Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 10. 2. 1860

Brief Nr. 64

Heute habe ich Dir für zwei Briefe zu danken, meine liebe, gute Änni, da außer dem ordentlichen, am letzten Dienstag fälligen Briefe (vom 1. 2.) auch der langersehnte, vor 14 Tagen so sehr vermißte, nachträglich noch glücklich eingetroffen ist. Am 18. 1. von Berlin abgeschickt, war er richtig am 24. 1. hier eingetroffen, aber, wie meine hiesigen Bekannten richtig argwöhnten, von der Polizei zurückgehalten und erbrochen worden. Die neapolitanische Regierung fürchtet nämlich jetzt wieder sehr den Ausbruch einer Revolution und läßt sehr nach den ausländischen Agenten suchen, welche denselben angeblich schüren sollen. Daher werden außer den Briefen der Inländer auch viele Briefe an Ausländer vor der Ausgabe von der Polizei durchgelesen, um der angeblichen Wühlerei auf die Spur zu kommen. Bei den deutschen Briefen dauert nun aber diese Zensurdurchsicht sehr lange, da immer ein ganzes Kollegium gelehrter Mönche zusammengeholt werden muß, ehe er halbwegs entziffert werden kann. Und selbst dann, glaube ich, bleibt er ihnen doch noch ein Rätsel. In Deinem Briefe wenigstens müssen sie gar nichts Verdächtiges gefunden haben, da ich ihn nun nachträglich doch noch erhielt. Dieselbe schändliche Maßregel der Briefexamination ist auch schuld daran, daß wir die Briefe immer erst am Nachmittag erhalten, selbst wenn der Vapore schon in der Nacht vorher angekommen ist. Der ganze Briefbeutel wandert nämlich direkt vom Dampfschiff - nicht auf die Post, sondern auf die Polizei, wo alle Briefe sorgfältig durchgesehen und alle nur etwas äußerlich verdächtigen zurückgehalten und erbrochen werden . . .

Wann ich übrigens abreise, kann ich immer noch nicht bestimmen, da es wesentlich von dem Zufluß des Radiolarienmaterials abhängt, dessen Quelle mir so reichlich fließt, daß ich, seit ich Dir zum letztenmal darüber schrieb, (also im Februar bis jetzt) wieder zehn schöne, neue Tierarten entdeckt habe, mithin das Schock jetzt voll geworden ist. Ich hoffe aber sehr stark, es noch bis zum 100 zu bringen! Das wäre ein Triumpf! Siehst Du, je mehr der Mensch bekömmt, desto ungenügsamer wird er! Du kannst denken, mit welchem Jubel ich heut Nr. 60 in das Verzeichnis meiner Entdeckungen eintrug! Ist doch das alles für meine Änni, und ist jeder Schritt, den ich hier glücklich tue, ein Schritt weiter zu unserer Vereinigung. Ende März denke ich aber doch mit dem Werk abschließen zu können und dann eile ich auf Flügeln in Deine Arme . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 9. August 1999