"Ernst und Agnes Haeckel - Ein Briefwechsel"

111. Brief

Jena, Mittwoch, 7. Juni 1876.




Liebste Agnes! Gestern abend um 11 Uhr hierher zurückgekehrt, fand ich Deinen sehnlichst erwarteten Brief vor. Zu meinem großen Bedauern erfuhr ich daraus, daß Deine Reise nach Nauheim recht unangenehm und unbequem war. Es ist aber auch eine Schande, wie unpraktisch jetzt die Eisenbahn-Route eingerichtet ist . . . Nun ich hoffe sehr, liebstes Herz, daß Du die Aufregung dieser unangenehmen Fahrt glücklich überstanden hast. Der Gebrauch des Bades und die sorgliche Pflege Deiner Schwester werden gewiß alle bösen Folgen verhütet haben.

Ich habe inzwischen die Pfingsttage ganz anders verlebt, als ich gedacht und beabsichtigt hatte. Ich hatte mir vorgenommen, recht ordentlich an der III. Auflage der Anthropogenie zu arbeiten. Da bekomme ich am Sonnabend unverhofft von Weimar (durch die Gnade des Großherzogs) zwei Billets zum Faust zugeschickt (I. und II. Teil) sowie 3 Tage Urlaub. Also schleunigst zusammengepackt, von Seebeck verabschiedet, Luden das Protektorat übergeben und um 2 1/2 Uhr nach Weimar gefahren. Vom Bahnhof direkt ins Theater! Um 5 1/2 Uhr begann die Vorstellung und dauerte sechs Stunden! 1. Teil! Pfingstsonntag vormittag machte ich Besuche bei den Ministern (Stichling, Thon, v. Groß etc.), bei Dr. Marshall und dem alten Preller. Nachmittags (wie auch ganz früh) spazierte ich im Park, in Goethe- Reminiszenzen schwelgend. Um 5 1/2 Uhr wieder ins Theater (bis nach 11 dauernd!). Der 2. Teil war mir höchst interessant und ist mir durch die Aufführung viel verständlicher geworden. Die Bearbeitung und Inszenierung war sehr geschickt, die mittelalterlichen Kostüme und Dekorationen (meist Treppen auf beiden Seiten) waren ausgezeichnet, die Musuk von Lassen sehr schön und passend, das Ganze höchst eigentümlich spannend. Ich bedauerte nichts mehr, liebste Frau, als Daß Du nicht auch den großen Genuß, den mir die beiden Teile der Faust- Aufführung bereiteten, teilen konntest. Freilich wären Dir wohl die beiden sechsstündigen Sitzungen (bei der kolossalen Hitze des überfüllten Theaters) etwas unbequem und anstrengend gewesen. Aber der Kunstgenuß war doch herrlich und für einen solchen Verehrer des Faust, wie ich bin, ganz einzig. Ich werde diese Vorstellungen nicht vergessen! Was die Darstellung betrifft, so war sie im ganzen ausgezeichnet, vielleicht so gut, wie Faust überhaupt noch nie aufgeführt worden ist, und das Ensemble-Spiel war ganz vortrefflich. Vor allem unübertrefflich Mephisto (Otte Devrient, leider sein letztes Debut, er geht nach Mannheim); Gretchen (Frl. Gündel, reizend); auch Wagner (Cabus), der Kaiser (Dalmonico) sehr gut, Helena entzückend (Frau Savits), sehr üppig und verführerisch, der Schüler und Baccalaureus (Herr Savits) vortrefflich, Valentin (Dalmonico) und Frau Martha Schwertlein (Fr. Lehfeld) sehr gut. Dagegen leider Faust (Herr Brock!) sehr schwach, matt, ohne Verständnis der Rolle. Mein Liebling (Frl. Lüdt) war auch schwach und hatte nur eine sehr unbedeutende Rolle (Chorführerin der Trojanerinnen), Frl. Semler dagegen war (als Euphorion) entzückend, ganz allerliebst!

Da ich Montag und Dienstag noch Urlaub hatte und das Pfingstwetter ganz wundervoll war, so schloß ich noch eine kleine Exkursion in den Wald an und fuhr Montag vormittag nach Waltershausen. Um Mittag (in toller Hitze!) kletterte ich in 3 Stunden auf den Inselsberg, in Gesellschaft des Bankdirektors Landsky aus Gotha, den ich unterwegs getroffen hatte. Ein sehr angenehmer, vielgereister und belesener Mann und - natürlich - Verehrer der Natürlichen Schöpfungsgeschichte. Abends waren wir zusammen in Tabarz, er fuhr nach Gotha zurück. Ich logierte im Schießhause, konnte aber wegen der Tanzmusik etc. nicht schlafen. Bis 2 Uhr Feuerwerk, um 4 Uhr früh Vogelschießen!! Dienstag (gestern) ging ich nach Reinhardsbrunn und schwelgte in der freundlichen Erinnerung unseres letzten Besuchs, war auch in der romantischen Mühle! Der alte Müller hat sich wieder eine junge Frau genommen!! Mittag aß ich bei Landsky in Gotha und verplauderte mit ihm und seiner Frau (geb. v. Vaerst) den Nachmittag sehr angenehm. Um 6 Uhr fuhr ich aus Gotha und war um 8 in Apolda. Hier traf ich beide Hertwigs und ging mit ihnen zu Fuß (bei schönem Vollmond) nach Jena (11 Uhr). Walter und Emma sind sehr munter. Walter hat heute mit mir das erste Saalbad genommen. Herzlichste Grüße . . .





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erstellt von Christoph Sommer am 6.10.1999