III.

Meine Herren!


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Wenn wir in unserer historischen Uebersicht über den Entwickelungsgang der menschlichen Ontogenie verschiedene Hauptabschnitte unterscheiden wollen, so können wir deren füglich drei nennen. Der erste Abschnitt hat uns in der vorigen Stunde beschäftigt und umfasst die gesammte Vorbereitungsperiode der embryologischen Untersuchungen; er reicht von Aristoteles bis auf Caspar Friedrich Wolff, bis zum Jahre 1759, in dem die grundlegende Theoria generationis erschien. Der zweite Abschnitt, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen, dauert genau ein Jahrhundert, nämlich bis zum Erscheinen des Darwin´schen Werkes über den Ursprung der Arten, welches 1859 die gesammte Biologie, und vor allem die Ontogenie, in ihren Fundamenten umgestaltete. Die dritte Periode würde von Darwin erst ihren Ausgang nehmen. Wenn wir der zweiten Periode demnach gerade die Dauer eines Jahrhunderts zuschreiben, so ist das insofern nicht ganz richtig, als das Wolff´sche Werk ein halbes Jahrhundert hindurch, bis zum Jahre 1812, völlig unbeachtet blieb. Während dieser ganzen Zeit, während 53 Jahren, erschien auch nicht ein einziges Buch, welches auf Wolff und dessen Forschungen eingegangen wäre und welches seine Entwickelungstheorie weiter fortgeführt hätte. Nur gelegentlich wurden die vollkommen richtigen und unmittelbar auf Beobachtung der Thatsachen gegründeten Anschauungen Wolff´s erwähnt, aber als irrthümlich verworfen; die Gegner derselben, die Anhänger der damals herrschenden, falschen Praeformationstheorie, würdigten ihn nicht einmal einer Widerlegung. Es ist dies, wie schon angeführt, der ausserordentlichen Autorität zu verdanken, welche Wolff´s berühmter Gegner, Albrecht Haller, besass, eins der erstaunlichsten Beispiele für den Einfluss, welchen eine mächtige Autorität als solche gegenüber der klaren Erkenntniss der Thatsachen auf lange Zeit hin auszuüben vermag. Die allgmeine Unbekanntschaft mit Wolff´s Werken ging so weit, dass sogar im Anfange unseres Jahrhunderts zwei Naturphilosophen, Oken (1806) und Kieser (1810), selbstständige Untersuchungen über die Entwickelung des Darms beim Hühnchen anstellen und auf die richtige Spur der Ontogenie kommen konnten, ohne von der wichtigen Arbeit Wolff´s über denselben Gegenstand etwas zu wissen; sie traten in seine Fusstapfen, ohne es zu ahnen. Das lässt sich leicht durch die Thatsache beweisen, dass sie nicht soweit kamen, wie Wolff selbst. Erst als im Jahre 1812 Meckel das Buch Wolff´s über die Entwickelung des Darmcanals in´s Deutsche übersetzte und auf die hohe Bedeutung desselben hinwies, wurden plötzlich dem anatomischen und physiologischen Publicum die Augen geöffnet. Bald darauf sehen wir eine ganze Anzahl von Biologen damit beschäftigt, von neuem embryologische Untersuchungen anzustellen und Wolff´s Theorie Schritt für Schritt zu verfolgen und zu bestätigen.

Die Universität Würzburg war der Ort, von welchem diese Neubelegung der Ontogenie und die erste Bestätigung und weitere Fortbildung der allein richtigen Epigenesis-Theorie ausging. Dort lehrte damals ein ausgezeichneter Biologie, Döllinger, der Vater des berühmten Münchener Theologen, der in unseren Tagen durch seine Opposition gegen die Unfehlbarkeit den Jesuiten und dem heiligen Kirchenvater in Rom das Leben so schwer gemacht hat. Döllinger war ein eben so denkender Naturphilosoph, als genau beobachtender Biolog; er hegte für die Entwickelungsgeschichte das grösste Interesse und beschäftigte sich viel mit derselben. Doch konnte er selbst keine grössere Arbeit auf diesem Gebiet zu Stande bringen, da ihm dazu die äusseren Mittel fehlten. Da kam im Jahre 1816 ein junger, eben promovierter Docter der Medicin nach Würzburg, den wir gleich aus den bedeutendsten Nachfolger Wolff´s kennen lernen werden, Karl Ernst Baer. Die Gespräche, welche dieser mit Döllinger über die Entwickelungsgeschichte führte, wurden die Veranlassung zu einer Neubelebung der Untersuchungen. Der letztere sprach nämlich den Wunsch aus, dass unter seiner Leitung ein junger Naturforscher von neuem selbstständige Beobachtungen über die Entwickelung des Hühnchens während der Bebrütung des Eies in Angriff nehmen möge. Da weder er selbst noch Baer über die ziemlich bedeutenden Geldmittel verfügte, welche damals eine Brütmaschine und die Verfolgung des bebrüteten Eies, sowie die für unerlässlich gehaltene Abbildung der beobachteten Entwickelungsstadien durch eine geübten Künstler erforderten, so wurde die Ausführung der Untersuchung Christian Pander übertragen, einem begüterten Jugendfreunde Baer´s, welchen dieser bewogen hatte, nach Würzburg zu kommen. Für die Anfertigung der nöthigen Kupfertafeln wurde ein geübter Künstler, Dalton, engagirt.

