VII.

Meine Herren!


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Durch die klare Erkenntniss, dass jedes menschliche Individuum im Beginne seiner Existenz eine einfache Zelle ist, dass diese Zelle ganz eben so gebaut ist wie die Eizelle der übrigen Säugethiere, und dass die Entwickelungsformen, die aus dieser Zelle hervorgehen, dieselben sind, schaffen wir uns das feste Fundament, von dem aus wir diese weiteren Entwickelungsvorgänge verfolgen können. Wir haben dadurch erstens für den empirischen Theil der Entwickelungsgeschichte, für die unmittelbar mittelst des Mikroskopes zu verfolgenden Thatsachen der Ontogenese, die für unsere Beurtheilung derselben sehr wichtige Ueberzeugung gewonnen, dass der vielzellige entwickelte Organismus mit allen seinen verschiedenen Organen beim Memschen ebenso wie bei den übrigen Thieren aus einer einzigen einfachen Zelle hervorgeht. Zweitens haben wir dadurch für die Phylogenese, für den speculativen Theil der Entwickelungsgeschichte, der sich auf jene Thatsachen stützt, den Schluss erreicht, dass auch die ursprüngliche Stammform des Menschen wie der übrigen Thiere ein einzelliger Organismus war. Das ganze schwierige Problem der Entwickelungsgeschichte ist also jetzt dadurch auf die einfache Frage zurückgeführt: "Wie ist aus dem einfachen einzelligen Organismus der zusammengesetzte vielzellige Organismus entstanden? Durch welche natürlichen Vorgänge hat sich aus eienr einfachen Zelle jener complicirte Lebens-Apparat mit allen seinen mannichfaltigen Organen hervorgebildet, dessen scheinbar sinnreiche und zweckmässige Construction wir in dem entwickelten Körper bewundern?"

Indem wir uns jetzt zur Beantwortung dieser Frage wenden, müssen wir vor Allem die bereits angedeutete Anschauung fest halten, dass der vielzellige Organismus durchaus nach denselben Gesetzen aufgebaut und zusammengesetzt ist, wie ein civilisirter Staat, in welchem sich viele verschiedene Staatsbürger zu verschiedenen Leistungen und zu gemeinsamen Zwecken verbunden haben. Dieser Vergleich ist von der grössten Bedeutung für das ganze Verständnis der Zusammensetzung des Menschen aus verschiedenartigen Zellen, und für das Verständnis des harmonischen Zusammenwirkens dieser verschiedenen Zellen zu einem scheinbar vorbedachten Zwecke. Wenn wir diesen Vergleich festhalten, und diese bedeutungsvolle Auffassung des vielzelligen entwickelten Organismus als eines staatlichen Verbandes von vielen Individuen auf seine Entwickelungsgeschichte anwenden, so gelangen wir zu dem richtigen Verständniss von dem eigentlichen Wesen der ersten und wichtigsten Entwickelungsvorgänge. Ja wir können sogar bei tieferem Nachdenken die ersten Stadien der Entwickelung errathen und a priori feststellen, ohne dass wir zunächst die Beobachtung, dei Erkenntniss a posteriori, zu Hülfe nehmen.

Wir wollen einmal zunächst diesen umgekehrten Weg einschlagen und nicht, wie wir später thun werden, ersst die Thatsachen der Ontogenesis betrachten und daran die phylogenetiche Deutung knüpfen. Lassen Sie uns vielmehr hier umgekehrt versuchen zu errathen, wie sich die Entwickelung gestalten müsste, wenn jener fundamentale Vergleich richtig ist. Wenn dann nachher die Thatsachen der Ontogenesis unsere Vorraussetzungen bestätigen, so werden wir nur um so sicherer von der unumstösslichen Wahrheit unserer phylogenetischen Schlüsse überzeugt sein. Wir werden dann in dieser Uebereinstimmung eine so glänzende Rechtfertigung unserer Anschauungen finden, wie sie kaum auf anderem Wege gewonnen werden könnte.

Lasse Sie uns daher jetzt zunächst die Frage beantworten: "Wie wird sich, vorausgesetzt die Richtigkeit des biogenetischen Grundgesetzes, im Beginne des organischen Lebens auf der Erde (im Beginne der Schöpfung, wie man gewöhnlich sagt) der ursprüngliche einzellige Organismus verhalten haben, welcher den ersten Zellenstaat gründete und somit der Stammvater der vielzelligen höheren Organismen wurde?" Die Antwort ist sehr einfach. Er muss sich ganz ebenso verhalten haben, wie ein nach bewussten Zwecken handelndes menschliches Individuum, welches einen Staat oder eine Colonie gründet. Verfolgen wir diesen Vorgang in seiner einfachsten Form, wie er z. B. in dem inselreichen pacifischen Ocean bei Bevölkerung der isolirten Inseln leicht stattgefunden haben kann. Ein Südsee-Insulaner, der mit seiner Frau in einem Boot auf den Fischfang ausgefahren ist ist, wird von einem Sturm überrascht, weit fortgeführt und endlich an eine weit entfernte, bisher völlig unbewohnte Insel angetrieben. Dieses "erste Menschen-Paar", das auf dem einsamen Eiland isolirt bleibt und die Rolle von Adam und Eva spielt, erzeugt eine zahlreiche Nachkommenschaft und bildet so den Grundstamm für die künftige Bewohnerschaft der Insel. Ohne alle Hülfsmittel, wie sie sind, ohne die zahlreichen Unterstützungsmittel, welche die Grunder fortgeschrittener Cultur-Staaten besitzen, werden die Nachkommen dieses isolirten Wilden-Paares sich zunächst als echte Wilde entwickelt haben. Ihr einziger Lebenszweck wird Jahrhunderte hindurch so einfach geblieben sein, wie bei den niederen Thieren und Pflanzen: der einfache Zweck der Selbsterhaltung und der Erzeugung von Nachkommenschaft; sie werden sich mit den allereinfachsten organischen Functionen: der Ernährung und der Fortpflanzung begnügt haben. Hunger und Liebe sind ihre einzigen Triebfedern.

Lange, lange Zeit hindurch werden diese Wilden, die sich über die ganze Insel zerstreuten, alle nur den gleichen einfachen Zweck der Selbsterhaltung verfolgt haben. Allmählich aber häuften sich mehrere Familien an einzelnen Stellen an, es entstanden grössere Gemeinden und nun begannen sich vielfache Wechselbeziehungen zwischen den Individuen, und in Folge dessen die ersten Anfänge der Arbeitstheilung zu entwickeln. Einzelne Wilde blieben bei dem Fischfang und der Jagd, Andere fingen an das Land zu bebauen, noch Andere übernahmen die Pflege der sich entwickelnden Religion und Medicin u. s. w. Kurz es sonderten oder differenzirten sich in Folge fortschreitender Arbeitstheilung die verschiedenen Stände oder Kasten, die in dem weiter entwickelten Staate sich immer schärfer von einander abgrenzen, die alle sich in verschiedene Aufgaben theilen und doch für den Zweck des Ganzen zusammenwirken. So entsteht allmählich aus der Nachkommenschaft eines einzigen Menschen-Paares zuerst eine einfache Gemeinde vonursprünglich gleichartigen Individuen, später ein mehr oder weniger geordnetes staatliches Gemeinwesen. In diesem können wir die mehr oder weniger fortgeschrittene Arbeitstheilung der Individuen oder die sogenannte Differenzirung geradezu als Massstab für den Entwickelungsgrad der Cultur betrachten.

