Italienfahrt - Ernst Haeckel

Paris, 10. 4. 1860

Brief Nr. 71

. . . Ich mag anfangen, was ich will, ich mag mich in das bunte Volksgedränge der wimmelnden Boulevards oder die herrlichen Kunstschätze des Louvre stürzen, ins Theater gehen oder im Bois de Boulogne spazieren, immer und überall nehmen die flüchtigen Gedanken gleich Reißaus und spaziren noch einige hundert Meilen weiter nach Osten, wo sie im öden Sand der Mark einen reizenden, kostbaren Edelstein finden, das liebste, herzigste Mädchen auf der Welt. Gestern z. B. wollte ich eine Wanderung längs der ganzen Boulevards machen, um sie mir recht genau anzusehen - und ehe ich mich´s versehe, stehe ich schon, statt am Anfang, am Ende; wie ich dorthin gekommen,weiß ich noch nicht, denn gesehen hatte ich noch gar nichts von all den Herrlichkeiten, durch die ich mitten durchgewandert war. Statt dessen hatten aber die Gedanken den allerschönsten Spaziergang gemacht und waren mit meinem Schatzchen am Arm durch die Linden und den Tiergarten, in Freienwalde und Heringsdorf umhergewandert! Und so geht es mir mit allem, allem! "Überall begleitet mich lieblich und mild meiner Geliebten zauberisches Bild!" . . .

Den Abend nach meiner Ankunft verbrachte ich im Cafe mit zwei deutschen Professoren, einem Mathematiker, Prof. Riemann aus Göttingen, und einem Physiologen Dr. Czermak aus Pest. Ersterer teilte mir eine Trauernachricht mit, die mich aufs schmerzlichste und tiefste bewegte, obwohl sie mir nicht unerwartet kam, nämlich den Tod meines innigsgeliebten Freundes Otto Beckmann, eines der besten, edelsten und ausgezeichnetesten von allen meinen Freunden. Ich hatte schon den Winter hindurch mehrmals Nachricht von seinem höchst leidenden und traurigen Zustand erhalten. Aber trotzdem hat mich der nun wirklich eingetretene Tod doch aufs tiefste betrübt. Freilich war sein ganzer Körper so schwächlich, daß er das schlimme Brustleiden nicht lange mehr tragen konnte, eine erbärmlich elende Hülle für einen so großen und herrlichen Geist! . . .

Heute, Dienstag, habe ich mit dem Studium der Kunstschätze begonnen, und zwar gleich mit dem größten, dem Louvre, welches hinsichtlich der Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit der darin vereinigten Sammlungen unsern neuen Museen am nächsten steht. Im untern Teil (parterre) sind die altassyrischen Kunstsachen ausgestellt, die erst in neuester Zeit bei Palmyra, Ninive und Babylon ausgegraben worden sind, ganz kolossale Reliefbilder. Am meisten erfreuten mich, wie immer, die antiken Skulpturen. Die Anzahl derselben ist zwar nicht besonders groß, aber es sind ganz herrliche Statuen ersten Ranges darunter, vor allem die als die schönste gepriesene Venus von Melos, ferner die Diana von Versailles (eine prächtige, hohe, leichtgeschürzte Gestalt, mit der Hirschkuh daneben), der Borghesische Fechter, die Pallas von Velletri u. a. Auch viele gute Nachbildungen von unseren Lieblingen, von dem reizenden, verschleierten Mädchen, dem lykischen Apollo Sauroktonos usw. Im oberen Stock ist die kolossale Gemäldesammlung so ausgedehnt, daß ich heute nur einen allgmeinen Überblick gewinnen konnte. Die hier reich vertretenen Bilder der italienischen Schule, besonders viele Tizian, Leonardo und Raffaelstücke I. Ranges versetzten mich lebhaft, nicht weniger als die Statuen, in die Kunstgenüsse von Rom und Florenz, die nun schon über ein Jahr hinter mir liegen. An Rom werde ich überhaupt hier oft erinnert, da Paris in sehr vielen Beziehungen Parallelen mit jener antiken Weltstadt bietet, wie verschieden sie auch der moderne Charakter stempeln mag. Der erste Eindruck, den ich in den ersten Tagen meines Hierseins erhalten habe, war doch sehr großartig und mir wird namentlich Berlin jetzt nur wie eine kleine Provinzstadt vorkommen. Das relative Größenverhältnis beider Städte geben recht gut die Boulevards an, welche den Berliner Linden entsprechen, aber 6-7mal so lang und ungleich prächtiger und belebter sind. Wie sehr mich aber auch die kolossalen Größenverhältnisse der Seinestadt, der Glanz und Luxus, die Üppigkeit und Pracht ihres Weltlebens erstaunt haben, je, je mehr diese Pracht meine Erwartungen noch übertroffen hat, um so fremder und kälter stehe ich ihr gegenüber und habe immer nur den einen Gedanken: Gott sei Dank, daß du hier nicht dein Leben zubringen brauchst! Ich bin dieses großartigen Treibens müde und sehne mich von Herzen nach der stillen, klaren, reinen Quelle meines Glückes, die mir in der nordischen Heimat fließt. Könnte ich meine künftigen Tage mit meinem Schatz in Jena oder sonst einer kleinen Universität nahe einer einfachen und lieblichen Waldgebirgsnatur zubringen, so will ich gern auf Paris mit allen seinen Reichtümern für immer verzichten.