Da bildete sich, wie Baer sagt, "jene für die Naturwissenschaft ewig denkwürdige Verbindung, in welcher ein in physiologischen Forschungen ergrauter Veteran (Döllinger), ein von Eifer für die Wissenschaft glühender Jüngling (Pander) und ein unvergleichlicher Künstler (Dalton) sich verbanden, um durch vereinte Kräfte eine fest Grundlage für die Entwickelungsgeschichte des thierischen Organismus zu gewinnen." In kurzer Zeit wurde die Entwickelungsgeschichte des Hühnchens, an welcher Baer zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar an lebhaftesten Antheil nahm, soweit gefördert, dass Pander bereits in seiner 1817 erschienenen Doctordissertation10) zum ersten Male die vollständigen Grundzüge der Entwickelungsgeschichte des Hühnchens auf dem Fundamente von Wolff´s Theorie entwerfen und die von letzterem vorbereitete Keimblätter-Theorie klar aussprechen, die von ihm geahnte Entwickelung der zusammengesetzten Organsysteme aus einfachen blattförmigen Primitivorganen durch die Beobachtung nachweisen konnte. Nach Pander zerfällt die blattförmige Keimanlage des Hühnereies schon vor der zwölften Stunde der Bebrütung in zwei verschiedene Schichten, ein äusseres seröses Blatt und ein inneres muköses Blatt (oder Schleimblatt); zwischen beiden entwickelt sich später eine dritte Schicht, das Gefässblatt.

Karl Ernst Baer, welcher zu Pander´s Untersuchungen wesentlich mit Veranlassung gegeben und nach seinem Weggange von Würzburg das lebhafteste Interesse dafür bewahrt hatte, begann seine eigenen, viel umfassenderen Forschungen 1819, und veröffentlichte aus reife Frucht derselben nach neun Jahren ein Werk über "Entwickelungsgeschichte der Thiere", welches auch noch heute allgemein und mit vollem Recht für die bedeutendste und werthvollste von sämmlichen embryologischen Schriften gilt. Dieses Buch, ein wahres Muster von sorgfältiger empirischer Beobachtung, verbunden mit geistvoller philosophischer Speculation, erschien in zwei Theilen, der erste im Jahre 1828, der zweite neun Jahre später, im Jahre 183711). Baer´s Werk ist das sichere Fundament, auf welchem die ganze individuelle Entwickelungsgeschichte bis auf den heutigen Tag ruht und überflügelt seine Vorgänge, namentlich auch Pander´s Entwurf, soweit, dass es nächst den Wolff´schen Arbeiten als die wichtigste Basis der neueren Ontogenie zu betrachten ist. Da nun Baer, der noch heute hochbetagt in Dorpat lebt, zu den grössten Naturforschern unseres Jahrhunderts zählt und auch auf andere Zweige der Biologie einen höchst fordernden Einfluss ausgeübt hat, so dürfte es von Interesse sein, über die äusseren Lebensschicksale dieses ausserordentlichen Mannes Einiges hier einzufügen.

Karl Ernst Baer ist 1792 in Esthland auf dem kleinen Gute Piep geboren, welches sein Vater besass; machte seine Studien von 1810 bis 1814 in Dorpat und ging dann nach Würzburg, wo Döllinger ihn nicht allein in die vergleichende Anatomie und Ontogenie einführte, sondern auch namentlich durch seine naturphilosophische Richtung höchst befruchtend und Ideen erweckend auf ihn wirkte. Von Würzburg ging Baer nach Berlin, und dann, einer Aufforderung des Physiologen Burdach folgend, nach Königsberg, wo er mit einigen Unterbrechungen bis 1834 Vorlesungen über Zoologie und Entwickelungsgeschichte hielt und seine wichtigsten Arbeiten vollendete. Im Jahre 1834 ging er nach Petersburg als Mitglied der dortigen Akademie, verliess aber hier fast gänzlich sein früheres Arbeitsfeld und beschäftigte sich mit verschiedenen, von diesem weit abliegenden, geologischen, ethnographischen und anthropologischen Untersuchungen. Bei weitem seine bedeutendsten Arbeiten sind diejenigen über die Entwickelungsgeschichte der Thiere; sie wurden fast alle in Königsberg gefertigt, wenn auch theilweise erst später veröffentlich. Die Verdienste derselben sind, ebenso wie die der Wolff´schen Schriften, sehr vielseitig und erstrecken sich über das ganze Gebiet der Ontogenie nach den verschiedensten Richtungen hin.

Zunächst bildete Baer die fundamentale Keimblätter-Theorie im Ganzen wie im Einzelnen so klar und vollständig durch, dass seine Auffassung derselben noch heute das sicherste Fundament unserer ontogenetischen Erkenntniss bildet. Er zeigte, dass beim Menschen und den übrigen Säugethieren ganz ebenso wie beim Hühnchen, kurz bei allen Wirbelthieren überhaupt, immer in derselben Weise zuerst zwei, und darauf vier Keimblätter sich bilden; und dass durch deren Umwandlung in Röhren die ersten Fundamental-Organe des Körpers entstehen. Nach Baer ist die erste Anlage des Wirbelthierkörpers eine länglich runde Scheibe, die sich zunächst in zwei Blätter oder Schichten spaltet. Aus der oberen Schicht oder dem animalen Blatte entwickeln sich alle Organe, welche die Erscheinungen des animalen Lebens bewirken: die Functionen der Empfindung, der Bewegung, der Deckung des Körpers. Aus der unteren Schicht oder dem vegetativen Blatte gehen alle die Organe hervor, welche die Vegetation des Körpers vermitteln, die Lebenserscheinungen der Ernährung, der Blutbildung, der Absonderung, der Fortpflanzung u. s. w.