Der hier kurz angedeutete Vorgang, den Sie sich leicht selbst im Einzelnen weiter ausmalen können, wird nun in ganz ähnlicher Weise vor vielen Millionen Jahren stattgefunden haben, als im Beginne des organischen Lebens auf der Erde sich zuerst einzellige, später vielzellige Organismen entwickelten. Zuerst haben die einzelnen Zellen, welche durch Fortpflanzung aus der ältesten Stammzelle entstanden, isolirt für sich gelebt; jede verfolgte dieselben einfachen Aufgaben, wie alle anderen; sie begnügte sich mit der Selbsterhaltung, Ernährung und Fortpflanzung. Später sammelten sich isolirte Zellen zu Gemeinden. Gruppen von einfachen Zellen, die durch wiederholte Theilung einer Zelle entstanden, blieben beisammen, und nun fingen sie allmählich an, sich in verschiedene Lebensaufgaben zu theilen. Bald traten so die ersten Spuren einer Sonderung, Differenzirung oder Arbeitstheilung ein, indem die eine Zelle diese, die andere jene Aufgabe ergriff. Die einen Zellen werden sich wesentlich den Geschäften der Nahrungsaufnahme oder der Ernährung gewidmet, andere Zellen werden sich nur mit der Fortpflanzung beschäftigt, noch andere Zellen werden sich zu Schutzorganen der kleinen Gemeinde herausgebildet haben u. s. w. Kurz, es werden verschiedene Stände oder Kasten in dem Zellenstaate entstanden sein, die verschiedene Lebensaufgaben verfolgten und doch für den Zweck des Ganzen zusammen wirkten. Je weiter diese Arbeitstheilung vorschritt, desto vollkommener oder "civilisirter" wurder der vielzellige Organismus, der differenzirte Zellenstaat.

Wenn Sie in dieser Weise jenen Vergleich weiter verfolgen, so können Sie a priori behaupten, dass in Folge der Wechselbeziehungen, welche der Kampf umīs Dasein und das Zusammenleben vieler organischer Einzelwesen an einem gemeinsamen Wohnorte bedingt, im Beginne der organischen Erdgeschichte zuerst aus einem einzelligen Organismus eine vielzellige Gemeinde von lauter gleichartigen Individuen entstand, dass später zwischen diesen gleichartigen Zellen ein Arbeitstheilung eintrat, und dass endlcih in Folge fortschreitender Sonderung derselben ein verwickelter vielzelliger Organismus mit vielen verschiedenen Organen entstand, die alle für den Zweck des Ganzen zusammenwirken. Um diesen bedeutungsvollen Vergleich recht zu würdigen, würde es nöthig sein, hier speciell auf die Lehre von der Arbeitstheilung oder Differenzirung einzugehen, die gegenwärtig in der Biologie eine sehr wichtige Rolle spielt, besonders seitdem dir durch Darwinīs Selections-Theorie ihre wahren Ursachen verstehen gelernt haben. Indesen muss ich Sie bezüglich der näheren Ausführung, die uns hier zuweit abführen würde, auf Darwinīs Lehrte von der Divergenz des Charaktes und auf meinen Vortrag über Arbeitstheilung verweisen. Theilweise werden wir noch später darauf zurückkommen26).

Zunächst wollen wir jetzt vielmehr untersuchen, ob die phylogenetischen Voraussetzungen, die wir hier a priori gemacht haben, mit den Thatsachen übereinstimmen, welche die Ontogenesis uns vor Augen führt; ob auch wirklich bei der individuellen Entwickelung der Organismen aus der Eizelle dieselben Erscheinungen zu Tage treten, die wir hier in jenem Vergleich als nothwendig vorausgesetzt haben. Hier ist nun das Resultat im schönsten Einklang mit unseren Folgerungen, und wir finden, dass die Thatsachen der individuellen Entwickelung, wie wir sie mit unseren Augen unter dem Mikroskop verfolgen können, in der That vollkommen dem Bilde entsprechen, welches wir uns vorher a priori von dem phylogenetischen Entwickelungs-Process entworfen haben. Zu unserer Ueberraschung zeigt sich nämlich, dass die ersten Vorgänge, welche bei der Entwickelung des Individuums aus der Eizelle eintreten, und dass auch die weiteren einfachen Entwickelungsvorgänge, die zunächst zu beobachten sind, ganz mit den Vorgängen übereinstimmen, die wir zoeben bei der historischen Entwickelung einer Colonie von Wilden verfolgt und für die ersten phylogenetisch Processe bei der Entstehung eines vielzelligen Organismus gefordert haben.

Im Beginne der individuellen Entwickelung entsteht zunächst aus der einfachen Eizelle durch wiederholte Theilung ein Haufen von gleichartigen Zellen. Wir können diese geradezu einer Gemeinde von Wilden vergleichen, die noch nicht civilisirt sind. Diese gleichartigen Zellen vermehren sich weiter und es entstehen immer grössere Zellenhaufen. Wie in unserem Gleichniss jene ganze Wilden-Colonie aus der Nachkommenschaft eines einzigen isolirten Menschen-Paares hervorging, so sind auch alle die gleichartigen Zellen dieses Haufens (die wir nachher unter den Namen "Furchungskugeln" näher kennen lernen werden) die stammverwandten Nachkommen eines einzigen Zellenpaares. Ihr gemeinsamer Stammvater ist ie männliche Spermazelle un ihre Stammmutter die weibliche Eizelle.

Anfangs sin alle diese zahlreichen Zellen, ie aus der wiederholten Theilung der befruchteten Eizelle entstanden, ganz gleich und nicht zu unterscheiden. Allmählich aber tritt unter ihnen Arbgeitstheilung ein, indem sie verschiedene Aufgaben übernehmen. Die einen besorgen die Ernährung, andere die Fortpflanzung, anderen den Schutz, andere die Locomotion u. s. w. Wenn wir das gleich in die Sprache der Gewebelehre übersetzen, so können wir sagen: die einen von diesen Zellen werden zu Darmzellen, die anderen zu Muskelzellen, noch andere zu Knochenzellen, zu Nervenzellen, zu den Zellen der Sinnesorgane, zu den Zellen der Fortpflanzungsorgane u. s. f. Wir sehen also, dass der ganze individuelle Entwickelungsgang im wesentlichen jenem vorausgesetzten phylogenetischen Entwickelungsgange entspricht und darin finden wir eine glänzende Bestätigung unseres biogenetischen Grundgesetzes.

