren bald über die Behandlungsweise einig. Sie pumpten mir Opium in großen Gaben ein (welches ich selbst schon in der Nacht genommen) und verordneten heiße Breiumschläge auf den ganzen Unterleib, so warm ich sie nur vertragen konnte. Die Kolikanfälle hatten inzwischen einen so hohen Grad erreicht, wie ich sie vorher nie kannte. Von 10 bis 11 1/2 Uhr wurde ich davon kontinuierlich und in solchem Grade gequält, daß ich mich wie ein Wurm hin und her wand und ohne eine Minute Ruhe in den heftigsten Konvulsionen lag. Dabei trotz doppelter Betten solcher Frost, daß ich mit allen Gliedern zitterte. Gegen Mittag ließ endlich der Kolikkrampf auf die fortgesetzte Anwendung der anfangs sehr schmerzhaften Kataplasma sehr nach, Auch die sehr heftigen Diarrhöen blieben Nachmittag auf die großen Opiumdosen aus. Um 1 Uhr nach dem Kolleg kam Virchow, welcher mir statt der reinen Opiumtinktur Doversche Pulver verschrieb und die heißen Umschläge fortsetzen ließ. Jedoch war mein Magen so reizbar, daß schon nach dem zweiten Pulver heftiges Brechen eintrat, weshalb ich diese aussetzte und zum reinen Opium zurückkehrte. Gegen Abend hatten die heftigen Anfälle ganz aufgehört, doch war ich so vollständig kaput und herunter, daß ich in einer Art lethargischer Erstarrung regungslos hindämmerte und in vollständiger Gleichgültigkeit gegen alle Dinge weder denken noch sonst etwas konnte. Ich weiß nur noch, daß ich noch vor Abend in sehr festen, tiefen Schlaf verfiel und am andern Morgen um 8 Uhr, in Schweiß durch und durch gebadet, zwar sehr schwach und matt, aber relativ frei und klar mich fühlend, aufwachte. Da der Nachmittag sehr warm und schön war, so durfte ich dann etwas aufstehen und umhergehen. Doch war ich noch so zerschlagen, daß ich kaum gehen und stehen, geschweige denn arbeiten konnte. Auch gestern (Donnerstag) war ich noch vollständig leistungsunfähig und suchte mich nur allmählich wieder etwas an die gewöhnliche Lebensweise zu gewöhnen. Erst heute bin ich ganz vollständig wieder auf dem Damm und so frisch, munter, leistungsfähig und willig, wie irgendeinen Tag vor der Affäre. Ich habe Euch die ganze Geschichte so ausführlich treu geschrieben, weil sie ein vortrefflicher Beitrag zum Theorie meines Organismus ist, der sowohl körperlicher- als geistigerseits immer die Extreme zu lieben scheint und von einem ins andere umschlägt. Ein gut Teil der enormen nervösen Reizbarkeit und Reflexerregbarkeit habe ich dabei wohl von meiner lieben Alten geerbt, die ja auch von ihren "Nerven!" oft so sehr gequält wird. Was eigentlich die nächste Ursache der ganzen Geschichte war, darüber sind die gelehrten Herren Doktoren auch jetzt noch nicht einig, wahrscheinlich ein derber Diätfehler (dessen ich mir gar nicht bewußt bin) oder eine tüchtige Erkältung (die ich mir höchstens am Sonntag bei der Wasserfahrt könnte zugezogen haben). Ihre einstimmige Diagnose lautet auf: rheumatische Kolik mit starkem Darmkatarrh. Übrigens waren meine Bekannten alle äußerst liebenswürdig und aufmerksam, namentlich hat Herr Grohé förmlich durch seine Güte mich beschämt. Auch meine Wirtin pflegte mich sehr sorglich, und über Virchows Teilnahme war ich ordentlich überrascht. Fast den ganzen Tag hatte ich Besuch und fast beständig war ein oder der andre als Wärter da! Ich hätte in der Tat nicht gedacht, daß die Leute so außerordentliche Teilnahme gegen mich zeigen würden! Nachträglich werde ich viel mit der ganzen Geschichte geneckt, da man den ganzen fieberhaften Anfall mit der Anwesenheit meiner beiden liebenswürdigen Kusinen in Kausalnexus bringt, wegen deren ich überhaupt, sowohl von meinen Bekannten, als auch Kölliker und Virchow, viel Neckereien auszustehen gehabt habe. Ich habe mich aber auch am Sonntag sehr über sie gefreut! . . .