Jedes dieser beiden ursprünglichen Keimblätter spaltet sich wieder in zwei dünnere, über einander liegende Blätter oder Lamellen. Erstens spaltet sich das animale Blatt in zwei Schichten, die Baer Hautschicht und Fleischschicht nennt. Aus der oberflächlichsten dieser beiden Lamellen, aus der Hautschicht, bildet sich die äussere Haut, die Bedeckung des Körpers, und das Central-Nervensystem, das Rückenmarks-Rohr, Gehirn und Sinnesorgane. Aus der darunter gelegenen Fleischschicht entwickeln sich die Muskeln oder Fleischtheile und das innere Knochengerüste, kurz die Bewegungsorgane des Körpers. In ganz ähnlicher Weise zerfällt nun zweitens auch das untere oder vegetative Keimblatt in zwei Lamellen, die Baer als Gefässschicht und Schleimschicht bezeichnet. Aus der äusseren von beiden, aus der Gefässschicht, entstehen das Herz und die Blutgefässe, die Milz und die übrigen sogenannten Blutgefässdrüsen, die Nieren und Geschlechtsdrüsen. Aus der tiefsten, vierten Schicht endlich, aus der Schleimschicht, entwickelt sich die innere ernährende Haut des Darmcanals und aller seiner Anhänge, Leber, Lunge, Speicheldrüsen u. s. w. Ebenso glücklich, wie Baer die Bedeutung durch Spaltung aus den beiden primären Keimblättern erkannte, ebenso scharfsinnig verfolgte er auch deren Umbildung in die röhrenförmigen Fundamentalorgane. Er löste zuerst das schwierige Problem, wie sich aus dieser vierfach geschichteten, flachen, blattförmigen Keimesanlage der ganz anders gestaltete Körper des Wirbelthieres entwickelte, und zwar dadurch, dass diese Blätter zu Röhren werden.

Hier scheint es angemessen, ein paar Worte über den einfachen, aber sehr wichtigen Vorgang einzuschalten, durch welchen bei der individuellen Entwickelung des Wirbelthierleibes aus der einfachen blattförmigen Anlage die zusammengesetzte Röhrenform entsteht. So verwickelt und schwierig die individuellen Entwickelungsvorgänge auch im Einzelnen dazustellen und zu begreifen sind, so einfach sind die fundamentalen Processe, auf denen sie beruhen. Es findet nämlich immer erstens die Bildung von Blättern oder Schichten statt, welche anfänglich gleichartig sind und keine verschiedenen Theile enthalten; und dann zweitens die Entstehung von Röhren aus diesen Blättern. Eine Röhre kann nun aus einem Blatte überhaupt nur auf zweierlei Weise entstehen. Entweder verdickt sich nämlich das dünne Blatt und höhlt sich dann von innen her zu einer Röhre aus; oder das Blatt krümmt sich, seine Ränder nähern sich gegenseitig, wachsen allmählich aneinander und verwachsen endlich in einer Linie oder Naht. Dieser letztere einfache Vorgang, die Krpmmung eines Blattes und das Verwachsen seiner beiden Ränder in einer Naht, ist der wichtige Process, durch welchen bei der Entwickelung der Thierkörpers aus den Keimblättern die Röhren oder "Fundamentalorgane" entstehen. Die wichtigsten Theile des Thierkörpers sind von Anfang an als ganz einfache, länglich runde Blätter angelegt und gestalten sich dann zu ganz einfachen Röhren. So ist das Organ des Seelenlebens beim Wirbelthiere, das Rückenmark mit dem Gehirn, anfangs nur ein einfaches Blatt und dann ein Rohr, aus dem sich die verschiedenen complicirten Theile durch Sonderung erst später entwickeln. Ebenso ist das Herz mit seinen verschiedenen Abtheilungen und Kammern anfangs ein einfaches Rohr, ebenso die äussere Körperwand; ebenso der Darmcanal mit seinen drüsigen Anhängen. Gerade die Erkenntniss dieser letzten, höchst wichtigen Röhrenbildung war, wie Sie sich erinnern, Wolff bereits vollständig gelungen, und wurde auch von seinen Nachfolgern zuerst wieder aufgegriffen. Aber Baer war der erste, welcher diese Theorie, die Lehre von der Umbildung der Keimblätter in Röhren, für alle Organsysteme des Wirbelthieres mittelst der ausgedehntesten und der genauesten Beobachtungen feststellte und für die Dauer begründete. Diese Keimblätter-Theorie ist die wichtigste Erkenntniss, welche die Epigenesis-Theorie bezüglich der ersten Anfänge der thierischen Ontogenie gewonnen hat. Sie ist aber jetzt eigentlich kaum mehr Theorie zu nennen, da wir gegenwärtig jeden Augenblick im Stande sind, die thatsächliche Entstehung des complicirten Organismus aus Röhren und dieser Röhren aus Keimblättern zu demonstriren. Trotzdem stiess die Anerkennung dieser thatsächlichen Erkenntniss auf grosse Schwierigkeiten, und wurde später noch mehrfach, namentlich von Reichert, als Irrlehre zu bekämpfen gesucht.