Diese Betrachtung leitet uns naturgemäss auf eine kurze Untersuchung der physiologischen Functionen oder Lebensthätigkeiten, welche überhaupt bei der individuellen, wie bei der phylogenetischen Entwickelung in Frage kommen. Scheinbar durchkreuzen und verflechten sich hier eine Menge von verwickelten Processen, und doch lassen sich eigentlich diese alle auf wenige einfache Functionen des Organismus zurückführen. Diese Functionen oder Lebens-Verrichtungen sind 1) die Ernährung; 2) die Anpassung; 3) das Wachsthum; 4) die Fortpflanzung; 5) die Vererbung; 6) die Arbeitstheilung oder Differenzirung; 7) die Rückbildung und 8) die Verwachsung. Die bei weitem wichtigsten von diesen acht Entwickelungsfunctionen, die vorzugsweise als die formbildenden Functionen gelten müssen, sind die Vererbung, die Anpassung und das Wachsthum.

Als die erste und nothwendigste Function der Entwickelung können wir die Ernährung bezeichnen. Wie bei allen anderen Lebens-Erscheinungen, so wird auch bei denjenigen der Entwickelung beständig Stoff oder Körpermasse verbraucht und der dadurch veranlasste Stoff-Verlust wird durch Zuführung neuer Substanz oder Nahrung ersetzt. Dieser beständige Stoffwechsel, die Aufnahme und Aneignung neuer Nährstoffe, die Ausscheidung verbrauchter Körpertheilchen, kurz alle die Vorgänge, die man unter dem Hauptbegriff der Ernährung zusammenfassst, sind für die Vorgänge der Entwickelung eben so nothwendige Vorbedingungen, wie für alle übrigen Leben-Thätigkeiten; sie sind eben so unentbehrlich für die Entwickelung der einzelnen Zelle, wie für diejenige des ganzen vielzelligen Organismus. Die Ernährung der einzelnen Zellen geschieht gewöhnlich dadurch, dass ihre weiche, festflüssige Zellsubstanz aus den umgebenden Säften ihr Nahrungs-Material in flüssiger Form aufsaugt, seltener dadurch, dass sie (gleich den Amoeben) feste geformte Körperchen in sich hineindrücken oder "fressen". (Vergl. oben Fig. 9, S. 113.) Ebenso geschieht auch die Ausscheidung der verbrauchten Stoffe meistens in flüssiger, seltener in fester Form.

Unmittelbar mit der Ernährung hängt zweitens die hochwichtige Lebens-Function der Anpassung zusammen, welche bei der fortschreitenden Entwickelung der Organismen die grösste Rolle spielt und eigentlich die erste Vorbedingung für jeden Fortschritt und für jede Vervollkommnung des Organismus ist. Die Anpassung vermittelt alle die Abänderungen oder Variationen, welche die organischen Formen unter dem Einflusse der äusseren Existenz-Bedingungen erleiden; sie ist die eigentliche Ursache jeder Abänderung. Da ich die Bedeutung der Abänderung und die verschiedenen Gesetze der Anpassung sehr ausführlich in meiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte erörtert habe, kann ich hier auf eine weitere Besprechung derselben verzichten und mache Sie nur noch darauf aufmerksam, dass alle diese verschiedenen Anpassungsgesetze füglich unter die beiden dort unterschiedlichen Reihen gebracht werden können, einerseits die indirecte oder potentielle Anpassung, andrerseits die directe oder actuelle Anpassung. Dass alle diese mannichfaltigen und wichtigen Erscheinungen sich von physiologischem Standpunkte aus auf die mechanische Function der Ernährung und zwar auf die elementaren Ernährungs-Verhältnisse der Zelle zurückführen lassen, habe ich zuerst in meiner Generellen Morphologie bewiesen (Band II, S. 193-226).

Diejenige Lebenserscheinung, welche bei der Entwickelung der organischen Individuen die grösste Rolle spielt und recht eigentlich als die Fundamental-Function der Entwickelung betrachtete werden kann, ist das Wachsthum. Diese Function ist für die Ontogenese von solcher Bedeutung, dass Baer sogar das allgemeinste Resultat seiner classischen Untersuchungen in dem einen Satze ausspricht: "Die Entwickelungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung." Im Grunde lässt sich auch das Wachsthum, ebenso wie die Anpassung, auf die allgemeiner Functino der Ernährung zurückführen: "Das Wachsthum ist Ernährung mit Bildung neuer Körpermasse." Anderseits kann aber das Wachsthum selbst auch als eine allgemeine Function er Naturkörper betrachtet werden, weil dasselbe eben so den anorganischen ("leblosen") wie den organischen ("belebten") Naturkörpern zukommt. Bei den ersteren, den Mineralien, ist dasselbe sehr oft eigentlich die einzige Function ihrer Entwickelung. Gerade deshalb ist das Wachsthum besonders interessant, weil es ebenso für das anorganische Individuum, en Krystall, wie für das einfachste organische Individuum, die erste Vorbedingung weiterer Entwickelung ist. Wachsthum ist zunächst ganz allgemein: Ansatz gleichartiger Körpermasse. So wächst der anorganische Krystall, in em er aus der Flüssigkeit, in welcher er sich befindet, gleichartige Bestandtheile anzieht, die dann aus der flüssigen in die feste Form übergehen. Ebenso wächst auch das einfachste organische Individuum, die Zelle, indem sie aus dem umgebenden Medium, gewöhnlich einer Flüssigkeit, diejenigen Bestandtheile an sich zieht und in festflüssige Form überführt, welche ihr mehr oder weniger gleichartig sind. Der Unterschied im Wachsthum der Krystalle und der einfachen organischen Individuen, der Zellen, besteht nur darin, dass erstere die neue Körpermasse äusserlich ansetzen, letztere sie innerlich aufnehmen. Dieser wesentliche Unterschied ist durch den verschiedenen Dichtigkeits-Zustand oder Aggregats-Zustand der beiderlei Körpergruppen bedingt. Die anorganischen Körper befinden sich entweder im festen oder im flüssigen oder im gasförmigen Zustande. Sie wachsen durch Apposition. Die organischen Körper befinden sich hingegen in dem vierten, dem weichen oder festflüssigen Aggregats-Zustande. Sie wachsen durch Intussusception27).

Jenes individuelle oder trophische Wachsthum ist aber nur die einfache oder directe Form des Wachsthums, wie sie den Krystallen und den einfachen organischen Individuen erster Ordnung gemeinsam ist. Dieser einfachen Form steht zweitens das zusammengesetzte oder numerische Wachsthum gegenüber, welches wir im Laufe der Entwicklung bei allen vielzelligen Organismen, bei allen Individuen zweiter oder höherer Ordnung wahrnehmen. Hier wächst nicht, wie man denken könnte die Zelle einfach fort, bis das ganze grosse organische Individuum mit allen seinen Theilen gebildet ist; sondern nachdem die Zelle ein gewisses, sehr geringes Maass der Grösse erreicht hat, überschreitet sie dasselbe nicht mehr, sondern zerfällt durch Theilung in zwei Zellen. Indem sich dieser Process des zusammengesetzten Wachsthums vielfach wiederholt, entsteht schliesslich ein vielzelliger Körper, der vielmals grösser ist, als die grössten Zellen. Hier ist das Wachsthum des grösser werdenden Organismus also nicht bloss Ansatz homogener Theile mehr, sondern beruht eigentlich auf der Zeugung, d. h. auf der Vermehrungg des ursprünglich einfachen Individuums.