Das Wichtigste, was mir jetzt, nach wiedererlangten Kräften, im Kopf herumgeht und meine Gedanken am meisten beschäftigt, ist die Reise nach Triest. Ich habe inzwischen mit Kölliker darüber gesprochen und die Sache scheint sich in der Tat vortrefflich zu machen. Kölliker beabsichtigt mit Heinrich Müller (von hier) Mitte September zur Naturforscherversammlung von Wien (die etwa vom 16.-22. September dauern wird) und von da auf mehrere Wochen nach Triest zu gehen, um dort Seetiere zu beobachten (ein ganz vorzüglicher Fundort, auf dem auch Johannes Müller viele seiner bedeutendsten Entdeckungen gemacht hat). Wie äußerst erwünscht in jeder Beziehung mir Köllikers mehrmals aufs freundlichste wiederholter Antrag, ihn dahin zu begleiten, kam und welche außerordentlichen Früchte mir diese herrliche Gelegenheit, wenn sie sich verwirklichen sollte, bringen wird, darüber brauche ich wohl gegen Euch kein Wort zu verlieren. Nur das füge ich hinzu, daß sich der Plan mit meinen hiesigen Verhältnissen trefflich wird vereinigen lassen. Virchow wird nämlich wahrscheinlich nur den Anfang der Ferien verreisen und Ende September, wo ich also grade in Triest sein würde, hier sein und mich dann nicht brauchen, da dann auch sein Nachfolger schon gekommen sein wird. Doch ist die ganze Geschichte noch zu sehr im weiten, um Euch jetzt schon ausführlicher darüber zu schreiben. Wenn im Herbst wieder die Cholera in Triest sein sollte, so wird Kölliker statt dessen nach Nizza gehen, wohin ich ihm sowohl aus pekuniären als anderen Rücksichten nicht würde folgen können. Sollte dagegen unser Triester Plan zustande kommen, so würde ich Euch, liebste Eltern, aufs inständigste bitten, mir die Erlaubnis und die Mittel zu dieser vierwöchentlichen Reise zu gewähren, aus Gründen, über die ich jetzt weiter kein Wort verlieren will, da sie Euch von selbst gewiß im höchsten Grade einleuchten werden . . .

In herzlicher Liebe Euer alter Ernst.