Unter den zahlreichen und grossen einzelnen Verdiensten, welche sich Baer um die Ontogenie, besonders der Wirbelthiere, erwarb, ist hier zunächst die Entdeckung des menschlichen Eies hervorzuheben. Obgleich die meisten früheren Naturforscher angenommen hatten, dass sich der Mensch gleich den übrigen Thieren aus einem Ei entwickle, und obgleich die Evolutionstheorie glaubte, dass alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen des Menschengeschlechtes in den Eiern der Mutter Eva eingeschachtelt vorhanden gewesen seien, so kannte man doch das Ei des Menschen und der übrigen Säugethiere thatsächlich nicht. Dieses Ei ist nämlich ausserordentlich klein, ein kugeliges Bläschen von nur 1/10 Linie Durchmesser, welches man unter günstigen Umständen wohl mit blossen Augen sehen, unter ungünstigen aber nicht erkennen kann. Dieses kugelige Bläschen entwickelt sich im Eierstock des Weibes in eigenthümlichen viel grösseren kugeligen Bläschen, dei man nach ihrem Entdecker Graaf die Graff´schen Follikel nannte und früher allgemein für die wirklichen Eier hielt. Erst im Jahre 1827, also vor noch nicht fünfzig Jahren, wies Baer nach, dass diese Graaf´schen Follikeln nicht die wahren Eier des Menschen, sondern dass die letzteren viel kleiner und in den ersteren verborgen seien.

Baer war der erste, der die sogenannte Keimblase der Säugethiere beobachtete, d. h. die kugelige Blase, die zunächst aus dem befruchteten Ei sich entwickelt, und deren dünne Wand aus einer einzigen Schicht von regelmässigen vieleckigen Zellen zusammengesetzt ist (Vgl. den achten Vortrag.) Eine andere Entdeckung Baer´s, welche grosse Bedeutung für die typische Auffassung des Wirbelthier-Stammes und der charakteristischen Organisation dieser auch den Menschen umfassenden Thiergruppe erlangte, war der Nachweis des Axenstabes oder der Chorda dorsalis. Das ist ein langer, dünner, cylindrischer Knorpelstab, welcher der Länge nach durch den ganzen Körper des Embryo bei allen Wirbelthieren hindurchgeht, sehr frühzeitig sich entwickelt und die erste Anlage des Rückgrats, des festen Axenskelets der Wirbelthiere darstellt. Bei dem niedersten aller Wirbelthiere, dem merkwürdigen Lanzetthierchen (Amphioxus) bleibt sogar zeitlebens das ganze innere Skelet auf diese Chorda beschränkt. Aber auch beim Menschen und bei allen höheren Wirbelthieren entwickelt sich rings um diese Chorda erst nachträglich das Rückgrat und später der Schädel.

So wichtig nun auch diese und viele andere Entdeckungen Baer´s für die Ontogenie der Wirbelthiere waren, so wurde doch der Einfluss seiner Untersuchungen dadurch noch viel bedeutender, dass er zum ersten Male die Entwickeltungsgeschichte des Thierkörpers vergleichend in Angriff nahm. Allerdings waren es zunächst die Wirbelthiere (namentlich die Vögel und Fische), deren Ontogenese Baer vorzugsweise verfolgte. Aber er beschränkte sich keineswegs auf diese allein, sondern zog auch die verschiedenen wirbellosen Thiere in den Kreis seiner Untersuchungen. Das allgemeinste Resultat dieser vergleichend-embryologischen Untersuchungen bestand darin, dass Baer vier völlig verschiedene Entwickelungsweisen für die vier verschiedenen grossen Hauptgruppen des Thierreichs annahm. Diese vier Hauptgruppen oder Typen, die man damals in Folge der vergleichend-anatomischen Untersuchungen von George Cuvier zu unterscheiden begonnen hatte, sind: 1) die Wirbeltheire (Vertebrata); 2) die Gliederthiere (Articulata); 3) die Weichthiere (Mollusca) und 4) die niederen Thiere, welche damals alle irrthümlich als sogenannte Strahlthiere (Radiata) zusammengefasst wurden. Cuvier hatte im Jahre 1816 zum ersten Male gezeigt, dass diese vier Hauptgruppen des Thierreichs im ganzen inneren Bau, in der Zusammensetzungn und Lagerung der Organsysteme, sehr wesentliche und typische Unterschiede zeigen; dass hingegen alle Thiere eines und desselben Typus, z. b. alle Wirbelthiere, trotz der grössten äusseren Verschiedenheit doch im inneren Bau wesentlich übereinstimmen. Baer aber führte, unabhängig davon und fast gleichzeitig, den Nachweis, dass sich diese vier Hauptgruppen in völlig verschiedener Weise aus dem Ei entwickeln, und dass die Reihenfolge der embryonalen Entwickelungsformen bei allen Thieren eines Typus von Anfang an dieselbe, hingegen bei den verschiedenen Typen verschieden sei. Während man bis auf jene Zeit bei der Classification des Thierreichs stets bestrebt gewesen war, alle Thiere von den niedersten bis zu den höchsten, vom Infusorium bis zum Menschen, in eine einzige zusammenhängende Formenkette zu ordnen, und während man allgemein dem falschen Satze huldigte, dass vom niedersten Thiere bis zum höchsten nur eine einzige ununterbrochene Stufenleiter der Entwickelung vorhanden sei, führten Cuvier und Baer den Nachweis, dass diese Anschauung grundfalsch sei, und dass vielmehr vier gänzlich verschiedene Typen der Thiere, sowohl hinsichtlich des anatomsichen Baues, wie der embryonalen Entwickelung unterschieden werden müssten.