Dieser ausserordentlich wichtige Process liefert uns zugleich das causale Verständniss von dem Wesen der Fortpflanzung oder elterlichen Zeugung, die demnach eigentlich als eine selbstständige vierte Entwickelungs-Function betrachtet werden muss. Allerdings lässt sich auch sie wieder auf die vorigen Functionen zurückführen. Denn im Grunde ist "die Fortpflanzung eine Ernährung und ein Wachsthum des Organismus über das individuelle Maas hinaus, welche einen Theil desselben zum Ganzen erhebt" (Generelle Morphologie, Band II, Seite 16). Es hängen also diese beiden Functionen ganz innig zusammen. Die elterliche Zeugung oder Fortpflanzung ist nur eine Fortsetzung des individuellen Wachsthums. Dieses beruht aber in seiner zusammengesetzten Form selbst wieder auf der Zeugung, der Vermehrung der constituirenden einfachen Individuen. Während einerseits die Fortpflanzung nur als ein Wachsthum des Individuums über ein individuelles Maass hinaus erscheint, so lässt sich anderseits das zusammengesetzte Wachsthum auf die Fortpflanzung der einfachen Individuen erster Ordnung zurückführen.Diese Auffassung führt uns zu einem klaren Verständniss der Fortpflanzung und damit auch der Vererbung, die sonst als ein räthselhafter und dunkler Vorgang erscheint.

Um sich von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, muss man von der einfachsten Form der Fortpflanzung ausgehen, von der Theilung, wie wir sie fast bei jeder Zelle sehen. Wenn die Zelle durch sehr reichliche Aufnahme von Nahrung ihr gewöhnliches Maass erreicht und überschreitet, so zerfällt sie durch Theilung in zwei Zellen. (Fig. 10). Ebenso tritt bei vielzelligen Thieren (z. B. Korallen), wenn ein gewisses indiviuelles Maass des Wachsthums überschritten wird, nothwendig eine Spaltung, ein Zerfall in zwei neue Individuen ein. Von dieser einfachen Form der Fortpflanzung ausgehend können wir die zahlreichen verwickelten Formen derselben verstehen lernen, die wir besonders bei niederen Thieren und Pflanzen antreffen. An die Theilung schliesst sich zu nächst die Knospenbildung, dann die Keimknospenbildung und weiterhin die Keimzellenbildung oder Sporenbildung an. Alle diese Formen der Vermehrung werden als ungeschlechtliche Fortpflanzung oder Monogonie zusammengefasst; niemals bedarf es hier des Zusammenwirkens verschiedener Individuen, um die Entstehung neuer selbstständiger Individuen zu bewirken28).

Ganz anders verhält sich die ungeschlechtliche Fortpflanzung oder Amphigonie. Ihr Wesen besteht darin, dass zwei verschiedene Zellen in bestimmter Weise sich verbinden und mit einander verschmelzen müssen, um die Entstehung eines neuen Individuums zu veranlassen. Da wir auf diesen geschlechtlichen Fortpflanzungsprocess gleich zurückkommen werden, wenn wir die Befruchtung des Eies betrachten, so wollen wir uns hier nicht weiter dabei aufhalten, sondern nur hervorheben, dass dieser geschlechtliche Zeugungs-Vorgang trotz seiner Eigenthümlichkeit sich doch eng an die höheren Formen der ungeschlechtlichen Zeugung und besonders an die Keimzellenbildung anschliesst. Während aber bei der letzteren sich eine einzelle Zelle aus dem Staats-Verbande des vielzelligen Organismus ablöst und die Grundlage eines neuen Individuums bildet, müssen bei der ersteren zu diesem Zwecke zwei verschiedene Elementar-Individuen, eine weibliche Eizelle und eine männlich Samenzelle sich mit einander verbinden, und in eine einzige Zellenmasse verschmelzen. Erst das so entstandene Doppel-Individuum ist im Stande, durch Theilung einen Zellenhaufen zu bilden, aus dem sich dann weiter ein neuer vielzelliger Organismus entwickelt29).

Unmittelbar hängt mit der Fortpflanzung eine fünfte, höchsst wichtige Entwickelungs-Function zusammen, die Vererbung. Ebenso wie wir die Anpassung auf die Ernährung zurückführen konnten, ebenso sind wir im Stande, die Vererbung als eine nothwendige Theil-Erscheinung der Fortpflanzung nachzuweisen, und zwar gilt das von beiden Reihen der Vererbungs-Gesetze, sowohl von denjenigen der conservativen (oder erhaltenden) als von denjenigen der progressiven (oder fortschreitenden) Vererbung. Da ich auch diese hochwichtigen Vererbungs-Gesetze, die mit den Anpassungs-Gesetzen in beständiger Wechselwirkung stehen, in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte ausführlich erläutert habe, wollen wir uns hier nicht bei ihnen aufhalten. (Generelle Morphologie, Band II, S. 170-191.)

Eine sechste Entwickelungs-Function von ausserordentlicher Bedeutung, welche man aber erst in neuerer Zeit recht zu würdigen begonnen hat, ist die Arbeitstheilung oder Differenzierung. Wir haben schon vorher gesehen, dass die Arbeitstheilung nicht allein im Staatenleben und im Gemeindeleben, sondern auch ebenso in dem socialen Zellen-Verbande jedes vielzelligen Organismus die wichtigste Triebfeder für die fortschreitende Entwickelung ist. Jeder Blick in einen Gemeinde-Verband oder in eine staatliche Organisation lehr uns ja, dass einerseits die Vertheilung der verschiedenen Aufgaben an die verschiedenen Stände der Staatsbürger und anderseits das Zusammenwirken dieser einzelnen Individuen für den gemeinsamen Staatszweck die erste Bedingung für jede höhere Entwickelung und Civilisation darstellt. Gerade so verhält es sich in jedem vielzelligen Organismus. Jedes vielzellige Individuum im Thier- und Pflanzenreiche ist um so vollkommener entwickelt, und steht um so höher, je ausgebildeter die Arbeitstheilung seiner constituirenden Elemente, der differenzirten Zellen-Individuen ist. Bei den verschiedenen Organismen-Klassen finden wir daher die Sonderung oder Differenzirung bald in mehr, bald in weniger ausgebildetem Zustande. Die einfachste Art der Arbeitstheilung finden wir bei denjenigen niederen Thieren, in deren Körper nur zweierlei Arten von Zellen sich gesondert haben. Das ist z. B. bei den niedersten Pflanzenthieren der Fall, bei den Schwämmen oder Spongien und bei den einfachsten Polypen, sowie bei deren gemeinsamen Stammformen, den Gasträaden. Hier finden wir in dem ganzen vielzelligen Körper nur zweierlei Arten von Zellen: die eine Zellenart vermittelt die Ernährung und Fortpflanzung; die andere hingegen die Empfindung und Bewegung dieser Thiere. Diese beiden Arten von Zellen sind dieselben, welche auch bei dem ersten Differenzirungs-Process der Keimblätter im menschlichen Embryo zunächst zur Ausbildung gelangen. Bei den meisten höheren Thieren geht aber diese Differenzirung oder Arbeitstheilung der Zellen viel weiter. Da übernehmen einige bloss das Geschäft der Ernährung; andere das der Fortpflanzung; eine dritte Gruppe von Zellen übernimmt die äussere Bedeckung des Körpers und bildet die Haut; eine vierte Gruppe, die Muskelzellen, bildet das Fleisch; eine fünfte Gruppe, die Nervenzellen, entwickelt sich zu Organen des Empfindens, des Wollens, des Denkens u. s. w. Und doch sind alle diese verschiedenartigen Zellen ursprünglich (in der Ontogenese) nur aus der einfachen Eizelle und deren gleichartien Nachkommen durch Arbeitstheilung hervorgegangen. Diese Arbeitstheilung oder Differenzirung ist nun aber in der entsprechenden Phylogenese ursprünglich gerade so aufzufassen, wie die Entwickelung der Arbeitstheilung in dem entstehenden menschlichen Staate; später in der Ontogenese, erscheint sie nur noch durch Vererbung übertragen, und wird bloss nach dem biogenetischen Grundgesetze wiederholt. Obgleich nun die Arbeitstheilung im Allgemeinen meistens zu einem Fortschritt sowohl des ganzen Organismus als auch der verschiedenen constituirenden Individuen, der einzelnen Zellen führt, so ist dieselbe doch in vielen Fällen auch Veranlassung zum Rückschritt oder zur Rückbildung. Nicht allein fortschreitende, sondern auch rückschreitende Veränderungen stellen sich im Gefolge der Arbeitstheilung ein26).