Was Berlin im kleinen besitzt, findet man hier alles im großen, zum Teil in kolossalen Maßstabe wieder. Viele Einrichtungen, denen ich auf Schritt und Tritt begegne, zaubern mich schon lebhaft nach Berlin hin und fallen mir jetzt doppelt auf, da ich sie in Italien nun 14 Monat lang nicht gesehen habe. Überhaupt ist mir der Unterschied von Italien und Frankreich so groß erschienen, oder noch größer, als der von Italien und Deutschland, wenigstens was das öffentliche Leben betrifft. Von dem ersten Moment an, wo ich französischen Boden berührte, habe ich in Frankreich in allen öffentlichen Verhältnissen überall nur die strengste, musterhafteste Ordnung gefunden, doppelt frappant, wenn man aus Italien kömmt, wo die privilegierte Unordnung in allen Stücken an der Tagesordnung ist. Ja, auch wir Deutschen können uns darin die Franzosen nur zum Muster nehmen. Ebenso ist die überall herrschende Reinlichkeit und Sauberkeit, die Höflichkeit und der Anstand, mit der man jedermann begegnet, nach den ganz entgegengesetzten Erfahrungen in Italien ungemein wohltuend. Besonders ist das Reisen, welches in Italien so sehr durch den unangenehmen Charakter des Volks, die Liederlichkeit und Unverschämtheit der Beamten, den Mangel aller fester Preise, aller Regel und Ordnung, verleidet wird, hier dadurch sehr erleichtert, ja, ein wahres Vergnügen. Über nichts habe ich mich hier so gefreut, als die ewigen Zänkereien und Handeleien los zu sein, die in Italien jeden Augenblick unvermeidlich sind.

Nicht weniger als die Menschen, hat auch die Naturvon Frankreich einen ganz der von Italien entgegengesetzten Eindruck auf mich gemacht. Freilich war der italienische Himmel, das tiefe Meeresblau, der bunte, zauberhafte Farbenglanz, der mich an der kalabrischen Küste jeden Tag mit neuer Bewunderung erfüllte, als ich in Marseille erst wieder Mitteleuropas Festland betreten hatte, wie mit einem Schlage verschwunden. Zufälligerweise war auch in den ersten Tagen der ganze Himmel von einer dichten, grauen Wolkendecke verschleiert, so daß kein einziges Sonnenstrählchen sich Bahn brechen konnte, und daß da die ganze Landschaft nur Grau in Grau gemalt erschien, war kein Wunder. Ja, in Marseille war das Auge ordentlich betrübt, nun dem bunten Reich der glänzenden Farben mit einemmal gänzlich entrückt zu sein, und es regte sich noch einmal der Schmerz, von dieser Farbenherrlichkeit des Südens, vielleicht für immer, Abschied genommen zu haben. Aber als ich nun bei der Fahrt im Rhonetale herauf erst wieder unsere alten wohlbekannten, nordeuropäischen Bergkuppen, als ich die ersten grünen Wiesen und Saatfelder, als ich, seit mehr als einem Jahre, zum erstenmal in der Rhone wieder einen breiten, mächtigen Strom erblickte - und als nun gar am Karfreitag morgen der liebe, alte, lichtblaue Nordhimmel mit sonnverklärtem milden Glanze (den er gewiß von den Augen meiner Änni geborgt hatte!) mich freundlich und liebevoll anschaute, als zum erstenmal wieder die Schlagschatten der leichten Federwölkchen über das zarte samtige Freudiggrün der jungen Saatfelder und der aufgrünenden Wiesen wegeilten, als ich am Holunderbusch und dem Haselstrauch das zarte junge Grün vorschauen und Schlehdorn und Kirschbäume mit dem prächtigsten, weißen Blütenschnee überschüttet sah - und als aus all der jungen, erwachenden Frühlingslust die alten, wohlbekannten Lieder der Lerchen, Finken und Drosseln mich anjubelten -, da war auch aus meinem Herzen der letzte Rest des Kummers, von dem schönen, farbenbunten Süd getrennt zu sein, verschwunden, und ich mußte laut jauchzend mit einstimmen in des Jubellied der Vögel und hätte die liebe Natur umarmen mögen, in dem seligen Bewußtsein, jetzt dem heißersehnten Norden auf Dampfesflügeln wieder zuzueilen . . .


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