90. Würzburg, 4. 8. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Wie gerne wäre ich bei Euch, zumal mir jetzt eine gründliche Ausspannung aus meinen bisherigen Verhältnissen immer dringender nötig erscheint, um mich geistig und körperlich flott zu erhalten. Die verflossenen drei Sommermonate sind mir zwar in jeder Hinsicht äußerst nützlich gewesen, und ich habe es bisher in keiner Weise zu bereuen gehabt, diesen ganzen Sommer dieser Stellung geopfert zu haben. Ich habe erstens die pathologische Anatomie, mit der ich mich nun seit 1 1/2 Jahr unter Virchows Anleitung fast ausschließlich beschäftigte, ex fundamento losgekriegt, mehr, als ein gewöhnlicher Medikus nötig hat. Ich habe ferner durch den beständigen, zwar nichts weniger als angenehmen, aber äußerst bildenden und lehrreichen persönlichen Umgang mit Virchow außerordentlich viel nicht nur für meine speziell wissenschaftliche, sondern auch allgemein menschliche Ausbildung profitiert, so daß ich mich wirklich wesentlich verbessert und gar viele Unarten und Verrücktheiten abgelegt zu haben glaube. Trotz alledem halte ich aber ein weiteres Verbleiben in dieser Stellung für keineswegs irgendwie indiziert. Erstens will ich die pathologische Anatomie durchaus nicht zu meinem Spezialstudium machen, welches vielmehr für alle Zukunft "wissenschaftliche Zoologie", d. h. die vergleichende Anatomie und Histologie sein wird. Zweitens sehe ich aber auch, daß, nachdem ich mir jetzt das wesentlichste derselben angeeignet habe, ein fernerer Ausbau derselben bei weitem nicht die Zeit und Mühe lohnen würde, die eine solche Detaillierung erfordert. Im Grunde sind doch bei meinem Amte eine Menge höchst langweiliger Geschichten, z. B. die vielen Schreibereien mit Protokollen, Diarien, Sektionsgeschichten usw., welche die großen, nebenbei eingehenden Vorteile für Ausbildung und Bereicherung der Kenntnisse zur zum kleinen Teil aufwiegen. Endlich ist es auch hohe Zeit, daß ich behufs des Staatsexamens (im Winter 57/58) einmal die Medizin von ihrer andern, mehr praktischen Seite anfasse. Ich werde also die Stellung als Assistent von Virchow keinesfalls in Berlin fortführen. Übrigens wird die Sache auch schon ganz von selbst, und mit Virchows Wunsch, sich so gestalten, indem die Verhältnisse dort ganz andere, viel großartigere werden! Virchow bekommt dort eigentlich direkt keinen Assistenten, sondern einen eignen Prosektor, und dieser letztere sucht sich dann seinen Assistenten erst aus. Ich bin jetzt, wo ich die pathologische Anatomie allmählich satt zu bekommen anfange, und wo mir die anfangs so interessanten Sektionen durch ihre große Einförmigkeit und die stete Wiederholung im ganzen Jahr langweilig werden, ganz froh, daß ich sie nun einmal absolviert haben werde und freue mich herzlich, daß ich den schönen Winter einmal so recht con amore in meinem netten Studierstübchen arbeiten und die vielen theoretischen Lücken in meinen medizinischen Kenntnissen gründlich werden ausfüllen können. Was mir jetzt zunächst den längeren Aufenthalt in dem alten Würzburg, dem ich übrigens für seine dreijährige Lehrzeit äußerst dankbar bin, verleidet, ist die Reiseunruhe, der Wandertrieb, der wie bei den Zugvögeln ganz regelmäßig bei dem jährlichen Eintritt der periodischen Herbstferien sich geltend macht. Seitdem mir nun vollends Kölliker das köstliche Anerbieten gemacht hat, hat sich die vorher mühsam unterdrückte Reiselust mit aller Macht Bahn gebrochen, und mein ganzer und einziger Gedanke ist jetzt das Meer mit seinen zahlreichen und wunderbaren Bewohnern. Der pathologischen Anatomie, der ich drei Monate ausschließlichen Dienst gewidmet, ist jetzt der Rücken zugekehrt und die Sektionen usw. werden nur noch mit offiziellem Fleiß, aber ohne jedes Spezialinteresse ausgeführt. Es hat mich wirklich überrascht und erfreut zugleich, zu sehen, wie es nur eines so ganz geringen Anstoßes bedurfte, um mich ganz meinen alten lieben Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen wieder zuzuführen. Nun soll aber auch alle übrige Zeit vor der Reise noch darauf verwandt werden, mich möglichst gründlich dazu zu präparieren. Die genaue Entscheidung, wohin wir eigentlich gehen, wird erst in 14 Tagen erfolgen. An demselben Tage nämlich, als ich Euren letzten direkten, lieben Brief erhielt, in dem Du, liebster Vater, mir mit der liberalsten Güte das Reisegeld nicht nur für Triest, sondern auch für Nizza versprichst, an diesem selben Nachmittage teilte mir Kölliker mit, daß er wahrscheinlich nicht nach Wien und Triest, sondern nach Nizza gehen würde und forderte mich nun nur um so herzlicher und dringender auf, ihn nur um so mehr nach diesem noch weit interessanteren Ort zu begleiten. Ich war anfänglich sehr überrascht, da ich an Nizza eigentlich gar nicht ernstlich gedacht hatte, indem mir eine Reise dorthin als viel zu weitgreifend und großartig vorgekommen war. Je länger ich mir aber jetzt die Sache überlegte, desto reizender und vielversprechender erschien mir jetzt der Köllikersche Plan und Vorschlag, und als ich endlich noch einmal Vogts "Ozean und Mittelmeer" durchflog, war bald mein Plan sicher gefaßt. Das letztere Buch ist in der Tat sehr dazu geeignet, jedem Leser, auch wenn er nicht von vornherein so enthusiastisch für Natur schwärmt wie ich, die größte Lust nach diesem Paradiesgarten Europas und in specie diesem ausgesuchten Sammelplatz seiner auserwähltesten und mannigfaltigsten Seebestien zu erwecken. Um so mehr mußte es natürlich mit seinen reizenden zoologischen Naturschilderungen auf mich den größten Eindruck machen, und schon als ich voriges Jahr das Buch zum erstenmal in die Hände bekam und wiederholt nacheinander durchlas, erregte es in mir eine solche Sehnsucht nach diesem reizendsten, der prächtigsten Naturwunder vollsten Punkte der Mittelmeerküste, daß ich es als das größte Glück ansah, wenn es mir einmal später vergönnt sein sollte, dort einige Zeit zu beobachten und zu forschen. Eine nahe Verwirklichung dieses Wunsches ahnte ich natürlich nicht, und deshalb erschien mir auch jetzt, als nun wirklich die Erfüllung desselben gelingen zu wollen schien, diese Realisation so problematisch, daß mir in den ersten Tagen das Ganze als ein schöner Traum erschien. Erst ganz allmählich mußte ich meine Gedanken daran gewöhnen und meine Pläne für die Herbstferien, welche ich hier ganz ausharren zu müssen geglaubt hatte, danach umgestalten. Wenn die Dinge so zur Ausführung kommen, wie sie jetzt in unserm Plane liegen, so werde ich etwa am 8. oder 9. September von hier abreisen, über Frankfurt, Basel, Bern nach Vevey gehen und dort Kölliker, der schon in acht Tagen dorthin abreist, abholen. Von da wollen wir über den St. Bernhard oder Mont Cenis nach Turin und über den Col di Tenda nach Nizza gehen, wo wir über vier Wochen mikroskopieren werden. Von da gehen Kölliker und Heinrich Müller dann nach Paris, während ich meine Rückreise über Genua, Novara, Lago Maggiore, Splügen, Chur, Bodensee, Augsburg usw. einzurichten gedenke. Wie jammerschade, daß mich der Zeitmangel zwingt, die herrlichen Schweizer Gegenden nur so im Fluge zu durcheilen. Wie schön und bequem ließe sich mit dieser Route eine köstliche Schweizerreise verbinden! Doch das geht nun einmal leider nicht und ich muß mir dies Vergnügen für eine spätere Zeit aufsparen . . .