Die Rückbildung überhaupt ist als eine siebente Entwickelungs-Function zu betrachten, und spielt als solche keine geringe Rolle. Fast bei jeder Entwickelung eines höheren Organismus sehen wir, dass neben der fortschreitenden Entwickelung der meisten Theile auch in den einzelnen Theilen rückschreitende Entwickelungs-Processe vorkommen. Bei der Zelle äussert sich gewöhnlich diese rückschreitende Metamorphose zuerst darin, dass im Zellstoffe Fettkörnchen sich bilden. Indem das Protoplasma fettig degenerirt, geht die Zelle zugrunde. Während des Laufes der phylogenetischen Entwickelung können so ganze Organe rückgebildet werden, indem ihre constituirenden Zellen fettig entarten und aufgelöst werden. So verschwinden z. B. während der Ontogenese des Menschen und der übrigen Säugethiere gewisse Knorpel, Muskeln u. s. w., welche bei den Fischen, unseren uralten Vorfahren eine grosse Bedeutung hatten. Die höchst interessanten "rudimentären Organe" sind solche rückgebildeten Körpertheile, von denen sich Überbleibsel auf verschiedenen Stufen der Entwickelung noch erhalten. Dergleichen finden sich fast bei jedem höheren vielzelligen Organismus, der eine bedeutende Stufe der Entwickelung erreicht; hier ist fast niemals der Gesammtfortschritt des Ganzen durch die gleichmässig fortschreitende Entwickelung aller Zellen bedingt; vielmehr gehen während der Ontogenese eine Anzahl von Zellen zu Grunde, während andere sich auf deren Kosten fortbilden. Dieselbe Erscheinung treffen wir ja auch in der menschlichen Gesellschaft an, wo beständig viele Individuen früher oder später zu Grunde gehen, ohen dass Etwas aus ihnen wird, während die Mehrzahl sich mehr oder weniger fortschreitend entwickelt. Dieser Vergleich trifft vollkommen zu, da die Verhältnisse der individuellen Zusammensetzung im Staate und im vielzelligen Organismus auch in dieser Beziehung gleich sind.

Endlich haben wir noch als eine achte und letzte Function der organischen Entwickelung die Verwachsung oder Concrescenz zu erwähnen, die zwar im Ganzen weniger auffallend erscheint, aber für manche Vorgänge doch recht wichtig ist. Die Verwachsung besteht darin, dass zwei oder mehrere Individuen, die ursprünglich getrennt waren, nachträglich sich verbinden und zu einenm einzigen Individuum zusammenwachsen. Wir können den Vorgang der beschlechtlichen Zeugung als Verwachsung zweier Zellen betrachten. Ebenso finden wir vielfach eine Verwachsung von Zellen bei anderen Entwickelungsprocessen vor. Gerade diejenigen Gewebe des Thierkörpers, welche die höchsten Functionen vollziehen, das Muskelgewebe oder das Fleisch, welches die Ortsbewegung vermittelt, das Nervengewebe, welches die Functionen des Empfindens, des Wollens, des Denkens bewirkt, bestehen zum grossen Theil aus verwachsenen oder verschmolzenen Zellen. Aber nicht allein die Zellen, die Individuen erster Ordnung, sondern auch die Organe, die Individuen zweiter Ordnung, verwachsen im Verlaufe der Ontogenese sehr häufig mit einander zu einem zusammengesetzten Gebilde. Sogar ganze Personen können mit einander verwachsen, wie das z. B. bei den Schwämmen sehr oft der Fall ist. Der Process der Concrescenz (die man häufig auch wohl als Conjugation oder Copulation bezeichnet) ist in gewisser Beziehung der umgekehrte Vorgang, wie derjenige der Fortpflanzung. Bei der letzteren entstehen aus einem Individuum zwei oder mehrere neue, während bei der ersteren aus mehreren Individuen ein einziges entsteht. In der Regel besitzt dieses Individuum eine höhere Function, als die beiden einzelnen, aus deren Verschmelzung es hervorgegangen ist.

Wenn Sie jetzt nochmals einen kurzen Rückblick auf die verschiedenen Lebensthätigkeiten des Organismus werfen, die wir hier als die eigentlichen Functionen der Entwickelung, als die wahren formbildenden Kräfte des entstehenden Organismus aufgeführt haben, so werden Sie sich leicht überzeugen, dass sie sämmtlich einer streng physiologischen Untersuchung zugänglich sind. Trotzdem hat man dieselben zum Theil bis auf die heutige Zeit noch nicht genauer untersucht und in Folge dessen sehr oft die Entwickelungs-Vorgänge als etwas durchaus Räthselhaftes und Eigenthümliches, ja sogar theilweise als etwas Wunderbares und Uebernatürliches betrachtet. Das geht so weit, dass selbst heute noch viele und namhalfte Naturforscher behaupten, die Erscheinungen der Entwickelung überschritten die Grenzen der menschlichen Erkenntniss und seien nicht ohne Zuhilfenahme übernatürlicher Kräfte erklärbar.

