"Ernst und Agnes Haeckel - Ein Briefwechsel"

174. Brief

Jena, 3. Juni 1888.




Geliebstes Röschen! Gestrengste aller edlen, männerbeherrschenden Frauen! Gebieterin der Medusen-Villa! Deine heute uns überraschende Karte hat uns sowohl durch ungewöhnliche Länge ihres interessanten Inhalts als durch dessen gedrungene Mannigfaltigkeit so tief gerührt, daß die zartfühlende Emma in einen Tränenstrom ausbrach, Tante Clara kaum von der gedämpften Schöpskeule Mariens essen konnte, und ich mich - trotz der singhalesischen Temperatur, 24 Gr. im Schatten! - sofort hinsetzte, um meinen tiefgefühlten Dank auszudrücken.

Trotzdem mit Dir, als der Seele des Hauses, alles eigentliche höhere Leben in der Medusen-Villa fehlt, und durch die gleichzeitige Abwesenheit der musikalischen Lärm-Kanone und des heiteren Perpetuum mobile, das wir als unsere älteste Tochter zu erziehen haben, die Berggasse ungewöhnlich still ist, befinden wir uns doch -"den Umständen nach"- sehr wohl. Unser lieber Garten ist trotz fortdauernden Regenmangels herrlich frisch, was wohl teils den täglichen reichen Tränengüssen der mama-sehnsüchtigen kleien Wehmutistin Emma, teils meinem Frühlings-Schnupfen zu danken ist. Gestern war ein herrlicher Tag, kühl und sonnig zugleich. Emma machte mit Schülers einen sechsstündigen "Maigang" auf den Forststern und kam sehr befriedigt zurück. Ich machte mit den Institutskollegen . . . nachmittags eine herrliche sechsstündige Wanderung (Luftschiff, Lobedaburg, Burgau usw.) . . . Sollte unsere liebe Lisbeth trotz ihrer reichen Welterfahrung und Weisheit sich bisweilen den Mund verbrennen, so mache kalte Umschläge! . . . Übrigens wünsche ich Euch von Herzen viel Vergnügen, schönes Wetter, gutes Theater. Mit besten Grüßen und Küssen Dein treuer Ernst.





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erstellt von Christoph Sommer am 6.10.1999