In Folge dieser Entdeckung gelangte Baer weiterhin zur Aufstellung eines sehr wichtigen Gesetzes, das wir ihm zu Ehren das Baer´sche Gesetz nennen wollen, und das er selbst in folgenden Worten ausspricht: "Die Entwicklung eines Individuums einer bestimmten Thierform wird von zwei Verhältnissen bestimmt: erstens von einer fortgehenden Ausbildung des thierischen Körpers durch wachsende histologische und morphologische Sonderung; zweitens zugleich durch Fortbildung aus einer allgemeineren Form des Typus in eine mehr besondere. Der Grad der Ausbildung des thierischen Körpers besteht in einem grösseren oder geringeren Maasse der Heterogenität der Elementartheile und der einzelnen Abschnitte eines zusammengesetzen Apparats, mit einem Worte, in der grösseren histologischen und morphologischen Sonderung (Differenzierung). Der Typus dagegen ist das Lagerungsverhältniss der organischen Elemente und der Organe. Der Typus ist von der Stufe der Ausbildung durchaus verschieden, so dass derselbe Typus in mehreren Stufen der Ausbildung in mehreren Typen erreicht wird." Daraus erklärt sich die Erscheinung, dass die vollkommensten Thiere jedes Typus, z. B. die höchsten Gliederthiere und Weichthiere, viel vollkommener organisirt, d. h. viel stärker differenzirt sind, als die unvollkommensten Thiere jedes anderen Typus, z. B. die niedersten Wirbelthiere und Strahlthiere.

Dieses "Baer´sche Gesetz" hat die grösste Bedeutung für die fortschreitende Erkenntniss der thierischen Organisation gewonnen, obgleich wir erst später durch Darwin in den Stand gesetzt wurden, seine wahre Bedeutung zu erkennen und zu würdigen. Wir wollen hier gleich die Bemerkung einfügen, dass das wahre Verständniss desselben nur durch die Descendenztheorie möglich ist, durch die Anerkennung der höchst wichtigen Rolle, welche die Vererbung und die Anpassung bei der organischen Formbildung spielen. Wie ich in meiner generellen Morphologie (Bd. II, S. 10) gezeigt habe, ist der "Typus der Entwickelung" die mechanische Folge der Vererbung; der "Grad der Ausbildung" aber ist die mechanische Folge der Anpassung. Vererbung und Anpassung sind die mechanischen Factoren der organischen Formbildung, welche erst durch Darwin´s Selectionstheorie in die Ontogenie eingeführt wurden, und durch welche wir erst zum Verständniss des Baer´schen Gesetzes gelangt sind.

Die epochemachenden Arbeiten Baer´s regten ein ausserordentliches Interesse für embryologische Untersuchungen in den weitesten Kreisen an, und wir sehen daher in der Folgezeit eine grosse Anzahl von Beobachtern auf das neu entdeckte Forschungsgebiet sich werfen und mit grossem Fleisse zahlreiche einzelne Entdeckungen in kurzer Zeit anhäufen. Die Mehrzahl dieser neueren Embryologen sind fleissige Specialarbeiter, welche durch Herbeischaffen neuen Materials Viel genützt, im Ganzen aber nur wenig die allgemeinen Grundzüge der Keimesgeschichte gefördert haben. Ich kann mich daher hier auf die Nennung weniger Namen geschränken. Besonders bedeutend sind die Untersuchugnen von Heinrich Rathke in Königsberg (gest. 1861), welcher sowohl die Entwickelungsgeschichte der Wirbellosen (Krebse, Insecten, Mollusken), als auch namentlich diejenige der Wirbelthiere (Fische, Schildkröten, Schlangen, Crocodile) bedeutend förderte. Ueber die Keimesgeschichte der Säugethiere haben wir die umfassendsten Aufschlüsse durch die sorgfältigen Untersuchungen von Wilhelm Bischoff in München erhalten. Seine Entwickelungsgeschichte des Kaninchens (1840), des Hundes (1842), des Meerschweinchens (1852) und des Rehes (1854) bilden hier bisher die beste Grundlage. Ferner sind die embryologischen Untersuchungen von Carl Vogt über die Amphibien (Geburtshelferkröte) und Fische (Lachse) hervorzuheben. Unter den zahlreichen Arbeiten über die Entwickelungsgeschichte der wirbellosen Thiere sind namentlich diejenigen des berühmten Berliner Zoologenn Johannes Müller über die Sternthiere (Echinodermen) ausgezeichnet; ferner diejenigen von Albert Kölliker in Würzburg: über die Dintenfische (Cephalopoden); diejenigen von Fritz Müller (Desterro): über die Crustaceen u. s. w. Die Zahl der Arbeiter auf diesem Gebiete ist neuerdings sehr gewachsen, ohne doch gerade viel Hervorragendes zu fördern. Den meisten neueren Arbeiten über Keimesgeschichte sieht man es an, dass ihre Verfasser zu wenig mit der vergleichenden Anatomie vertraut sind. Die bedeutendsten Keimesgeschichten aus der neuesten Zeit sind diejenigen von Kowalevsky, auf welche wir später ausführlich zurückkommen12).