Diese befremdende Verhältniss, welches ein wenig erfreuliches Licht auf den heutigen Zustand unserer Wissenschaft wirft, ist vorzugsweise durch die Schuld der modernen Physiologie zu erklären. Wie schon früher gelegendlich bemerkt wurde, bekümmert sich die heutige Physiologie weder um die Functionen der Entwickelung, noch um die Entwickelung der Functionen. Sie ist in ihrer sehr einseitigen Richtung bemüht, die Erkenntniss einzelner Functions-Gruppen (z. B. die Physiologie der Sinnesorgane, der Muskelbewegung, des Blutkreislaufs u. s. w.) bis zur höchsten Vollendung auszubauen, während sie andere gar nicht berücksichtigt. Unter diese letzteren gehören z. B. die chorologischen und oekologischen Functionen, viele psychologische Phänomene und Wachsthums-Verhältnisse, vor allen aber die wichtigsten von den eben angeführten Entwickelungs-Functionen: die Vererbung und die Anpassung. Was wir bis jetzt von diesen beiden einflüssreichen physiologischen Leistungen der Entwickelung wissen, ist fast Alles durch die Untersuchungen der Morphologie, nicht der Physiologie entdeckt worden, obwohl diese letztere in ihrem eigenen Interesse Veranlassung hätte, sich ernstlich an die Untersuchung jener Functionen zu begeben. Ebenso sind auch die wichtigsten Functionen des Wachsthums unnd der Verwachsung, der Differenzirung und der Rückbildung noch sehr wenig einer genaueren Untersuchung von Seiten der Physiologie unterzogen worden.

Aus dieser Vernachlässigung der Entwickelungsgeschichte erklärt sich auch das geringe Interesse und der Mangel an Verständniss, welchen die heutige Physiologie für die Descendenz-Theorie zeigt. Nachdem Darwin diese letztere durch seine Züchtungs-Theorie von einer neuen Seite her begründet und den Weg zur physiologischen Erklärung der Species-Bildung gezeigt hatte, war der Physiologie ein ganz neues Gebiet der interessanten Forschung geöffnet. Sie hat dieses Gebiet noch nicht betreten und unsere physiologische Erkenntniss von den Entwickelungs-Vorgängen ebenso wenig in Bezug auf die ontogenetischen als auf die phylogenetischen Processe gefördert. Ja es haben sogar - mit wenigen rühmlichen Ausnahmen - die meisten Physiologen sich gar nicht um die Descendenz-Theorie gekümmert, und noch heute halten einige ihrer berühmtesten Vertreter diese wichtigste biologische Theorie für eine "unbewiesene und bodenlose Hypothese".

Nur aus diesem Mangel an Verständniss der Entwickelungsgeschichte und ihrer Bedeutung lässt es sich erklären, dass z. B. der berühmte Berliner Physiologe Du Bois-Reymond 1872 auf der Naturforscher-Versammlung zu Leipzig in der bekannten Rede "über die Grenzen der Naturerkenntniss" das menschliche Bewusstsein für eine Erscheinung erklärte, die absolut und unbedingt die Grenzen des menschlichen Erkenntnissvermögens überschreite. Er dachte nicht daran, dass sich auch das Bewusstsein, gleich jeder anderen Gehirnthätigkeit, entwickelt. Er kam nicht auf den naheliegenden Gedanken, dass sich auch das Bewusstsein der Menschen-Gattung durch viele phylogenetische Stufen hindurch ganz ebenso allmählich entwickelt haben muss, wie sich noch heute bie jedem Kinde das individuelle Bewusstsein durch viele ontogenetische Stufen hindurch allmählich ausbildet30).

Nur aus diesem Mangel an Verständniss für die Functionen und den physiologischen Process der Entwickelung lässt es sich ferner begreifen, dass noch heute angesehene und kenntnissreiche Naturforscher alles Ernstes darüber streiten, ob die Speciesbildung - oder mit anderen Worten: die phyletische Entwickelung der Formen - sprungweise oder allmählich geschehe. Dieser Streit ist ebenso sinnvoll, wie es der Streit sein würde, ob die Maus ein grosses oder ein kleines Ther ist. Der Elephant wird natürlich die Maus für ein winzig kleines Thier erklären, wogegen die Laus, welche den Pelz der Maus bewohnt, sie für ein riesengrosses Thier halten muss. Ebenso wie hier die Schützung der Raumgrösse, so ist dort die Schätzung der Zeitgrösse rein relativ, nur bezugsweise zu verstehen.

Jeder Entwickelungs-Process ist als solcher ununterbrochen, und wirkliche Sprünge oder Unterbrechungen kommen niemals dabei vor. Natura non facit saltus! Die Natur macht keine Sprünge! Das gilt ebenso von den ontogenetischen wie von den phylogenetischen Vorgängen, ebenso von der Entwickelung des Individuums, wie von derjenigen der Species. Allerdings scheinen auch in der Ontogenese manchmal Sprünge vorzukommen, z. B. wenn sich der Schmetterling aus der verpuppten Raupe, oder wenn sich eine Meduse aus einem ganz anders gestalteten hydroides Polypen entwickelt. Allein der Morphologe, welcher Gang dieser sprungweisen Entwickelungs-Processe Schritt für Schritt genau verfolgt, findet, dass überall ununterbrochener Zusammenhang existirt, und dass jeder neue Formzustand unmittelbar aus dem nächstvorhergehenden hervorgeht. Ueberall ist causaler und continuirlicher Zusammenhang, nirgends ein plötzlicher und unvermittelter Sprung. Nur wenn die Geschwindigkeit des Entwickelungs-Processes einmal verlangsamt und dann wieder plötzlich beschleunigt ist, oder wenn die Vererbung abgekürzt ist, kann uns das Resultat desselben wohl als ein unvermittelter Sprung erscheinen.

Ganz dasselbe gilt aber auch von der Phylogenese der organischen Formen. Da die Ontogenese ja nur eine kurze, durch die Vererbung bedingte und durch die Anpassung modificirte Wiederholung der Phylogenese ist, so kann bei der letzteren ebenso wenig als bei der ersteren jemals ein wahrer Sprung oder eine unvermittelte Kluft zwischen zwei auf einander folgenden Entwickelungsformen existiren. Auch bei der Entwickelung der Arten, wie bei derjenigen der Individuen, bildet sich jede neue Form unmittelbar aus der vorhergehenden hervor. Auch hier behält der physiologische Entwickelungs-Process stets seinen Zusammenhang. Selbst in denjenigen extremen Fällen, wo wirklich eine neue Form ganz plötzlich zu entstehen scheint, wie bei der sogenannten "sprungweisen oder monströsen Anpassung", selbst da liegt ein ununterbrochener physiologischer Entwickelungs-Vorgang zu Grunde, der nur weger seiner verhältnissmässigen Schnelligkeit oder wegen seines bedeutenden Resultates uns als "ein plötzlicher Sprung" erscheint.

Betrachten wir als auffallendes Beispiel einen schon öfters beobachteten Fall solcher "sprungweisen Abänderung". Ein gewöhnlicher zweihörniger Ziegenbock, dessen Gatting auch eine gewöhnlich zweihörnige Ziege ist, erzeugt ein Böckchen, aus dessen Schädel vier Hörner hervorwachsen, statt der bisher in dieser Ziegenfamilie erblich gewesenen zwei Hörner. Da ist "sprungweise" eine neue vierhörnige Ziegenform entstanden, und unter günstigen Umständen kann dieses Böckchen der Stammvater einer ganz neuen vierhörnigen Rasse oder (im Falle correlativer Anpassung und constanter Vererbung) einer neuen "guten Art" werden.