Kölliker und namentlich Heinrich Müller selbst, der schon mehrere Male in Nizza war, haben mir versichert, daß das Leben dort im Sommer relativ billig sei, 1 Fr. für das Zimmer, 2-3 Fr. für die Beköstigung täglich, also gegen 1 Taler, was im ganzen noch bedeutend billiger als in Helgoland sein würde. Erst im Winter (von November an), wo Nizza von einem Heere schwindsüchtiger Engländer überschwemmt wird, wird es sehr teuer. Die Hauptkosten würden daher auf die weite Hin- und Rückreise fallen. Doch Ihr wist, daß ich hierin so wenig üppig und verwöhnt bin und mich so einschränken kann, als man es von einem aller Mittel baren deutschen Studenten nur verlangen kann. Summa summarum würde die sechswöchentliche Reise danach höchstens auf gegen 150 Taler kommen. Doch kann ich Euch darüber noch Näheres schreiben. Sollte Euch diese Summe zu groß vorkommen, so bitte ich Euch zu bedenken, liebste Eltern, daß dies wohl auf mehrere Jahre die letzte Reise sein wird, die mir vergönnt ist, indem nächstes Jahr das Staatsexamen, 1858 das Militärjahr mich an Berlin fesseln wird. Auch verspreche ich Euch, durch möglichst sparsames und eingeschränktes Leben in Berlin, wo ich mit dem größten Vergnügen auf alle Vergnügungen verzichten werde, diese große Ausgabe möglichst wieder einzubringen. Endlich ist auch zu berücksichtigen, daß, ganz abgesehen von den ganz außerordentlichen Naturgenüssen und Freuden, dir mir die Reise bringen wird, der Nutzen für meine speziell wissenschaftliche und vergleichend-anatomische und histologische Ausbildung ganz ungeheuer sein wird und zu den relativ geringen angewandten Mitteln in gar keinem Verhältnis stehen wird. Daß es mir nun noch dazu vergönnt sein soll, von meinem weitberühmten und hochverehrten Lehrer Kölliker in dies zoologische Paradies eingeführt zu werden, ist ein Glück, das mir in dieser Weise nur dies eine Mal blühen kann und das mir ebenso ganz unerwartet als höchst erwünscht gekommen ist. Doch jetzt genug davon! Ich gerate sonst wieder in Gefahr, enthusiastisch zu schwärmen und von Dir, lieber Vater, eine Nase für meine Neigung zu Extremen zu bekommen. Was diese letzteren anbetrifft, so muß ich Deinen Bemerkungen darüber allerdings vollkommen recht geben. Nur glaube ich, daß die Sache, nämlich meine sehr geringe Neigung zur goldnen Mittelstraße, vorläufig, d. h. für meine Entwicklungsjahre (etwa vom 20.-25. Jahr), auch ihre guten Seiten hat. Wenigstens sehe ich, daß gar viele meiner Bekannten, die sich immer höchst sorgfältig dieser Mittelstraße befleißigen, auch sehr mittelmäßige Leute werden und nur Mittelmäßiges leisten. Andererseits glaube ich, daß ich die glückliche Richtung, in welche ich in letzter Zeit hineingekommen bin und auf der ich jetzt mit wissenschaftlichem Bewußtsein mich weiter auszubilden fortfahren kann, zum großen Teil auch dem gewiß einseitigen extremen Enthusiasmus, der Intensität verdanke, mit der ich Sachen, die mich wirklich interessieren, aufnehme und verfolge. Freilich ist auch viel Verfehltes bei diesen Einseitigkeiten und Virchow lächelt nicht mit Unrecht, wenn er mich den "enthusiastischen" statt den "nüchternen" Beobachter nennt. Übrigens bin ich gegen die Fehltritte, welche solche Schwankungen von Extrem zu Extrem gar zu leicht mit sich bringen, durch die feste Richtung, welche ich Eurer konsequenten, sittlich religiösen Erziehung, liebste Eltern, verdanke, mehr als viele andern geschützt . . .