Ein intensiverer Fortschritt in unserer allgemeinen Erkenntniss, als durch alle jene Einzeluntersuchungen herbeigeführt wurde, datirt vom Jahre 1838, in welchem die Zellentheorie begründet, und damit auch für die Entwickelungsgeschichte plötzlich ein neues Gebiet der Forschung eröffnet wurde. Nachdem zuerst der berühmte Botaniker M. Schleiden in Jena 1838 mittelst des Mikroskops die Zusammensetzung jedes Pflanzenkörpers aus zahllosen elementaren Formbestandtheilen, den sogenannten Zellen, nachgewiesen hatte, wendete schon im folgenden Jahre Theodor Schwann in Berlin diese Entdeckung unmittelbar auf den Thierkörper an und zeigte, dass auch im Leibe der verschiedensten Thiere bei mikroskopischer Untersuchung der Gewebe überall dieselben Zellen als die wahren, einfachen Bausteine des Organismus sich nachweisen lassen. Alle die mannigfaltigen Gewebe des Thierkörpers, namentlich die so sehr verschiedenen Gewebe der Nerven, Muskeln, Knochen, äussere Haut u. s. w. sind ursprünglich aus weiter nichts zusammengesetzt als aus Zellen; und dasselbe gilt von allen verschiedenen Geweben des Pflanzenkörpers. Diese Zellen, die wir nachher noch genauer betrachten werden, sind selbstständige lebendige Wesen, die Staatsbürger des Staates, den der ganze vielzellige Organismus darstellt. Diese höchst wichtige Erkenntniss musste natürlich auch der Entwickelungsgeschichte unmittelbar zu Gute kommen, indem sie viele neue Fragen anregte; so namentlich die Fragen: Welche Bedeutung haben denn die Zellen für die Keimblätter? Sind die Keimblätter bereits aus Zellen zusammengesetzt, und wie verhalten sie sich zu den Zellen der später erscheinenden Gewebe? Wie verhält sich das Ei zur Zellentheorie? Ist dies selbst eine Zelle, oder ist es aus solchen zusammengesetzt? Das waren die bedeutungsvollen Fragen, welche durch die Zellentheorie jetzt zunächst in die Embryologie eingeführt wurden.

Für die richtige Beantwortung dieser Fragen, die von verschiedenen Forschern in verschiedenem Sinne versucht wurde, sind vor allen die ausgezeichneten "Untersuchungen über die Entwicklung der Wirbelthiere" von Robert Remak in Berlin (1851) entscheidend geworden. Dieser talentvolle Naturforscher verstand es, die grossen Schwierigkeiten, welche die Schleiden-Schwann´sche Zellentheorie in ihrer ersten Fassung der Embryologie in den Weg gelegt hatte, durch eine angemessene Reform derselben zu beseitigen. Allerdings hatte schon der Berliner Anatom Carl Boguslaus Reichert einen Versuch gemacht, die Entstehung der Gewebe zu erklären. Allein dieser Versuch musste gründlich mißlingen, da es diesem ausserordentlich unklaren und wüsten Kopfe sowohl an jedem richtigen Verständniss der Entwickelungsgeschichte und der Zellentheorie im Allgemeinen, wie an gesunden Anschauungen vom Bau und der Entwickelung der Gewebe im Besonderen fehlte. Wie ungenau Reichert´s Beobachtungen und wie falsch die daraus gezogenen Schlüsse waren, das ergiebt sich aus jeder genaueren Prüfung seiner angeblichen Entdeckungen. Beispielsweise sie hier nur angeführt, dass derselbe das ganze äussere Keimblatt, aus welchem die wichtigsten Körpertheile (Gehirn, Rückenmark, Oberhaut u. s. w.) entstehen, für eine vergängliche "Umhüllungshaut" des Embryo erklärte, die gar nicht an der Körperbildung selbst sich betheilige. Die Anlagen der einzelnen Organe sollten grossentheils nciht aus den ursprünglichen Keimblättern, sondern unabhängig davon einzeln aus dem Eidotter entstehen und erst nachträglich zu jenen hinzutreten. Reichert´s verkehrte embryologische Arbeiten wussten sich nur dadruch ein vorübergehendes Ansehen zu verschaffen, dass sie mit ungewöhnlicher Anmaassung auftraten, und die Baer´sche Keimblätter-Theorie als Irrlehre nachzuweisen behaupteten; und zwar in einer so unklaren und verworrenen Darstellung, dass eigentlich Niemand sie recht verstehen konnte. Gerade deshalb aber fanden sie die Bewunderung manches Lesers, der hinter diesen dunkeln Orakeln und Mysterien irgend einen tiefen Weisheitskern vermutete.