Wenn wur nun aber die physiologischen Funktionen der Entwickelung aufsuchen, die diese neue Rasse oder Art "plötzlich" gebildet haben, so finden wir als erste Ursache eine Abänderung in der erblichen Ernährung an zwei Stellen des Stirnbeins und der dieses bedeckenden Haut vor. In Folge der übermässigen localen Ernährung des Knochengewebes und der dadurch bedingten "allmählich" ein Knochenzapfen hervor, und in Folge correlativer Anpassung verwandelt sich die behaarte Stirnhaut, die beide Knochenzapfen bedeckt, in eine hate kahle Hornscheide, gerade so wie bei den beiden älteren, längst erblichen Ziegenhörnern. Indem jene beiden Knochenzapfen weiter hervorwachswen und ihre Hornscheiden sich entsprechend vergrössern, entsteht das neue, zweite Hörner-Paar hinter dem ersten. Alle die Entwickelungs-Functionen, die diese neue vierhörnige Ziegenform "plötzlich und sprungweise" hervorbringen, sind im Grunde ganz "allmähliche und ununterbrochene" Veränderungen in der Entwickelung der hier vorhandenen Zellenmassen; sie beruhen auf veränderten Ernährungs-Verhältnissen der Gewebe an diesen beiden Stellen des Knochens und der Haut. Sie sehen, wie uns hier eine genaue Untersuchung der physiologischen Entwickelungs-Function den anscheinend wunderbaren Process ganz natürlich erklärt. Das gilt aber gerade so von der individuellen wie von der phyletischen Entwickelung.

Dasselbe gilt nun auch von einem Entwickelungs-Vorgang, den man ganz vorzugsweise mit dem mystischen Nebelschleier eines übernatürlichen Wunders zu umhüllen beliebt, nämlich von der Befruchtung oder der geschlechtlichen Zeugung. Diese bildet bei allen höheren Thieren und Pflanzen den ersten Act, mit welchem die Entwickelung des neuen Individuums beginnt. Zunächst ist hier zu bemerken, dass dieser wichtige Vorgang keineswegs so allgemein in der Thier- Pflanzenwelt verbreitet ist, wie man gewöhnlich annimmt. Vielmehr giebt es eine grosse Anzahl von niederen Organismen, die sich immer nur ungeschlechtlich vermehren, z. B. die Amoeben, die Gregarinen u. s. w. Bei diesen findet keinerlei Art von Befruchtung statt; die Vermehrung der Individuen und die Erhaltung der Art beruht bei ihnen bloss auf der ungeschlechtlichen Zeugung, die bald als Theilung, bald als Knospenbildung, bald als Sporenbildung auftritt. Hingegen ist bei allen höheren Organismen, sowohl Thieren als Pflanzen, die geschlechtliche Fortpflanzung die allgemeine Regel, und die ungeschlechtliche kommt daneben entweder gar nicht oder nur selten vor. Insbesondere findet bei den Wirbelthieren niemals "Jungfrauenzeugung oder Parthenogenesis" statt. Das muss gegenüber dem berühmten Dogma von der "unbefleckten Empfängniss" ausdrücklich hervorgehoben werden31).

Die geschlechtliche oder sexuelle Fortpflanzung bietet bei den verschiedenen Klassen der Thiere und Pflanzen ungemein mannichfaltige und interessante Verhältnisse dar, die namentlich die Vermittelung der Befruchtung, die Uebertragung des männlichen Sperma auf das weibliche Ei betreffen. Diese Verhältnisse sind nicht allein für die Fortpflanzung selbst, sondern zugleich für die Entstehung der organischen Körperformen, und namentlich der Unterschiede beider Geschlechter, von der grössten Bedeutung. Insbesondere treten hierbei Thiere und Pflanzen in die merkwürdigste Wechselwirkung, wie vorzüglich durch die neueren Untersuchungen von Charles Darwin und Hermann Müller "über die Befruchtung der Blumen durch Insecten" nachgewiesen ist. In Folge dieser Wechselwirkung entsteht einsehr verwickelter anatomischer Geschlechts-Apparat. So interessant diese Erscheinungen an sich sind, so können wir doch hier nicht darauf eingehen, weil sie für das Wesen des eigentlichen Befruchtungs-Process nur eine untergeordnete Bedeutung haben. Hingegen müssen wir um so schärfer die Natur dieses Processes selbst, die Bedeutung der geschlechtlichen Zeugung ins Auge fassen.

Bei jedem Befruchtungs-Vorgang kommen, wie schon bemerkt, zwei verschiedene Zellen-Arten in Betracht, eine weibliche und eine männliche Zelle. Die weibliche Zelle wird bei den Thieren allgemein als Ei oder Eizelle (Oculum) bezeichnet, die männliche als Spermazelle oder Samenzelle (Zoospermium, Spermatozoon). Die weibliche Eizelle, deren Form und Zusammensetzung wir bereits genau betrachtet haben, ist bei allen Thieren ursprünglich von derselben einfachen Beschaffenheit; sie ist anfänglich weiter Nichts als eine kugelige nackte Zelle, aus Protoplasma und Zellkern bestehend. Wenn diese Zelle frei liegt, so dass sie sich bewegen kann, führt sie häufig langsame, amoebenartige Bewegungen aus, wie wir es vom Ei der Schwämme gesehen haben (S. 112, Fig. 8). Meistens aber wird sie später in besondere, sehr verschieden gebildete und oft sehr zusammengesetzte Hüllen und Schalen eingeschlossen. Die Eizelle gehört im Ganzen zu den grössten Zellen, die es überhaupt giebt. Sie ist bei allen Thieren grösser als alle anderen Zellen; nur einige Nervenzellen nähern sich in Bezug auf Grösse der Eizelle.

