Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 29. 5. 1859

Brief Nr. 26

Liebe Eltern!

Am 26sten erhielt ich Euren lieben, am 20ten abgeschickten Brief. Vor allem habe ich mich sehr gefreut, daß es Dir, liebste Mutter, wieder besser geht und Du Dich ordentlich erholst. Nimm Dich nur recht noch in acht und krame nicht zu viel im Haus herum, besonders bei der Wäsche. Mit welcher Teilnahme ich die Nachrichten über Alexander von Humboldts Tod und Begräbnis gelesen, könnt Ihr denken. Doch hatte er in glücklichster Tätigkeit sein volles Leben ausgelebt und die ewige Ruhe wohl verdient. Deshalb ist der Verlust nicht entfernt so groß wie vorm Jahre der von Johannes Müller, der sich wohl mit Humboldt messen konnte, ja, ihn in vielem überflügelte, wenn uach seine Tätigkeit auf beschränkterem Felde sich hielt. Dieser wurde in der Blüte der Jahre aus der vollen Tätigkeit gewaltsam herausgerissen, und sein Verlust für die Wissenschaft wie für die nahestehenden Schüler ist gleich unersetzlich. Ich freue mich bei allem, was ich hier finde, immer nur halb so, als wenn ich wüßte, daß ich es Johannes Müller mitteilen könnte; und auch seine Stütze entbehre ich gar sehr. Meine ganze Entwicklung ist durch den frühzeitigen Tod Müllers gehemmt und wesentlich zurückgeblieben, da er grade in den Moment fiel, wo ich mit ihm erst recht vertraut geworden war und von dem häufigen Verkehr mit ihm den größten Nutzen hätte haben können. Auch für mein weiteres Fortkommen würde ich an ihm eine Stütze gehabt haben. Und wie mir, so fehlt er vielen andern seiner Schüler. Die unerbittliche Parze war zu grausam, ihm mitten im vollen Lauf den Lebensfaden abzuschneiden. Humboldt dagegen hat ausgelebt und den Kreis seiner Tätigkeit vollkommen durchlaufen . . .


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