Euer alter Ernst.

91. Würzburg, 13. 8. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Die Meeresfauna von Nizza gehört zu den reichsten und glänzendsten, die wir kennen. Nicht nur kommen dort alle in Helgoland vertretenen Seetiergattungen mit ihren reichen, schönen und mannigfaltigen Arten vor, sondern auch wimmelt es daselbst von den vielen und grade höchst merkwürdigen und lehrreichen Familien, welche in Helgoland selten sind oder ganz fehlen. Dahin gehören aber grade die merkwürdigsten aller wirbellosen Tiere, vor allem die prachtvollen Siphonophoren oder Schwimmpolypen, dann die Salpen, das unzählige Heer der Tintenfische oder Kephalopoden, die Rippenquallen, eine Auswahl der wunderbarsten Fische, Krebse und Muscheln, die Pteropoden usw. usw. Kurz, Nizza ist in dieser Beziehung das einstimmig anerkannte Paradies des wissenschaftlichen Zoologen. Daß ich nun in diese fast überwältigende Fülle, in der ich mich nur sehr schwer zurechtfinde, an der Hand eines erfahrenen Gelehrten eingeführt werden soll, der alle diese Formen schon gründlich kennt, daß dieser Mentor noch dazu mein höchst verehrter Lehrer Kölliker, dem ich die Grundlage meiner ganzen anatomischen Bildung verdanke, sein soll, daß ich jetzt noch als Student mit dem empfänglichsten, jugendlich frischesten Gemüte diese Eindrücke aufnehmen soll, das ist in der Tat ein Glück, wie es nur äußerst selten geboten wird und wie ich es nur im Traum ahnen konnte. Ein Hauptvorteil, den mir der Aufenthalt in Nizza bringen würde, wäre ferner die Erlangung einer zootomischen Dissertation, was mir sehr lieb sein würde. Daß es dort an Stoff dazu nicht mangelt, versteht sich von selbst. Von den außerordentlichen Naturgenüssen, die ich außerdem in Nizza, einem der herrlichsten Punkte der Mittelmeerküste, mit seiner prächtigen südlichen Vegetation und Seeflora, haben würde, will ich ganz schweigen, da diese nicht in Betracht kommen können, obwohl sie nach einem ganzen Sommer schwerer pathologisch-anatomischer Arbeit wohl verdient sein dürften! Nur der großen Vorteile, welcher auch mein einer Ausspannung aus der Stubenatmosphäre jetzt recht bedürftiger Körper davon haben dürfte, namentlich der köstlichen Seebäder, möchte ich noch erwähnen . . .