Die andere Zelle, welche bei der Befruchtung in Betracht kommt, die männliche Spermazelle, gehört umgekehrt zu den kleinsten Zellen, die sich im Organismus finden. Die Befruchtung geschieht in der Regel dadurch, dass entweder innerhalb des weiblichen Körpers oder ausserhalb desselben eine von dem männlichen Individuum abgesonderte, schleimige Flüssigkeit mit der Eizelle in Berührung gebracht wird. Diese Flüssigkeit mit der Eizelle in Berührung gebracht wird. Diese Flüssigkeit heisst Sperma oder männlicher Samen. Das Sperma ist gleich dem Speichel und dem Blute keine einfache klare Flüssigkeit, sondern ein Haufen von ausserordentlich zahlreichen Zellen, die in einer verhältnissmässig geringen Quantität von Flüssigkeit umherschwimmen. Nicht diese Flüssigkeit selbst, sondern die darin schwimmenden Zellen bewirken die Befruchtung. Diese Sperma-Zellen haben bei der grossen Mehrzahl der Thiere zwei besondere Eigenthümlichkeiten. Erstens sind sie ausserordentlich klein, gewöhnlich die kleinsten Zellen des Organismus, und zweitens besitzen sie meistens eine ganz eigenthümliche lebhafte Bewegung, die man als Samenfädenbewegung bezeichnet. Im Zusammenhange mit dieser Bewegung steht die Form der Zellen. Bei den meisten Thieren, wie auch bei vielen niederen Pflanzen (nicht aber bei den höheren) besteht jede dieser Zellen aus einem sehr kleinen nackten Zellenkörper, der einen länglichen Kern umschliesst, und einem langen schwingenden Faden, der sich an den Körper anschliesst. Es hat sehr lange gedauert, ehe man erkannte, das jeder dieser Körper eine einfache Zelle ist. Früher hielt man sie allgmein für besondere Thiere, die man "Samenthiere" (Spermatozoa) nannte. Erst durch die eingehenden Untersuchungen der letzten Jahre haben wir die sichere Ueberzeugung gewonnen, dass in der That jedes dieser sogenannten Samenthierchen eine einfache Zelle ist. Beim Menschen besitzen diese Samenelemente, welche man jetzt Samenfäden oder Spermazellen nennt, ganz dieselbe Form wie bei den meisten Wirbelthieren und wie bei der Mehrzahl der wirbellosen Thiere (Fig. 11). Es ist aber von Interesse, gelegentlich zu bemerken, dass bei manchen niederen Thieren die Samenzellen eine ganz andere Form haben, als diese gewöhnliche. So sind z. B. beim Flusskrebs die männlichen Samenzellen starre, runde Zellen, die sich nicht bewegen, versehen mit besonderen borstenförmigen starren Fortsätzen. Ebenso besitzen dieselben bei einigen Würmern eine ganz abweichende Gestalt, z. b. bei den Fadenwürmern. Bisweilen sind sie hier amoebenartig und gleichen sehr kleinen Eizellen. Aber auch bei den meisten niederen Thieren, z. B. bei den Schwämmen und Polypen, haben sie dieselbe "stecknadelförmige Gestalt" wie beim Menschen und den übrigen Säugethieren.

Nachdem der holländische Naturforscher Leeuwenhoek im Jahre 1677 zuerst diese fadenförmigen, lebhaft sich bewegenden Körperchen im männlichen Samen entdeckt hatte, glaubte man allgemein, dass dieselben besondere, selbstständige, kleine Thierchen, gleich den Infusionsthierchen seien, und nannte sie eben deshalb geradezu "Samenthierchen". Wir haben schon früher darauf hingewiesen, dass dieselben in der damals aufgestellten falschen Praeformations-Theorie eine grosse Rolle spielten, weil man glaubte, dass der ganze entwickelte Organismus mit allen seinen Theilen, nur sehr klein und noch unentfaltet, in jedem Samenthierchen vorgebildet existire. (Vergl. oben S. 29.) Die letzteren brauchten nur in den fruchtbaren Boden der weiblichen Eizelle einzudringen, damit sich der praeformirte menschliche Körper entfalten und mit allen seinen Theilen wachsen könne. Diese grundfalsche Ansicht ist jetzt vollständig widerlegt, und wir wissen durch die genauesten Untersuchungen, dass die beweglichen Samenkörperchen weiter nichts als echte Zellen sind, und zwar Zellen von derjenigen Art, die man Geisselzellen nennt. In den früheren Darstellungen hat man an jedem angeblichen "Samenthierchen" einen Kopf, Rumpf und Schwanz unterschieden. Der sogenannte "Kopf" ist weiter Nichts als der länglich runde oder eirunde Zellenkern, der Körper eine Anhäufung von Zellstoff, und der Schwanz eine fadenförmige Verlängerund desselben. Wir wissen ausserdem jetzt, dass diese Samenthierchen gar nicht einmal eine ganz besondere Zellenform darstellen; vielmehr kommen auch an vielen anderen Stellen des Thierkörpers ganz ähnliche bewegliche Zellen oder Flimmerzellen vor. Haben diese Zellen zahlreiche Fortsätze, so heissen sie Wimperzellen; hat hingegen jede Flimmerzelle nur einen Fortsatz, so heisst sie Geisselzelle. Aehnliche Geisselzellen, wie die Spermazellen sind z. B. die Darmzellen der Schwämme.

Der Vorgang der Befruchtung bei der geschlechtlichen Zeugung beruht also im Wesentlichen darauf, dass zwei verschiedene Zellen zusammenkommen und mit einander verschmelzen oder verwachsen. Früher haben über diesen Act die wunderbarsten Ansichten geherrscht. Man hat darin immer etwas durchaus Mystisches finden wollen und hat die verschiedensten Hypothesen darüber aufgestellt. Erst die letzten Jahre haben uns durch genauere Forschungen zu der Ueberzeugung geführt, dass der Vorgang der Befruchtung höchst einfach ist und durchaus nichts besonders Geheimnisvolles an sich trägt. Er beruht im Wesentlichen daruaf, dass die männliche Geisselzelle mit der weiblichen amoebenartigen Eizelle verschmilzt. Die lebhaft bewegliche Spermazelle sicht sich vermittelst ihrer schlängelnden Bewegungen durch die Membran der letzteren hindurch und löst sich in ihrem Zellstoff auf (Fig. 12).

Hier wäre nun ein sehr geeigneter Ort für den Dichter, das wunderbare Geheimniss des Befruchtungsvorganges in glänzenden Farben zu schildern und die Kämpfe der lebendigen "Samenthierchen" zu beschreiben, die voll Begierde um die viel umworbene Eizelle herumtanzen, sich den Eingang durch die feinen Porencanäle des Chorion streitig machen und dann "mit Bewusstsein" in das Protoplasma der Dottermasse hineintauchen, wo sie in selbstloser Hingabe an ihr besseres Ich sich vollständig auflösen. Auch könnten hier die Liebhaber der Teleologie die besondere Weisheit des Schöpfers bewundern, der in der Eihülle zahlreiche feine Porencanäle augebracht hat, damit die "Samenthierchen" durch die hindurch treten können. Allein der kritische Naturforscher fasst diesen poetischen Vorgang, diese "Krone der Liebe" sehr nüchtern als den Verwachsungs-Process zweier Zellen auf. Dadurch wird erstens die Eizelle zur weiteren Entwicklung angeregt und zweitens die Uebertragung der eblichen Eigenschaften beider Eltern auf das Kind vermittelt. Die männliche Spermazelle vererbt den individuellen Charakter des Vaters auf das erzeugte Kind, und die weibliche Eizelle überträgt erblich die Eigenschaften der Mutter auf das neue Individuum. In dieser Beziehung zeigt die geschlechtliche Zeugung einen sehr bedeutenden Fortschritt gegenüber der älteren ungeschlechtlichen Form der Fortpflanzung. Dieser überaus wichtige Vorgang der Vererbugn von beiden Eltern, der uns später noch vielfach beschäftigen wird, erklärt sich also ganz einfach aus jener thatsächlich stattfindenden Vermischung oder Verwachsung der beiden Zellen, der männlichen Spermazelle und der weiblichen Eizelle32).

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Erstellt von Sebastian Högen, Juli 2001.