In die arge Verwirrung, welche Reichert angerichtet hatte, brachte erst Remak volles Licht, indem der in der einfachsten Weise die Entwickelung der Gewebe aufklärte. Nach seiner Auffassung ist das Ei der Thiere stets eine einfache Zelle; die Keimblätter, welche sich aus dem Ei entwickeln, sind nur aus Zellen zusammengesetzt; und diese Zellen, welche allein die Keimblätter bilden, entstehen ganz einfach durch fortgesetzte, wiederholte Theilung aus der ersten ursprünglichen einfachen Eizelle. Dieselbe zerfällt zunächst in 2, dann in 4 Zellen; aus diesen 4 Zellen entstehen 8, dann 16, 32 u. s. w. Es entsteht also bei der individuellen Entwickelung jedes Thieres, ebenso wie jeder Pflanze, zunächst immer aus der einfachen Eizelle durch wiederholte Theilung derselben ein Haufen von Zellen. Die Zellen dieses Haufens, welche anfänglich gleichartig sind, breiten sich dann flächenartig aus und setzen Blätter zusammen; und jedes dieser Blätter ist ursprünglich nur aus einerlei Zellenart zusammengesetzt. Die Zellen der verschiedenen Blätter bilden sich verschieden aus, differenziren sich, und endlich erfolgt innerhalb der Blätter die weitere Sonderung (Differenzirung) oder Arbeitstheilung der Zellen, aus welcher alle die verschiedenen Gewebe des Körpers hervorgehen.

Das sind die höchst einfachen Grundzüge der Histogenie oder der Lehre von der Entwickelung der Gewebe, welche zuerst von Remak in dieser umfassenden Weise durchgeführt wurde. Indem nun Remak den Antheil näher feststellte, welchen die verschiedenen Keimblätter an der Bildung der verschiedenen Gewebe und Organ-Systeme besitzen, und die Theorie der Epigenesis auch auf die Zellen und die aus ihnen zusammengesetztene Gewebe anwendete, erhob er die Keimblätter-Theorie, wenigstens innerhalb des Wirbelthierstammes, auf diejenige Stufe der Vollendung, die wir nachher im Einzelnen kennen lernen werden. Aus den beiden Keimblättern, welche die erste einfache blattförmige Anlage des Wirbelthier-Körpers oder die sogenannte "Keimscheibe" zusammensetzen, entstehen nach Remak zunächst dadruch drei Blätter, dass sich das untere Blatt in zwei Lamellen spaltet; diese drei Blätter haben ganz bestimmte Beziehungen zu den verschiedenen Geweben. Es entwickeln sich nämlich ersten aus dem äusseren oder obern Blatt lediglich die Zellen, welche die äussere Oberhaut (Epidermis) unsern Körpers überzieht; ausserdem entstehen aber merkwürder Weise aus demselben oberen Blatte noch die Zellen, welche das Central-Nervensystem, Gehirn und Rückenmark zusammensetzen. Es entstehen zweitens aus dem inneren oder unteren Keimblatt bloss die Zellen, welche das Darm-Epithelium bilden, d. h. die ganze innere Auskleidung vom Darmcanal und von Allem, was daran hängt (Leber, Lunge, Speicheldrüsen u. s. w.); also die Gewebe, welche die Nahrung des thierischen Körpers aufnehmen und die Verarbeitung derselben besorgen. Endlich drittens entwickelns sich aus dem dazwischen liegenden mittleren Blatte alle übrigen Gewebe des Wirbelthierkörpers: Fleisch und Blut, Knochen und Bindegewebe u. s. w. Remak wies dann ferner nach, dass dieses mittlere Blatt, welches er motorisch-germinatives Blatt nennt, sich secundär wieder in zwei Blätter spaltet, so dann wir dann zusammen dieselben vier Blätter haben, die schon Baer angenommen hatte. Die äussere Spaltungs-Lamelle des mittleren Blattes nennt er Hauptplatte; sie bildet die äussere Leibeswand (Lederhaut, Muskeln, Knochen u. s. w.). Die innere Spaltungs-Lamelle desselben nennt er Darmfaserplatte; sie bildet die äussere Umhüllung des Darmcanals mit dem Herzen, den Blutgefässen und Allem was dazu gehört.

Auf der festen Grundlage, welche Remak so für die Entwickelungsgeschichte der Gewebe, die sogenannte Histogenie, lieferte, sind in neuester Zeit unsere Kenntnisse im Einzelnen vielfach weiter ausgebildet worden. Allerdings ist auch mehrfach der Versuch gemacht worden, Remak´s Lehren theilweise zu beschränken oder auch ganz umzugestalten. Insbesondere ist der Berliner Anatom Reichert und der Leipziger Anatom Wilhelm His bemüht gewesen, in umfangreichen Arbeiten eine neue Anschauung von der Entwickelung des Wirbelthier-Körpers zu begründen, wonach die Grundlage des letzteren nicht ausschliesslich durch die beiden primären Keimblätter gebildet wird. Indessen sind diese Arbeiten, welche in der Literatur der Entwickelungsgeschichte die tiefste Stufe einnehmen, so sehr ohne die unentbehrliche Kenntniss der vergleichenden Anatomie, ohen tieferes Verständniss der Ontogenesis und ohne jede Rücksicht auf die Phylogenesis ausgeführt, dass sie nur einen ganz vorübergehenden Erfolg haben konnten. Nur durch den gänzlichen Mangel an Kritik und an Verständniss der eigentlichen Aufgaben der Entwickelungsgeschichte lässt es sich erklären, dass die wunderlichen Einfälle von Reichert und His eine Zeit lang von Vielen als grosse Fortschritte angestaunt werden konnten.