Euer treuer alter Ernst.

92. Würzburg, 22. 8. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Mein hiesiges Leben ist natürlich jetzt schon halb tot, da ich mindestens mit der Hälfte meiner Gedanken nur in Nizza bin und im Mittelmeere Salpen, Pteropoden, Kephalopoden, Pyrosomen, Holothurien, Siphonophoren usw. und vieles andere herrliche Viehzeug, was ich in Helgoland nie zu Gesicht bekam, fische, angle, bewundre, zerlege, mikroskopiere usw. Kaum kann ich die Zeit erwarten, wo ich dies zoologische Paradies betreten soll. Oft will mir alles nur noch wie ein Traum vorkommen und um so größer ist dann die Freude, wenn ich mir versichere, daß er sich wirklich realisieren soll. Morgen reist auch Müller ab, so daß ich jetzt vollständiger Alleinherrscher der Anatomie werde . . .

Gestern erhielt ich einen sehr lieben Brief von Lachmann, der sich Euch bestens empfehlen läßt. Johannes Müller geht ebenfalls an das Mittelmeer, wahrscheinlich nach Marseille, vielleicht doch auch nach Nizza. Das wäre doch ganz herrlich, wenn wir diesen göttlichsten aller Naturforscher dort träfen! . . .

Euer alter Ernst.

93. Würzburg, 27. 8. 1856.

Liebste Eltern!

. . . Den Tag meiner Abreise habe ich noch nicht bestimmt und werde ihn ganz danach einrichten, ob Ihr noch herkommt oder nicht. Gebt Ihr den Besuch Würzburgs wirklich auf, wie Ihr im letzten Briefe bestimmt schriebet, so würde ich bereits am 5. oder 6. September von hier mit dem Dr. Kunde, der bis dahin noch auf mich warten will, abreisen. Wir würden dann über Basel, den Bieler und Neuchateller See nach Lausanne gehen und ich mich an dem herrlichen Genfer See ein paar Tage aufhalten können. Dies wäre mir namentlich deshalb sehr lieb, weil Claparde, der mich dringend gebeten hat, ihn doch ja auf seinem schönen Landsitz Clermont bei Genf zu besuchen, jetzt dort (zu Haus) ist. Auch würde ich mir einige schöne Orte, die ich sonst im Fluge durcheilen müßte, dann genauer ansehen können. Dieser Teil der Schweiz und namentlich der Genfer See soll allerdings so reizend sein, daß ich schon große Lust dazu hätte. Indes bitte ich Euch dringend, Euch dadurch keineswegs von dem Besuch Würzburgs abhalten zu lassen, im Falle Ihr mich am 6. oder 7. September noch hier besuchen wolltet. Ich würde dann erst am 8. von hier abreisen, da ich erst am 11. notwendig in Vevey sein muß, wenn ich am 12. mit Kölliker von dort abreisen will. Den Genfer See, Genf, Lausanne usw. sehe ich doch vielleicht mal später wieder, und welche Freude Ihr uns durch Euren Besuch machen würdet, wißt Ihr ja . . .

Nun ade, du altes Würzburg! Nun ade, zum letztenmal! - Wie oft habe ich mir schon gesagt: "Nun ade, zum letztenmal!" und immer bin ich wieder gekommen. Jetzt müßte es aber doch schon sehr sonderbar zugehen, wenn ich das alte Nest nochmal wiedersehe, d. h. längere Zeit darin bleiben sollte! Hier bin ich zuerst Mensch, Mediziner, Naturforscher geworden, hier habe ich erst die köstlichsten Seiten unserer herrlichen Wissenschaft kennen und ergründen gelernt! Hier habe ich die besten Freunde und Lehrer gefunden, hier habe ich erst aus mir selbst heraus und in das Leben hinein treten lernen! Hab' tausend Dank, du altes Würzburg, nie werde ich dir diese Verdienste vergessen, wenn du mir auch dabei bittere und katzenjämmerliche Lehrstunden genug gegeben hast! . . .

Seid aufs herzlichste gegrüßt von

Eurem dankbaren, Euch innigst liebenden alten jungen Ernst.