"Ernst und Agnes Haeckel - Ein Briefwechsel"

204. Brief

Salzburg, 3. September 1896.




Liebstes Röschen! Meinen Brief aus Innsbruck vom Sonntag wirst Du erhalten haben. Ich widmete den Reste dieses Tages dem Besuche eines Tiroler Bauerntheaters, wo die naive "Kurzbaur-Rosl", ein echtes Tiroler Volksstück, in ihrer Art ausgezeichnet gegeben wurde. Die Mischung von Sentimentalem, Naivem und Drastischem würde Dich sehr amüsiert haben. Das dankbare Publikum (überfüllt!) klatschte, lachte, weinte und überschüttete die beiden Hauptpersonen nicht nur mit Blumen, sondern auch mit Pfefferkuchen, Schokolade und Bonbonpaketerln, Würsteln (!!) etc. - Von 6-7 Uhr bescuhte ich noch eine "sogenannte" internationale Ausstellung und dann eine Restauration, in der Zillertal-Sänger ihre bekannten Lieder ab jodelten und den Schuhplattler tanzten (Einmal istīs genug!). Montag schönes sonniges Wetter. Früh fuhr ich mit der neuen Lokalbahn nach Mühlau und besuchte die malerische Klamm und das neue Elektrizitätswerk, sowie den Aussichtspunkt "Planitz-Eck". Nachmittags wanderte ich aufs Geradewohl nach dem 2 Stunden entfernten Dorfe Thaun und entdeckte dort zu meiner Überraschung eine höchst romantische Szenerie: Auf einem bewaldeten Calvarienberge ein "heiliges Grab" in einer Felsennische, ganz von Lianen (Clematis und wildem Wein, rot!) umwuchert, darüber eine alte Burgruine. Während ein heftiges Gewitter losbrach, machte ich, in meiner Leidens-Station dedeckt sitzend, eine Skizze (ein hübsches Aquarell). Um 8 wurde es stockdunkel, so daß ich mich verlief und erst um 9 1/2 auf der Bahnstation, um 10 in Innsbruck ankam. Dienstag, 1. September, früh 8 Uhr, von Innsbruch nach Jenbach. Im Coupé (III. Kl. natürlich!) machte ich die Bekanntschaft von Rechtsanwalt Müller und Familie aus Gotha, nette Leute. Sein Sohn hatte vor 10 Jahren mehrere Semester bei mir gearbeitet. In Jenbach holte ich mir von der Post Briefe und Korrekturen (Deinen Brief hatte ich schon in Innsbruck erhalten). Nachmittags ging ich in 1 Stunde nach Stoß am Eingang des Zillertals und nahm eine Skizze von der malerischen Landschaft (mit Ruine Krapfberg). Ich gedachte dabei lebhaft unserer abenteuerlichen Touren im Zillertal (Tristenspitze!!) vor 29 Jahren. Diesen Sommer haben sie hier, wie fast überall in Tirol und der Schweiz, kaum 3-4 schöne Tage gehabt . . . Da ich hörte, daß in Salzburg das Wetter besser sei, entschloß ich mich, direkt von Jenbach hierher zu fahren. Ich nahm Quartier in unserem alten, hübsch gelegenen Gasthaus "Zum Stein" an der Brücke mit herrlichem Blick auf Mönchsberg und Festung. Heute ist schönes sonniges Wetter, ich denke 2-3 Tage hier zu bleiben. Dann letzte Station dieser Reise: Adresse Professor Gabriel Max in Ambach am Starnberger See. Dort werde ich wohl (seiner erneuten Einladung folgend) vom 6.-10. September bleiben . . .





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erstellt von Christoph Sommer am 6.10.1999