Alle guten neueren Untersuchungen über die Ontogenese der Thiere haben nur zu einer Befestigung und weiteren Ausbildung der Keimblätter-Theorie im Sinne von Baer und Remak geführt. Als der wichtigste Fortschritt in dieser Beziehung ist hervorzuheben, dass neuerdings dieselben beiden primären Keimblätter, aus denen sich der Leib aller Wirbelthiere (mit Inbegriff des Menschen) aufbaut, auch bei allen wirbellosen Thieren (mit einziger Ausnahme der niedersten Gruppe, der Urthiere oder Protozoen) nachgewiesen worden sind. Schon im Jahre 1849 hatte der ausgezeichnete englische Naturforscher Huxley dieselben bei den Pflanzenthieren (Medusen) nachgewiesen. Er hob hervor, dass die beiden Zellschichten, aus welchen sich der Körper dieser Pflanzenthiere entwickelt, sowohl in morphologischer als in physiologischer Beziehung ganz den beiden ursprünglichen Keimblättern der Wirbelthiere entsprechen. Das äussere Keimblatt, aus welchem sich die äussere Haut und das Fleisch entwickelt, nannte der Ectoderm, das innere Keimblatt, welches die Organe der Ernährung und Fortpflanzung bildet, Entoderm. In den letzten acht Jahren sind dieselben beiden Keimblätter aber in noch viel weiterer Verbreitung unter den wirbellosen Thieren nachgewiesen worden. Namentlich hat sie der unermügliche russische Zoolog Kowalevsky bei den verschiedensten Abtheilungen der Wirbellosen wiedergefunden, bei den Würmern, Sternthieren, Gliederthieren u. s. w.

Ich selbst habe in meiner 1872 erschienenen Monographie der Kalkschwämme den Nachweis geführt, dass dieselben beiden primären Keimblätter auch dem Körper der Schwämme oder Spongien zu Grunde liegen, und dass dieselben durch alle verschiedenen Thierklassen hindurch, von den Schwämmen bis zum Menschen hinauf, als gleichwertig oder homolog anzusehen sind. Diese Homologie der beiden primären Keimblätter, die von ausserordentlicher Bedeutung ist, erstreckt sich auf das ganze Thierreich, mit einziger Aussnahme der niedersten Hauptabtheilung, der Urthiere oder Protozoen. Diese niedrig organisirten Thiere bringen es überhaupt noch nicht zur Bildung von wahren Geweben. Vielmehr besteht der ganze Körper der Urthiere entweder bloss aus einer einzigen Zelle (wie bei den Amoeben und Infusorien), oder aus einem losen Aggregate von wenig differenzirten Zellen, oder er erreicht noch nicht einmal den Formwerth einer Zelle (wie bei den Moneren). Bei allen übrigen Thieren aber entstehen aus der Eizelle zunächst immer zwei primäre Keimblätter, das äussere, animale Keimblatt, Ectoderm oder Exoderm, und das innere, vegetative Keimblatt, das Entoderm; aus diesen erst entstehen die verschiedenen Gewebe und Organe. Das gilt ebenso von den Schwämmen und den übrigen Pflanzenthieren, wie von den Würmern; es gilt ebenso von den Weichthieren, Sternthieren und Gliederthieren, wie von den Wirbelthieren. Alle diese Thiere kann man unter der Bezeichnung Darmthiere oder Metazoen zusammenfassen, im Gegensatze zu den stets darmlosen Urthieren oder Protozoen.

Bei den niedersten Darmthieren besteht der Körper zeitlebens aus diesen zwei primären Keimblättern. Bei allen höheren Darumthieren aber zerfällt jedes derselben durch Spaltung abermals in zwei Blätter, und nun besteht der Leib aus vier secundären Keimblättern. Die allgemeine Homologie dieser letzteren bei allen verschiedenen Darmthieren und ihre Bedeutung für das natürliche System des Thierreiches habe ich 1873 in meiner Gastraea-Theorie nachgewiesen13).

Wenn nun auch durch die angeführten Fortschritte in der Ontogenie der Thiere die wichtigsten Erscheinungen bei der individuellen Entwicklung des menschlichen und des Thierkörpers in thatsächlicher Beziehung hinreichend festgestellt wurden, so blieb doch immer für die Ontogenie die grösste Aufgabe noch übrig, nämlich die Erkenntniss der Ursachen, welche die organische Entwickelung und Formenbildung bewirken. Auf die Erkenntniss dieser eigentlichen mechanischen Ursachen der individuellen Entwickelung wurden wir erst im Jahre 1859 druch das Erscheinen von Darwin´s Werk hingeführt, in welchem zum ersten Male die Thatsachen der Vererbung und Anpassung wissenschaftlich erörtert und in ihrer Beziehung zur Ontogenie richtig gedeutet wurden. Nur durch die Descendenztheorie sind wir im Stande, mit Hülfe der Vererbungs- und Anpassungsgesetze die Erscheinungen der individuellen Entwickelung zu begreifen und durch wirkende Ursachen zu erklären. Hierin liegt die Bedeutung der Darwin´schen Theorie für die Entwickelungsgeschichte des Menschen und die unmittelbare Verknüpfung des ersten Theiles unserer Wissenschaft, der Keimesgeschichte oder Ontogenie, mit dem zweiten Theile, der Stammesgeschichte oder Phylogenie.

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Erstellt von Sebastian Högen, Juli 2001.